Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2006
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Adaptive Funktionen der vorsprachlichen Kommunikations- und Beziehungserfahrungen
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2006
Mechthild Papoušek
Der Beitrag fasst die wachsenden Kenntnisse über die vorsprachliche Kommunikation, ihre adaptiven Funktionen und ihre häufigsten Belastungen und Krisen zusammen. Einen Schlüssel im Verständnis der vielfältigen Funktionen bieten die psychobiologisch verankerten intuitiven elterlichen Kommunikationsfähigkeiten, die komplementär zu den sich entwickelnden Regulations-, Kommunikations- und Integrationsfähigkeiten des Säuglings angelegt sind. Die wechselseitige Abstimmung kann jedoch schon früh leiden, z. B. unter dem Einfluss von postnataler Trennung, multiplen Entwicklungsstörungen, frühkindlichen Regulationsstörungen sowie erschöpften Ressourcen, kumulativen Belastungen oder postpartaler Depression auf Seiten der Eltern. Aus dem Konzept der intuitiven elterlichen Kompetenzen lassen sich hilfreiche Anregungen ableiten: für eine Frühförderung in fachkompetenter, aber zugleich intuitiver Kommunikation mit dem Kind und einfühlsam- wertschätzender Arbeit mit den Eltern.
1_025_2006_001_0014
In der Forschungs- und Beratungsstelle Frühentwicklung und Kommunikation im Kinderzentrum München wurde 1991 die Münchner Sprechstunde für Schreibabys eröffnet - eine Herausforderung, die seinerzeit aktuellen Konzepte und Kenntnisse der eigenen und der internationalen Grundlagenforschung über vorsprachliche Kommunikation, Lernen und Denkfähigkeiten des Säuglings und elterliche Kompetenzen direkt in klinisch relevante Diagnostik und Therapie umzusetzen, eine Herausforderung, die bis heute nichts von ihrer Faszination eingebüßt hat. Inzwischen hat das interdisziplinäre Team mehr als 3000 Säuglinge und Kleinkinder wegen exzessivem Schreien, Schlaf-, Fütter- und Gedeihstörungen, exzessivem Klammern, exzessivem Trotzverhalten, Hyperaktivität oder Aufmerksamkeitsproblemen im Spiel untersucht und behandelt. Vor dem Hintergrund der stetig gewachsenen klinischen Erfahrungen, systematischen Untersuchungen und wissenschaftlichen Ergebnissen der Sprechstundenarbeit sucht der vorliegende Beitrag das Wissen über die adaptiven Funktionen der vorsprachlichen Kommunikation und ihre häufigsten Belastungen und Krisen zusammenzufassen. Adaptive Funktionen der vorsprachlichen Kommunikations- und Beziehungserfahrungen MECHTHILD PAPOUSˇ EK Zusammenfassung: Der Beitrag fasst die wachsenden Kenntnisse über die vorsprachliche Kommunikation, ihre adaptiven Funktionen und ihre häufigsten Belastungen und Krisen zusammen. Einen Schlüssel im Verständnis der vielfältigen Funktionen bieten die psychobiologisch verankerten intuitiven elterlichen Kommunikationsfähigkeiten, die komplementär zu den sich entwickelnden Regulations-, Kommunikations- und Integrationsfähigkeiten des Säuglings angelegt sind. Die wechselseitige Abstimmung kann jedoch schon früh leiden, z. B. unter dem Einfluss von postnataler Trennung, multiplen Entwicklungsstörungen, frühkindlichen Regulationsstörungen sowie erschöpften Ressourcen, kumulativen Belastungen oder postpartaler Depression auf Seiten der Eltern. Aus dem Konzept der intuitiven elterlichen Kompetenzen lassen sich hilfreiche Anregungen ableiten: für eine Frühförderung in fachkompetenter, aber zugleich intuitiver Kommunikation mit dem Kind und einfühlsam-wertschätzender Arbeit mit den Eltern. Schlüsselwörter: Vorsprachliche Kommunikation, intuitive elterliche Kompetenzen, Frühförderung im Dialog, Eltern-Säuglings-Interaktion, Kommunikationsstörungen Adaptive Functions of Preverbal Communication and Early Interaction Summary: The article summarizes current understanding of preverbal communication, its psychobiological predispositions, adaptive functions and some of its most frequent risks and failures. In order to understand the functional roles of preverbal communication, the author draws attention to the parents’ intuitive communicative competencies which are seemingly preadapted to complement the infant’s growing regulatory, communicative and integrative capacities. However, the reciprocal attunement may suffer due to early postnatal separation, preand perinatal risks, multiple developmental disorders, regulatory disorders as well as exhaustion of parental resources, accumulated risks or postpartum depression. The author suggests that early intervention may be particularly efficient if carried out in the form of professionally profound but intuitive communication with the infant and with empathy and appreciation of the parents’ competence. Keywords: Preverbal communication, intuitive parenting, dialogic early intervention, parent-infant interaction, disorders of preverbal communication Frühförderung interdisziplinär, 25. Jg., S. 14 -25 (2006) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Psychobiologische Grundlagen der vorsprachlichen Kommunikation Die Prager Lernstudien am Institut für die Fürsorge von Mutter und Kind Hanus Papousˇek hat in sorgfältigen Experimenten und Verhaltensbeobachtungen einen empirisch fassbaren Zugang zur inneren Wahrnehmungs- und Erfahrungswelt des Neugeborenen erschlossen (Papousˇek, 1969). Die Lernstudien zeigten das früh angelegte Bedürfnis des Säuglings, sich mit der unbekannten Umwelt vertraut zu machen, nach Regeln und Zusammenhängen zwischen dem eigenen Verhalten und kontingenten Antworten von Seiten der Umwelt zu suchen, nach Selbstwirksamkeit und Voraussagbarem. Innere Prozesse des Wahrnehmens, Lernens und Denkens spiegeln sich im beobachtbaren mimischen, stimmlichen, motorischen und vegetativen Verhalten - als Ausdruck der beteiligten physiologischen und affektiven Regulationsprozesse, zugleich aber als kommunikative Signale an die Umwelt. Der Säugling braucht bestimmte Bedingungen, um seine Erfahrungen mit der Umwelt erfolgreich integrieren zu können: einfache, langsame, kontrastreiche Stimulation, häufig wiederholt, in kontingentem Zusammenhang mit seinem Verhalten; dazu einen aufnahmebereiten, ausgeglichenen Wachzustand, Erholungspausen und gelegentliche kleine unterstützende Hilfen. Die intuitiven elterlichen Kommunikationsfähigkeiten Dieses Wissen gab in den frühen siebziger Jahren den Anstoß, nun auch die natürlichen Lernsituationen des Säuglings im Zwiegespräch mit seinen Eltern unter die Lupe zu nehmen. Mit Hilfe film- und videogestützter Verhaltensbeobachtung und durch Mikroanalysen des Wechselspiels zwischen dem Baby und seinen Eltern ist es Schritt für Schritt gelungen, die Geheimnisse der vorsprachlichen Kommunikation und ihrer adaptiven Funktionen zu entschlüsseln, was der bewussten Wahrnehmung der Eltern gewöhnlich entgeht und lange auch der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit entgangen war: Verhaltensanpassungen der Eltern in Stimme, Sprechweise, Mimik und Körpersprache, die erstaunliche kommunikative und frühpädagogische Kompetenzen erkennen lassen (Papousˇek & Papousˇek, 1987). So verfügen die Eltern über ein genuines Know-how, ein intuitiv gesteuertes implizites Beziehungswissen, wie man den Säugling beruhigt und anregt, Anregungen angemessen dosiert, sich in Sprache, Mimik und Gestik verständlich und voraussagbar macht, und sich dabei von den Signalen der Aufnahmebereitschaft und Belastbarkeit des Kindes leiten lässt. So finden etwa im Alter von 3 Monaten die Zwiegespräche zwischen Eltern und Baby einen ersten Höhepunkt: Das Baby signalisiert durch seine Blickzuwendung zur Mutter Interesse und Interaktionsbereitschaft. Die Mutter lockt es zum Zwiegespräch mit melodisch modulierten Vokalen, den ersten Lautmerkmalen, die das Baby zu artikulieren lernt; sie gibt wiederholt und in langsamem Tempo stimmliche und mimische Modelle, pausiert, animiert zum Antworten und ahmt die kindlichen Artikulationsversuche und Laute nach. Während sich das Baby durch kurzes Wegschauen erholt, pausiert die Mutter und nimmt ihre Anregungen wieder auf, wenn erneut Blickzuwendung Aufnahmebereitschaft signalisiert. Sie bietet dem Baby damit einen Rahmen, in dem es seine noch unbeholfenen Dialog- und Nachahmungsfähigkeiten in unzähligen Wiederholungen erproben und einüben kann. Signale im Aussehen und Verhalten des Neugeborenen lösen auf Seiten der Betreuungsperson komplementär angelegte intuitive Verhaltensbereitschaften aus, die in Abstimmung auf die Bedürfnisse, Wahrnehmungs- und Integrationsfähigkeiten des Säuglings eine asymmetrische, aber bereits einzigartig FI 1/ 2006 Vorsprachliche Kommunikations- und Beziehungserfahrungen 15 differenzierte vorsprachliche Kommunikation mit multiplen adaptiven Funktionen in Gang setzen (Papousˇek & Papousˇek, 1987). Gelingt es den Eltern, sich von den Signalen ihres Babys leiten zu lassen, können sie aus den subtilen Signalen der kindlichen Körpersprache ablesen, welche Rahmenbedingungen das Baby braucht, um seine Erfahrungen im Interaktionskontext gut zu integrieren: (1) Verständlichkeit der Anregungen mit häufigen Wiederholungen in langsamem Tempo mit regelmäßigen Pausen; (2) Berücksichtigung des allgemeinen Verhaltenszustandes in Bezug auf Aufnahmebereitschaft, Erregungsniveau, Ermüdung oder Überlastung; (3) Abstimmung der Aufgaben/ Anregungen auf den kindlichen Entwicklungsstand, seine momentanen Interessen und Vorlieben und (4) Kontingenzerfahrungen, die dem Baby erlauben, durch eigenes Tun etwas Vertrautes und Voraussagbares zu bewirken. Die Steuerung der elterlichen Verhaltensbereitschaften erfolgt intuitiv und wird durch Blick- und Ausdrucksverhalten des Säuglings in Form subtiler, aber hoch wirksamer Auslöse- und Rückkoppelungssignale reguliert. Blickzuwendung oder Abwendung, entspannt wohl tönende oder angespannt unzufriedene Laute, Lächeln oder verdrießliche Mimik wirken als potente Auslöser, als bestärkendes oder hemmendes Feedback und Regulativ. Gelingt die gemeinsame Regulation, so entsteht eine Art „Engelskreis“ (Papousˇek, 2001): der Säugling erfährt eine individuell gut abgestimmte Entwicklungsförderung, er ist aufgrund seiner noch unzulänglichen Kompetenzen darauf angewiesen. Die Eltern erleben die Augenblicke der Begegnung als besonders beglückende Momente der Verbundenheit mit dem Baby, die die Anstrengungen, mögliche Durststrecken und Schwierigkeiten der täglichen Betreuung aufwiegen können. Die kindlichen Rückkoppelungssignale - Blickzuwendung, Lächeln, die unwiderstehlichen Tönchen, sein Anschmiegen, seine Tröstbarkeit - wirken als eine Quelle von Belohnungen: sie bestärken die Eltern in ihrem Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen in die eigenen genuinen Kompetenzen. Aus dem Zusammenspiel der kindlichen und elterlichen Prädispositionen in der vorsprachlichen Kommunikation entsteht ein dynamisches, aber in sich erstaunlich stabiles System, das die Entwicklung vorantreibt und fördert. Dies erweist sich als protektiver Faktor und Ressource, indem es unter günstigen Umständen Anpassungsprobleme auf Seiten des Säuglings oder der Eltern aufzufangen und zu kompensieren vermag. Adaptive Funktionen der vorsprachlichen Kommunikation Die Eltern-Kind-Interaktionen - beim Stillen, Füttern, Beruhigen und Schlafenlegen, beim Handling, Wickeln, Zwiegespräch und Spiel - kann man sich als eine Art alltägliche Arena vorstellen, in der sich Eltern und Baby mit ihren komplementären psychobiologischen Bedürfnissen und Verhaltensbereitschaften miteinander zu verständigen suchen und aufeinander abstimmen (Papousˇek, 2004). Die Kommunikation erfüllt dabei eine Reihe adaptiver Funktionen bei Nahrungsaufnahme und Schlaf-Wach-Organisation, in der affektiven Verhaltensregulation wie bei Aufmerksamkeitsprozessen, durch Aufbau einer gemeinsamen Erfahrungswelt und Sprache, selbst initiiertes Lernen im Spiel, und eine empfindliche Balance zwischen Bindungssicherheit und Exploration, Nähe und Distanz, Abhängigkeit und Autonomie. Diese alltäglichen Kommunikationserfahrungen bilden zugleich für das Baby und die Eltern die Grundlage von Bindung, Beziehung und Individuation. Viele adaptive Funktionen wurden in der interdisziplinären Frühentwicklungsforschung der letzten Jahrzehnte im Kontext der vorsprachlichen regulativen Austausch- und Kommunikationsprozesse zwischen dem Säugling und seinen primären Bezugspersonen genau analysiert (Tabelle 1). 16 Mechthild Papousˇek FI 1/ 2006 Physiologische Regulation Das Zusammenspiel kindlicher und elterlicher Kompetenzen in der vorsprachlichen Kommunikation ermöglicht zunächst, die frühen psychophysiologischen Entwicklungsaufgaben in Bezug auf Erregungsmodulation, basale Affektregulation, homöostatische Zustandsregulation, Schlaf-Wach-Organisation, Stillen und Füttern gemeinsam zu bewältigen (Papousˇek, 2004). Aus der vergleichenden Psychobiologie ist bekannt, dass FI 1/ 2006 Vorsprachliche Kommunikations- und Beziehungserfahrungen 17 Adaptive Funktionen der vorsprachlichen Kommunikation † Versteckte physiologische und neurobiologische Regulationsprozesse („Hidden regulators“) • Regulation basaler Anpassungs- und Entwicklungsaufgaben • Nahrungsaufnahme, Hunger-Sättigungszyklen • Homöostatische Zustandsregulation • Schlaf-Wach-Organisation † Bindungsaufbau • Vermittlung von Schutz, emotionaler Sicherheit in Belastungssituationen • Unterstützung der primären Affektregulation (bei Stress, Angst, Schmerz) • Erfahrungsgrundlage für den Aufbau selektiver Bindungen † Unterstützender Rahmen zur vorsprachlichen Erfahrungsintegration • Wahrnehmung, prozedurales Lernen, Konzeptbildung, Symbolisation • „Ko-Konstruktion“ von Aufmerksamkeitsfokus, gemeinsamem Verständigungscode, Bezugnehmen und Benennen † Anbahnung der Sprachentwicklung • Anpassungen der Sprechweise in Prosodik und Artikulation: Vereinfachung zu prototypischen Verhaltensmustern, vorsprachliche Botschaften in Sprechmelodik und Mimik, verlangsamtes Tempo und Pausen, Wiederholungen mit spielerischen Variationen • Einüben von Subroutinen des Spracherwerbs: Phonation und Artikulation, Kommunikation mit Lauten, Nachahmungsfähigkeiten, Spiel mit der Stimme, Abwechseln im Dialog • Verdeutlichen linguistischer Information mit Hilfe der Prosodik • Vertraute Routinen, Rituale und Spielchen • Spiel- und handlungsbegleitendes Sprechen † Unterstützung von Aufmerksamkeitsregulation, Selbstwirksamkeit, Erkundungs- und Kompetenzbedürfnis und selbst gesteuertem Lernen im gemeinsamen Spiel † Entwicklung von intersubjektiven Beziehungserfahrungen • von intersubjektiver emotionaler Bezogenheit • von intersubjektiver zu innersubjektiver emotionaler Regulation • von sozial-kognitiven Fähigkeiten, die mentalen Befindlichkeiten und Absichten des Gegenübers zu verstehen und für die eigene Verhaltensregulation zu nutzen • von Empathie, prosozialem Verhalten, Compliance, Verstehen und Verinnerlichung elterlicher Standards, Theory of mind † Entwicklung von Selbstkonzept und Autonomie • von Selbstwahrnehmung, Selbstkonzept • von Selbstwirksamkeit, Intentionalität, zielorientiertem Handeln • von Selbstsicherheit, Selbstwertgefühl Tabelle 1: Adaptive Funktionen der vorsprachlichen Kommunikation bei einfachen Säugetieren die beobachtbaren Interaktionen von Muttertier und Jungen von komplexen, wechselseitig abgestimmten physiologischen, hormonellen und neuronalen Reaktionen sowie von olfaktorischen, gustatorischen und taktilen Austauschprozessen begleitet werden. Hofer (1994) spricht von verborgenen Regulationsmechanismen („hidden regulators“), die die postnatale Anpassung des kindlichen Organismus an Ernährung, Ausscheidungsfunktionen und Temperatur und das Aufsuchen der schützenden und nährenden Nähe zur Mutter ebenso sicherstellen wie die ko-regulatorisch wirksamen mütterlichen Verhaltensbereitschaften des Beleckens, Wärmens, Ins-Nest-Holens und Säugens. Das überlebenswichtige systemische Zusammenspiel des kindlichen und mütterlichen Organismus wird durch angeborene Programme gewährleistet, die beim Muttertier und seinen Jungen komplementär angelegt sind und artspezifische Formen von Signalaustausch und basaler Kommunikation einschließen. Die ungleich differenzierteren artspezifischen Betreuungs- und Kommunikationsformen bei nicht menschlichen Primaten und ihren Jungen weisen eine bemerkenswerte Artenvielfalt auf: bei Schimpansen und Zwergschimpansen, die dem Menschen genetisch am nächsten stehen, finden sich über das Gewähren von Schutz und Körperkontakt hinaus bereits Ansätze von Blickkontakt und positivem affektivem Signalaustausch (Bard, 2002). Auch beim Menschen sind in den frühen postnatalen Begegnungen, so beim ersten Anlegen - ausgelöst durch Blickkontakt, Körperkontakt und Stillen - versteckte neurobiologische Regulationsprozesse im Spiel: hormonelle Regulatoren wie Oxytozin, Prolactin und Vasopressin, endogene Opiate und neuronale Transmitter scheinen die anfängliche wechselseitige Anpassung und Abstimmung sowohl durch Dämpfung der Stressreaktivität als auch durch endorphinabhängige Belohnung zu erleichtern (Ahnert, 2004). Bindungsaufbau In Belastungssituationen (Übermüdung und Überreiztheit, Unwohlsein, Schmerzen, Umgang mit Angst, Stress, kurzen Trennungen) gewährleistet das Zusammenspiel von kindlichem Bindungsverhalten (Schreien, Rufen, Nachfolgen, Klammern, Nähesuche) und Fürsorgeverhalten (intuitiven Regulationshilfen in Form von Körperkontakt und erregungsmodulierender rhythmischer, stimmlicher und taktiler Stimulation) Schutz, emotionale Sicherheit und Trost (Ahnert, 2004). Das Bindungsverhalten macht einen wichtigen Teil des frühkindlichen Kommunikationsverhaltens aus, die Kommunikation von Nähe-, Schutz- und Sicherheitsbedürfnissen. Die Bindung ist ein phylogenetisch altes System, das wir nicht nur mit allen Kulturen, sondern auch mit vielen Verwandten im Tierreich gemeinsam haben (Todt, 2004) und das primär dem Schutz vor Gefahren und übermäßiger Stressbelastung dient. Das durch das Bindungsverhalten ausgelöste angeborene Fürsorgeverhalten, d. h., der elterliche Umgang mit den Nähebedürfnissen, unterliegt beim Menschen auch gewissen kulturellen Einflüssen (Keller, 2004). Erfahrungsintegration Die vorsprachliche Kommunikation der Eltern mit dem Säugling ist darüber hinaus von Anfang an auf die beim Menschen einzigartige Entwicklung von Erfahrungsintegration, Symbolisationsfähigkeit, Spiel und Sprache ausgerichtet (Papousˇek & Papousˇek, 1977; 1987). Erstaunlich ist, dass die Natur auch für diese Bereiche der Kommunikation korrespondierende angeborene Programme auf kindlicher und elterlicher Seite bereithält, die in ihren Grundmustern wiederum bemerkenswerte transkulturelle Ähnlichkeiten aufweisen. Vom Neugeborenenalter an finden weitere überlebenswichtige Bedürfnisse wie Neugier, Erkundungs- und Wissensdrang („For- 18 Mechthild Papousˇek FI 1/ 2006 schergeist in Windeln“; Gopnik, Kuhl & Meltzoff, 2001) Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit und positiver emotionaler Bezogenheit in Zwiegesprächen mit den Eltern dank der intuitiven Kompetenzen artspezifische Nahrung und didaktische Unterstützung. Zwiegespräche unterstützen die Entwicklung der integrativen und kommunikativen Fähigkeiten sowie die Regulation von Aufmerksamkeit, positiven Affekten und sprachrelevanten Fähigkeiten. Ebenso wurzelt das Bedürfnis nach Exploration, selbst gesteuertem Lernen und Nachahmung in den intuitiven spielerischen Elementen und interaktiven Spielchen der frühen Kommunikation und im gemeinsamen Erschließen der Umwelt im Spiel. Intersubjektive emotionale Bezogenheit Die selektive emotionale Bezogenheit zwischen Säugling und Eltern erwächst auch aus Augenblicken der Begegnung im beiderseitigen Blickkontakt und Zwiegespräch (Papousˇek, 2005). Dies ermöglicht dem Säugling grundlegende Lernerfahrungen, in denen sich die Selbstwahrnehmung seiner Befindlichkeit auf kontingente und voraussagbare Weise mit dem gespiegelten emotionalen Ausdrucksverhalten und den einfühlsamen Bedeutungszuschreibungen seiner Eltern verknüpfen. Die wiederholten Erfahrungen wechselseitiger Nachahmung und Responsivität helfen dem Säugling, Erwartungen in Bezug auf die elterliche Responsivität aufzubauen und diese für seine Verhaltensregulation zu nutzen. Um die Mitte des zweiten Halbjahres erreicht die Kommunikation eine neue Phase der Selbstregulation und Erfahrungsintegration, in der auch Blickverhalten und Blickaustausch neue adaptive Funktionen und Bedeutungen gewinnen und zwar in enger Verbindung mit neu auftauchenden Kompetenzen der sozialen Kognition. Der Säugling ist jetzt in der Lage, dem Blick und der Zeigegeste der Eltern zu folgen. Ebenso nutzt er selbst das Zeigen und Anbieten von Gegenständen als deklarative und imperative Gesten, um die visuelle Aufmerksamkeit der Eltern auf einen Gegenstand seines Interesses zu lenken. Im gemeinsamen Spiel richtet sich die visuelle Aufmerksamkeit des Kindes bevorzugt darauf, worauf die Eltern ihre Aufmerksamkeit richten (joint attention; Tomasello, 1999), mit welchen Emotionen sie auf unbekannte oder unerwartete Ereignisse reagieren (social referencing; Campos & Stenbert, 1981) und wie sie mit Gegenständen und Ereignissen in der Umwelt umgehen (Beobachtungslernen; Uzˇgiris, 1999). Die Fähigkeit, Aufmerksamkeit triangulär auf eigene Handlungsabsicht, Gegenstand und Spielpartner zu verteilen, bildet ein neues Szenario, in dem das Kind Kooperation im Spiel, Nachahmung von Spielhandlungen, Bezugnehmen auf den gleichen Gegenstand und Benennen von Gegenstand oder Spielhandlungen erproben und einüben kann. Der Blick des Kindes signalisiert den Fokus seines Interesses; nur gelegentlich wandert er gezielt zum elterlichen Gesicht, um sich Rückversicherung, emotionale Bewertung, Kommentare, Anregung zum Nachahmen oder Bestätigung einzuholen, Hilfe einzufordern oder die Freude am Erfolg zu teilen. Im gleichen Kontext taucht gegen Ende des ersten Lebensjahres die Fähigkeit des Kindes auf, das Verhalten seiner Eltern als absichtsvoll und zielorientiert wahrzunehmen und analog dazu der Zielorientierung und Wirkmächtigkeit seiner eigenen Handlungen, seiner eigenen Absichten, Emotionen und Bedürfnisse gewahr zu werden (Tomasello, 1999). Das Auftauchen dieser neuen, für die menschliche Sozialisation spezifischen Fähigkeiten äußert sich u. a. in der intentionalen Kommunikation (Bates, O’Connell & Shore, 1987), der Fähigkeit, eigene Wünsche, Absichten oder Bedürfnisse mit Hilfe von kommunikativen Gesten gezielt an die Bezugsperson zu richten und diese zu veranlassen, bei der Erfüllung der kindlichen Absicht zu helfen. FI 1/ 2006 Vorsprachliche Kommunikations- und Beziehungserfahrungen 19 Komplementär dazu erscheint im Repertoire der intuitiven elterlichen Kompetenzen eine verstärkte Bereitschaft, im kindlichen Verhalten Signale seiner Interessen, Absichten und Emotionen zu erkennen, dem Aufmerksamkeitsfokus des Kindes zu folgen und sich von dessen Interessen und Absichten leiten zu lassen. Spezifische didaktische Anpassungen in der elterlichen Sprechweise erleichtern das Sprachverständnis, lenken die auditive Aufmerksamkeit auf relevante Lautkontraste und bedeutungstragende Wörter und nehmen als spielbegleitende Sprache Bezug auf den gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus (Papousˇek, 1994). In ihrem affektiven Ausdrucksverhalten spiegeln die Eltern zugleich die Dynamik des kindlichen Spiels mit Anstrengung, Bewegungslust, Überraschung, Enttäuschung oder Erleichterung. Sie lenken damit die kindliche Aufmerksamkeit auf Gefühlsqualitäten, die seine Spielhandlung begleiten, unterstützen damit seine Selbstwahrnehmung und Affektregulation. So entsteht im Spiel von Eltern und Kind eine Erfahrungswelt, in der sie sich zunehmend mit gemeinsamen Symbolen und ersten Worten zu verständigen lernen (Papousˇek, 1994). Entwicklung von Selbstkonzept, Autonomie und prosozialem Verhalten Die genannten Kommunikationserfahrungen bereiten den Boden für die weitere Entwicklung der Kommunikation im zweiten Lebensjahr, Entwicklungen in Richtung auf Selbstkonzept, Selbsterkennen im Spiegel, Selbstwertgefühl und Autonomie und - in engem Zusammenhang damit - in Richtung auf prosoziales Verhalten, Empathie, Bereitschaft zu Kooperation und Compliance und auf ein Verstehen und Verinnerlichen von Regeln, Standards und Bewertungen der Eltern (Papousˇek & von Hofacker, 2004). Die sprachliche Verständigung gewinnt zunehmend an Gewicht. Aufgrund ihrer vielfältigen, jeweils alterstypischen adaptiven Funktionen nimmt die vorsprachliche Kommunikation in allen Domänen der frühkindlichen Entwicklung eine zentrale Rolle ein. Sie verdient deshalb im Bereich von Vorsorgeuntersuchungen, Frühförderung und Eltern-Säuglings-Beratung und -Therapie besondere Aufmerksamkeit. Belastungen und Krisen der vorsprachlichen Kommunikation Störungen und Fehlanpassungen der frühen Kommunikation entstehen häufig, wenn das individuelle Kind in seinen Auslöse- und Rückkoppelungssignalen schwer verständlich ist und damit erhöhte Anforderungen an die intuitiven elterlichen Kompetenzen stellt. In Frage kommen alle Faktoren, die die Wahrnehmungsfähigkeiten, Motorik, allgemeine Verhaltensregulation und Lernfähigkeiten des Kindes beeinträchtigen: vorübergehende Unreife, genetische oder konstitutionelle Faktoren, Regulationsstörungen, prä- und perinatale Risiken sowie alle Formen von Behinderungen. Frühe Trennungen in den ersten Lebenswochen Fehlt die frühe wechselseitige Anpassungsphase zwischen dem Baby und seinen Eltern, wird das anfängliche Kennenlernen, die Orchestrierung und Abstimmung der intuitiven Kompetenzen auf die individuellen Besonderheiten des Neugeborenen erschwert. Frühe Trennungen sind oft unvermeidbar, z. B. bei notwendiger Isolation auf der Intensivstation nach Frühgeburtlichkeit oder perinatalen Komplikationen bzw. bei stationärer Behandlung von Müttern mit psychiatrischen Erkrankungen im Wochenbett. Frühes Kennenlernen entfällt auch bei Spätadoption oder bei Vätern, die glauben, mit dem Neugebore- 20 Mechthild Papousˇek FI 1/ 2006 nen noch nichts anfangen zu können. Die Probleme einer verspäteten Kontaktaufnahme können entmutigen und die Entfaltung der elterlichen Kompetenzen nachhaltig beeinträchtigen, sie lassen sich aber in der Regel mit der Zeit überwinden. Entwicklungsstörungen und Behinderungen des Kindes Die kindliche Responsivität kann sowohl auf motorischer Seite (Hypotonie, Passivität, Überstreckung) als auch auf Seiten der Wahrnehmung so weit eingeschränkt sein, dass die elterlichen Bemühungen um einen dialogischen Austausch allmählich erlöschen oder in einen direktiven, zudringlichen Interaktionsstil übergehen. Erhöhte Reizschwellen in einer Sinnesmodalität oder erschwerte Wahrnehmungsverarbeitung des Kindes können ein Mis-match zwischen Wahrnehmungsfähigkeit und Intensität der elterlichen Anregungen hervorrufen, insbesonders dann, wenn die Eltern ihr als vulnerabel wahrgenommenes Baby besonders vorsichtig und zart stimulieren, anstatt das Wahrnehmungsdefizit durch deutliche und klare Stimulation kompensatorisch auszugleichen. Wenn beispielsweise bei einer hochgradigen frühkindlichen Hörstörung Eltern auf die melodischen Anregungen in ihrer Ammensprache keinerlei positive Rückkoppelung bekommen, werden sie mit der Zeit verstummen und die Kommunikation mit dem Baby über andere Sinnesmodalitäten aufrechterhalten bzw. kompensieren, so dass die verbliebenen Hörreste ungenutzt bleiben und zentrale Hörbahnen womöglich verkümmern. Das Risiko des mütterlichen Verstummens wird dadurch erhöht, dass die Eltern vielleicht noch mitten in der Auseinandersetzung mit der Diagnose Hörbehinderung stehen und durch unbewältigte Ängste, Enttäuschung oder Aufbegehren gegen das Schicksal absorbiert sind. Wenn die Mutter darüber hinaus die Gebärdensprache als eine Art Fremdsprache erlernen muss, büßt sie ausgerechnet die Qualitäten der Ammensprache ein, die biologisch darauf angelegt sind, Hören und auditive Wahrnehmungsintegration der Muttersprache zu unterstützen. Auch alterstypische Signale im Aussehen des Kindes können zu Fehlanpassung und Versagen der Kommunikation führen, z. B. bei Kindern mit schweren mentalen oder autistischen Entwicklungsstörungen, bei denen sich das Bedürfnis nach präverbaler Kommunikation bis in ein Alter verlängert, in dem das Kind sein babyhaftes Aussehen und die Verhaltensmerkmale verliert, die bei Eltern und Betreuern die für die Verständigung hilfreichen intuitiven Verhaltensanpassungen triggern könnten. Der „schwierige“ Säugling Die Eltern sind in ihren intuitiven Kompetenzen vielfältigen Einflüssen ausgesetzt, die es erleichtern, aber auch erschweren oder unmöglich machen, sich intuitiv feinfühlig und kompetent auf das Baby einzulassen. Dies trifft insbesondere für Mütter und Väter mit einem reifungs- oder temperamentsbedingt „schwierigen Säugling“ zu, der unstillbar und scheinbar grundlos schreit, chronisch unzufrieden ist, sich nicht anschmiegt, nicht trösten lässt, Blickkontakt verweigert, in seinen Signalen unverständlich ist, die Brust oder Flasche vermeidet, sich im Zustand von Übermüdung auf dem Arm der Mutter versteift, gegen das Einschlafen kämpft und permanent die Mutter fordert (Papousˇek, 2004). Eine derart negative Rückkoppelung hat ernst zu nehmende Auswirkungen auf die psychische und körperliche Befindlichkeit der Eltern: Erschöpfung, Schlafdefizit, chronischer Stress, Hilflosigkeit, ohnmächtige Wut oder Depression sind die Folge. Die schwierigen Anforderungen und wiederholtes Misserfolgserleben können die intuitiven Kompetenzen vollständig ausreizen und schließlich im Sinne erlernter Hilflosigkeit nachhaltig hemmen, so dass ein dysfunktionaler „Teufelskreis“ ent- FI 1/ 2006 Vorsprachliche Kommunikations- und Beziehungserfahrungen 21 steht, eine Spirale negativer Gegenseitigkeit: je weniger reguliert das Baby ist, desto eher werden die intuitiven Kompetenzen beeinträchtigt und um so mehr fehlt dem Baby die notwendige Unterstützung der Eltern. Dysregulation und negative Rückkoppelung werden verstärkt, was wiederum zur Folge hat, dass es den Eltern immer weniger gelingt, das Baby in seinen Schwierigkeiten zu verstehen, anzunehmen und zu sich selbst in der elterlichen Rolle Zutrauen zu finden (Papousˇek & von Hofacker, 2004). Dysfunktionale Entgleisungen der Eltern- Kind-Kommunikation können in Zusammenhang mit anderen Entwicklungsaufgaben der frühen Kindheit entstehen und führen dann in Spiralen negativer Gegenseitigkeit zu belastenden frühkindlichen Regulationsstörungen wie Fütter- und Gedeihstörungen, Schlafstörungen, chronischer Unruhe, Spielunlust und Aufmerksamkeitsproblemen, exzessivem Klammern oder exzessivem Trotzen. Erschöpfte Ressourcen und Belastungen von Kind und Eltern Entgleisungen des Systems entstehen umso leichter, je mehr Eltern und/ oder Kind bereits durch multiple Risikobelastungen in ihren Ressourcen beeinträchtigt sind. Oft bringt dann eine Kleinigkeit das randvolle Fass zum Überlaufen. Viel wichtiger als jede noch so exakte diagnostische Bewertung ist es daher, insbesondere der Mutter in ihrem oft verzweifelten Bemühen, eine gute Mutter zu sein, Wertschätzung entgegenzubringen und ein offenes Ohr und Zeit für ihre Belastungen, Enttäuschungen und Verletzungen zu haben. Alle organischen und psychosozialen Belastungen, die die psychische Befindlichkeit der Mutter einschränken, können sich potentiell auch auf die elterlichen Verhaltensbereitschaften auswirken. Überaus verbreitet sind Erschöpfung und Depressionen im Wochenbett und späteren Säuglingsalter, Symptome, die fast immer mit den frühkindlichen Regulationsstörungen assoziiert sind und die Ausprägung der intuitiven Kompetenzen merklich dämpfen, in schweren Fällen vollständig blockieren (Papousˇek, 2002). Die notwendige Abstimmung wird auch bei neurotischen Beziehungsstörungen beinträchtigt, wenn die Aufmerksamkeit der Mutter durch intensive negative Affekte und Konflikte in Bezug auf Rollenidentität, Paarbeziehung oder Ablösung von der Herkunftsfamilie absorbiert ist. Je nach psychischer Belastung oder Erkrankung können die Kompetenzen durch Ängste, Depression, verdeckte oder offene Ablehnung oder auch durch Psychopharmaka gehemmt werden. Videoanalyse und Auflösung eines eskalierenden Teufelskreises Unter solchen Umständen kann die Kommunikation rasch entgleisen und in einen dysfunktionalen „Teufelskreis“ münden. So lässt z. B. ein 3-monatiger Bub mit einer frühkindlichen Regulationsstörung im Zwiegespräch mit seiner Mutter keinerlei Interaktionsbereitschaft erkennen, starrt vielmehr vor sich hin, zeigt weder Initiativen noch positive Reaktionen. In Antwort darauf sucht die Mutter das Baby mit einem bedrängenden Angebot von Anregungen und Spielchen zum Blickkontakt und Dialog zu gewinnen - mit dem unerwünschten Resultat einer noch stärkeren Abschottung des Säuglings. Identifiziert man sich unbewusst mit dem Baby, ist man auf der subjektiven Ebene rasch bereit, das Verhalten der Mutter als überstimulierend, zudringlich, alles andere als feinfühlig, vielleicht sogar aggressiv zu etikettieren. Aus der mütterlichen Perspektive nehmen wir die innere Anspannung und Verletzung wahr, die durch die Blickvermeidung ausgelöst wird und ihr verzweifeltes Bemühen verstärkt, ihrem Baby ein Zeichen der Zuwendung zu entlocken. Wie die Mutter im anschließenden Gespräch verrät, erlebt sie die Blickabwendung als absichtliche Ablehnung, 22 Mechthild Papousˇek FI 1/ 2006 Entwertung und Strafe für ihr Versagen als Mutter. Dies hat zur Folge, dass sie das Kind ohne Pause, in großem Tempo und raschem Wechsel stimuliert, ohne seine Signale richtig zu interpretieren. Der Bub schützt sich vor dem Zuviel durch eine sehr kompetente Selbstregulation: durch Abschalten, Wegschauen und Hemmen der Interaktionsbereitschaft. Je mehr er jedoch abwehrt, um so mehr stimuliert die Mutter, und umso mehr zieht er sich zurück - eine Spirale negativer Gegenseitigkeit. Ein kleiner diagnostischer Eingriff wendet unerwartet das Blatt: wir bitten die Mutter, für zwei Minuten nichts zu tun, das Kind nicht mehr anzuschauen und nicht zu reagieren. Der Kleine taucht sofort aus seiner Abschottung auf und zeigt durch anhaltende Blickzuwendung und charmantes Werben, dass das Gespenst der Ablehnung nur im Kopf der Mutter existiert, der Kleine aber spontanes Interesse am Zwiegespräch mit der Mutter hat. Im anschließenden therapeutischen Gespräch mit der Mutter war es möglich, diese für die Mutter elementare Erfahrung aufzugreifen, die entscheidend dazu beitrug, mit Hilfe einer minimalen praktischen Anregung die Kommunikation in die Gleise einer positiven Gegenseitigkeit zurückzuführen und damit das Gespenst der Ablehnung aus der Beziehung zu vertreiben. Was folgt aus dem Konzept der intuitiven elterlichen Kompetenzen für Frühförderung und Beratung? Das Beispiel macht die Schlüsselrolle deutlich, die die intuitiven elterlichen Beziehungskompetenzen in Prävention und Beratung, Frühförderung und Therapie einnehmen können. Allein das Wissen um die elterlichen Kompetenzen, ihre Universalität und unbewusste, intuitive Steuerung hat eine Reihe wichtiger praktischer Implikationen. Zum einen gehen wir davon aus, dass jede Mutter zumindest über basale Kompetenzen verfügt, auch wenn es auf den ersten Blick manchmal nicht den Anschein hat, und dass jede Mutter ein biologisch tief verwurzeltes Bedürfnis hat, für ihr Baby eine gute, kompetente Mutter zu sein. Von besonderer Bedeutung ist das Merkmal der „intuitiven Steuerung“: jeder Versuch, das elterliche Verhalten durch rationale Erklärungen, konkrete Verhaltensanweisungen, einfache Rezepte oder bewusste Kontrollstrategien zu beeinflussen, muss nicht nur scheitern, sondern kann bei den Eltern auf empfindliche Weise ihr Selbstvertrauen in die eigenen intuitiven Kompetenzen stören. Intuitive elterliche Früherziehung als Modell für die Frühförderung Die intuitiven elterlichen Kompetenzen im Dialog mit dem Baby bieten mit ihren regulatorischen, didaktischen und kompensatorisch unterstützenden Komponenten ein nachahmenswertes Modell für den pädagogischen oder therapeutischen Umgang mit Säuglingen und Kleinkindern, ein Modell, das inzwischen in viele therapeutische und pädagogische Verfahren der Frühförderung und Entwicklungsrehabilitation Eingang gefunden und sich dort bewährt hat (Papousˇek et al., 1997). Auch das Wissen um die Kompetenzen des Säuglings und sein Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit hat in den Therapien neue Akzente gesetzt und der Erkenntnis Raum gegeben, dass alles Trainieren, Fördern oder Therapieren wenig bringt, wenn dabei nicht das Baby selbst mit seinen Vorlieben, Initiativen und Bedürfnissen nach Selbstwirksamkeit und Bemeisterung zum Zuge kommt. Um dies zu ermöglichen, braucht es den Dialog, die Kommunikation mit dem Baby (Kiesling, 2000). Wie Hanus Papousˇek am Beispiel der ergotherapeutischen Behandlung eines autistischen Kindes verhaltensmikroanalytisch herausgearbeitet hat, hängt der Therapieerfolg vor allem davon ab, ob der Therapeutin ein Dialog mit dem Kind gelingt (Papousˇek et al., 1997). FI 1/ 2006 Vorsprachliche Kommunikations- und Beziehungserfahrungen 23 Dialogische oder kommunikative Therapieformen zeichnen sich dadurch aus, dass sich die Therapeutin mit ihren jeweiligen Techniken - wie eine Mutter mit ihrem Baby - von Moment zu Moment von den Rückkoppelungssignalen des Kindes leiten lässt, ihre Anregungen in Tempo, Zeitpunkt, Reizintensität und „Verständlichkeit“ auf die individuellen Stärken und Probleme des Kindes abstimmt und seine Motivationen nutzt und fördert, seine Neugier, seinen Erkundungsdrang und sein Bedürfnis, selbst etwas zu bewirken und zu meistern. Damit dies gelingt, muss die Therapeutin ihre fachspezifischen Kompetenzen und Therapieziele so verinnerlichen und automatisieren, dass sie sich auf die intuitive Kommunikation mit dem Baby einlassen kann. Es reicht allerdings oft nicht, die Behandlung allein auf das Baby zu konzentrieren. Ebenso wichtig ist es, die Kommunikation zwischen Mutter und Kind zu beachten. Die Mutter muss ihr Kind mit seinen Signalen und Schwierigkeiten verstehen lernen und Zugang und Vertrauen zu ihren intuitiven Kompetenzen gewinnen. Dies kann erfordern, zunächst die Belastungen der Eltern anzusprechen und aufzufangen, Probleme in der Akzeptanz der Behinderung oder in der frühen Kommunikation mit dem Kind frühzeitig zu bearbeiten und aufzulösen bzw. bei tiefgreifenden Problemen die Eltern mit dem Kind zur Mitbehandlung in eine Spezialambulanz zu überweisen. Eltern-Säuglings-/ Kleinkind-Beratung und -Psychotherapie Augenblicke emotionaler Bezogenheit und Erfahrungen positiver Gegenseitigkeit bilden den Dreh- und Angelpunkt der integrativen kommunikationszentrierten Eltern-Säuglings- Beratung und -Psychotherapie, wie sie in der Münchner Sprechstunde für Schreibabys für die Behandlung von frühkindlichen Regulations-, Bindungs- und Beziehungsstörungen entwickelt wurde (Papousˇek, Schieche & Wurmser, 2004). Berater und Therapeuten haben dabei unersetzbare Verbündete: die angeborenen Motivationen und Fähigkeiten des Säuglings zu Selbstwirksamkeit und Kontaktbereitschaft und die intuitiven elterlichen Verhaltensbereitschaften. Die Aufgabe der Therapeuten kommt der Beziehungs- und Erziehungsarbeit von Eltern gleich: 1. eine sichere Basis und einen geschützten, sicheren „Spielraum“ zu schaffen, in dem sich die noch vulnerablen, in Entwicklung befindlichen Fähigkeiten von Eltern und Säugling im Erleben positiver Gegenseitigkeit entfalten können, 2. die Eltern im Hier und Jetzt solcher Augenblicke im Selbstvertrauen in ihre genuinen Kompetenzen und im Zutrauen zu ihrem Kind zu bestärken, und 3. mit den Eltern zu erarbeiten, was im Alltag dem Erleben von Augenblicken positiver Begegnung im Wege steht. Tiefenpsychologisch fundierte psychotherapeutische Interventionen kommen zum Einsatz, wenn der Blick auf das Baby verstellt ist, wenn es darum geht, verborgene intuitive elterliche Kompetenzen aufzuspüren und aus emotionalen Überlagerungen, Verzerrungen oder psychodynamischen Blockaden zu befreien. Das Behandlungskonzept zielt darauf ab, die verborgenen Ressourcen in Kind und Mutter aus „dysfunktionalen Teufelskreisen“, aus psychodynamischen Blockaden, aus affektiven Überlagerungen und anderen Beeinträchtigungen zu befreien und Bedingungen zu schaffen, in denen sich das kommunikative Zusammenspiel der Eltern mit ihrem Baby im Sinne einer positiven Gegenseitigkeit entfalten kann - als Grundlage für eine langfristig tragfähige Bindung und Beziehung. Literatur Ahnert, L. (2004). Bindung und Bonding: Konzepte früher Bindungsentwicklung. In L. Ahnert (Ed.), Frühe Bindung: Entstehung und Entwicklung. München: Ernst Reinhardt Verlag. Bard, K. A. (2002). Primate parenting. In M. Bornstein (Ed.) Handbook of Parenting: Second Edition. Mahwah, N. J.: Lawrence Erlbaum. 24 Mechthild Papousˇek FI 1/ 2006 Bates, E., O’Connell, B. & Shore, C. (1987). Language and communication in infancy. In J. D. Osofsky (Ed.), Handbook of infant development (pp. 149 - 203). New York: Wiley. Campos, J. 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