eJournals Frühförderung interdisziplinär 25/1

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2006
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Frühe Kommunikation als stimmiges Ziel oder stimmige Kommunikation als frühes Ziel der logopädischen Begleitung?

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2006
Ulrike Wohlleben
Logopädische Arbeit für Kinder mit Entwicklungsverzögerungen oder solchen, die von Behinderung bedroht sind, bedeutet im ersten Lebensjahr, Eltern und Kinder zu begleiten. Das Ziel jeden Kommunikationsprozesses, gemeinsame Bedeutung zu entwickeln, wird auch von Eltern oben genannter Kinder sinnvoll und angemessen verfolgt, sobald sie ihre intuitiven diesbezüglichen Fähigkeiten einsetzen. Die Aufgabe der Therapeutin besteht in der sorgfältigen, aufdeckenden Beobachtung und Kommentierung der bestehenden Ressourcen von Eltern und Kindern, die durch sparsam eingesetzte Maßnahmen, z. B. aus dem Castillo-Morales-Konzept erweitert werden können. Diese orientieren sich am Entwicklungsstand des Kindes und umfassen deshalb keineswegs nur sprachliche Angebote, sondern bieten zahlreiche Wege der Verständigung auf allen Ebenen an.
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Vorab Der Begriff „Frühe Kommunikation“ oder ähnliche Bezeichnungen werden häufig benutzt, wenn es um die Entwicklung des Kindes und insbesondere um diejenige des Kindes mit Behinderung und seine Familie geht. Er wird sowohl in der entwicklungspsychologischen wie der neurobiologischen oder psycholinguistischen Forschung als auch im therapeutischen Bereich mit unterschiedlichen, wenn auch inhaltlich eng beieinander liegenden Konnotationen verwendet. Die Bindungstheorie beschreibt damit das Zustandekommen eines Gefüges psychischer Sicherheit, das es dem Kind ab dem Zeitpunkt seiner Geburt ermöglicht, sich seinen wachsenden Entwicklungsaufgaben mithilfe der Systeme Bindung, Exploration und Kognition zu stellen. Dafür soll es der Hauptbindungsperson gelingen, möglichst feinfühlig auf die entsprechenden Bedürfnisse des Kindes einzugehen (Grossmann, 2005). M. Papousˇek hat ausgedehnte Forschungsarbeiten über die Bedeutung der vorsprachlichen Kommunikation mittels Verhaltensbeobachtungen und Lautanalysen durchgeführt und dokumentiert. Ihr Konzept der intuitiven elterlichen Didaktik ist m. E. unverzichtbar geworden für die therapeutische Arbeit mit Familien, deren Säuglinge oder Kleinkinder von Behinderung bedroht sind (Papousˇek, 2001). In der unterstützten Kommunikation wird die möglichst frühzeitige und umfassende Intervention zur Erweiterung kommunikativer Frühe Kommunikation als stimmiges Ziel oder stimmige Kommunikation als frühes Ziel der logopädischen Begleitung? ULRIKE WOHLLEBEN Zusammenfassung: Logopädische Arbeit für Kinder mit Entwicklungsverzögerungen oder solchen, die von Behinderung bedroht sind, bedeutet im ersten Lebensjahr, Eltern und Kinder zu begleiten. Das Ziel jeden Kommunikationsprozesses, gemeinsame Bedeutung zu entwickeln, wird auch von Eltern oben genannter Kinder sinnvoll und angemessen verfolgt, sobald sie ihre intuitiven diesbezüglichen Fähigkeiten einsetzen. Die Aufgabe der Therapeutin besteht in der sorgfältigen, aufdeckenden Beobachtung und Kommentierung der bestehenden Ressourcen von Eltern und Kindern, die durch sparsam eingesetzte Maßnahmen, z. B. aus dem Castillo-Morales-Konzept erweitert werden können. Diese orientieren sich am Entwicklungsstand des Kindes und umfassen deshalb keineswegs nur sprachliche Angebote, sondern bieten zahlreiche Wege der Verständigung auf allen Ebenen an. Schlüsselwörter: Kommunikative Ressourcen, Bedeutungsentwicklung, vielfältige Wege der Verständigung Early Communication as an Integrative Approach or Integrated Communication as an Early Approach in Speech and Language Therapy Summary: Speech and language therapy in children with developmental delay or in danger of handicapping conditions during the first year of life means to accompany parents and children. The goal of every communicative process, to develop common meanings, is followed by parents adequately and consequent of they use their intuitive abilities. The therapist tries to help for a careful uncovering observation and by commenting on resources present in parents and children, expanded by some special measures, e. g. the Castillo Morales concept. These are oriented on the developmental stage of the child and comprise not only speech and language but also many other ways on all levels of communication. Keywords: Communicative resources, development of meaning, multiple ways of communication Frühförderung interdisziplinär, 25. Jg., S. 49 -57 (2006) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Möglichkeiten vor allem für Kinder gefordert, die aufgrund von Behinderung nicht sprechen können oder wollen. Hier geht es um praxisbezogene Ideen zur Kommunikation auf allen Ebenen (Kitzinger et al., 2003). Und nicht zuletzt werden unter früher Kommunikation diejenigen psycholinguistischen Forschungsergebnisse dargestellt, die die kindliche Sprachentwicklung vom Säuglingsalter an systematisch erfassen, ihre Gesetzmäßigkeiten, ihren chronologischen Ablauf sowie die Zusammenhänge zur Gesamtentwicklung des Kindes beschreiben und dabei von verschiedenen linguistischen und kognitiven Konzepten ausgehen (Bruner 1987, Zollinger, 1997, 2000, 2005). Mein Beitrag zu diesem Thema soll die Erfahrungen zusammenfassen, die ich in meiner praktischen logopädischen Tätigkeit mit Säuglingen und Kleinkindern und deren Familien gewonnen habe. Die Kinder der Eltern, die meine Unterstützung in der freien Praxis suchen, haben z. B. kraniofaziale Fehlbildungen wie Lippen-Kiefer-Gaumen-Segelspalten, die vor allem im ersten Lebenshalbjahr Probleme mit Saugen und Schlucken zur Folge haben können. Ich begleite auch Kinder mit schweren Entwicklungsverzögerungen im Rahmen genetischer Syndrome, die ebenfalls häufig organisch-funktionell bedingte Probleme beim Essen und Trinken (Vacterl-, Kurzdarm - oder Opitz-Syndrom) zeigen. Kinder mit Zerebralparese oder ehemalige Frühchen gehören ebenso wie diejenigen mit Down-Syndrom zu meiner Klientel. Ich nehme Kinder mit autistischen Zügen oder diejenigen, die im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen nur rudimentäre Kommunikationsansätze benutzen, aus meinen folgenden Betrachtungen aus. Der Austausch mit und die Beratung von Eltern ist entscheidender Bestandteil meiner täglichen Arbeit. Die ihr zugrunde liegenden Überzeugungen sind neben der Aufarbeitung des oben genannten Stands der entwicklungspsychologischen und psycholinguistischen Theorie vor allem geprägt durch das Castillo-Morales-Konzept, in dem Kommunikation in sehr weit gefasster Definition eine zentrale Position einnimmt. Wann ist „früh“? Was unter Kommunikation zu verstehen ist, muss nicht mehr definiert werden. Schwieriger ist es, für das Wörtchen „früh“, eine eindeutige Bestimmung zu finden: diese nun scheinbar zeitlich präzisierte Eingrenzung von Kommunikation lässt mich sofort an einige der Fragen denken, die Eltern in diesem Zusammenhang häufig stellen, wenn sie sich mit ihrem in der Regel schwer betroffenen Kind in der logopädischen Praxis vorstellen: • Gibt es „frühere“ versus „spätere“ interaktive Fähigkeiten oder kommunikative Kompetenzen? • Gibt es gar Zeiträume, in denen das Kind (noch) nicht kommunizieren kann oder möchte? • Oder ist „frühe Kommunikation“ ein von uns formuliertes Ziel, das wir im therapeutischen Prozess erreichen wollen, etwas, das sich ohne unsere Unterstützung nicht früh genug oder gar nicht entwickeln würde? Das Studium der diesbezüglichen Literatur - siehe oben - lehrt uns ebenso wie die praktische Realität, dass Kommunikation im Sinne des Zieles, eine gemeinsame Bedeutung für alle teilnehmenden Partner zu entwickeln, ein Prozess ohne zeitliche Eingrenzung ist, der kein „zu spät“ oder gar „zu früh“ kennt - sie existiert von Anfang an. Das gemeinsame Thema ebenso wie die jeweiligen Ausdrucksformen zu dessen Transport zwischen Eltern und ihren Kindern und umgekehrt ist selbstverständlich abhängig von Entwicklungsalter, Befindlichkeit, Lebenserfahrung, Weltwissen, sozialem Kontext etc., nicht aber der Prozess des Austausches an sich. Er findet in der Regel zwischen ihnen statt, 50 Ulrike Wohlleben FI 1/ 2006 sobald und solange sich diese beiden Pole gegenseitig wahrnehmen, und entwickelt sich über die langen Zeiten ihres Zusammenseins in immer neuen Varianten. Du bedeutest für mich alles Die zentrale Funktion kommunikativer Tätigkeit besteht darin, bedeutsames Handeln zu ermöglichen, einen gemeinsamen Sinn herzustellen, und ist Ausdruck des Willens zur Selbsterhaltung, den jedes Lebewesen besitzt. (Käsgen et al., 1997). Bedeutung geben wird im ersten Lebensjahr des Kindes vor allem durch seine Eltern verwirklicht, die sich für diesen Prozess in unnachahmlicher Weise an die jeweiligen Möglichkeiten des Kindes anpassen und dabei auf vielfältigen, durchaus nicht nur an das gesprochene Wort gebundenen Wegen mit ihm kommunizieren. Barbara Zollinger hat dieses Thema in ihren Veröffentlichungen unter immer wieder neuen Aspekten bearbeitet und seine Wichtigkeit hervorgehoben (Zollinger, 1997, 2000, 2004). Weil das Kind seine Bedürfnisse nur mithilfe einer Bezugsperson umsetzen kann, spielt das Zusammensein von Eltern und Kind eine buchstäblich lebenswichtige Rolle. Eltern - und später gegebenenfalls auch die Therapeutin - begeben sich hierfür in eine überwiegend rezeptive, aufnehmende Rolle, in der sie die Äußerungen des Kindes bemerken, imitieren, wiederholen, erweitern und schließlich beantworten. Zu jedem Zeitpunkt der Entwicklung jedes Kindes und abhängig von den sozialen und emotionalen Gegebenheiten zwischen ihm und seinen Eltern ist Bedeutung Geben ein Prozess mit verschiedenen Themen, die wiederum mit sich ändernden kommunikativen Strategien gestaltet werden. Er erfordert für beide ständiges, aufeinanderbezogenes Lernen, damit sich das Kind, das sich anfangs in „Zweieinheit“ (Stern, D. nach: Zollinger 1997) mit seiner Mutter erlebt, später immer mehr als von ihr zu unterscheidende Person kennen lernen kann. Dieser Prozess findet für das gesund geborene ebenso wie für das entwicklungsverzögerte Kind statt. Braucht frühe Kommunikation eine Logopädin? Ich sehe meine Aufgabe mit Kindern im ersten Lebensjahr vor allem im Aufdecken vorhandener Ressourcen und betrachte sie unter präventiven Gesichtspunkten; meine Arbeitshypothese ist, dass Kommunikation zwischen schwerbehinderten Kindern und ihren Eltern nicht nur möglich ist, sondern ganz unabhängig und lange vor jeder therapeutischen Intervention als Urprogramm des Menschen stattfindet. Ich versuche, die zweifellos vorhandenen, manchmal vielleicht schwer erkennbaren kommunikativen Signale gemeinsam mit Eltern und Kind aufzuspüren und die ihnen dabei m. E. jeweils zukommende Rolle bewusst zu machen und gegebenenfalls zu erleichtern. In der Begleitung verschiedenster alltäglicher Aktivitäten zwischen Eltern und Kind setze ich dabei um, was ich von ihnen im Laufe der Jahre gelernt habe: ich möchte mich der inneren und äußeren Situation meines jeweiligen Gegenübers mit größtmöglicher Sorgfalt und Fantasie anpassen. Der Prozess des Sich-Aufeinander-Einstellens zwischen Eltern und Kind ist meines Erachtens die Grundlage und entscheidende Voraussetzung für jeglichen kommunikati- FI 1/ 2006 Frühe Kommunikation 51 Abbildung 1: Blickkontakt: Sich aufeinander einstellen ven Prozess und entsteht aus ureigensten angeborenen Fähigkeiten. Eltern und Kind können nur voneinander erfahren, dass und inwieweit sie sich über ihre jeweiligen Bedürfnisse auszutauschen imstande sind. Das erste Trimenon: Sich Einrichten Wie andere therapeutische Konzepte auch, unterteilt das Castillo-Morales-Konzept die sensomotorische und sozial-emotionale Entwicklung des Kindes im ersten Lebensjahr in vier Hauptetappen. Ich beziehe mich im Folgenden nur auf wenige, verkürzt dargestellte Schlaglichter dieser komplexen und vielschichtigen Geschehnisse, die mir für mein Thema wichtig erscheinen. Die ersten drei Lebensmonate - und dieser Zeitraum kann für entwicklungsverzögerte Kinder deutlich länger sein - beinhalten bezüglich der Sensomotorik vor allem den Prozess des Sich-Einrichtens; sich halten und gehalten werden, sich zur Mitte hin ausrichten, sich mit der Schwerkraft auseinandersetzen. Jeder dieser Schritte passiert im unmittelbaren Zusammensein mit den Eltern und kann ohne sie nicht stattfinden - beinhaltet also per se eine Fülle kommunikativer Tätigkeit. Der Säugling kennt zufriedene und unzufriedene Zustände und agiert aus dem unmittelbaren Bedürfnis heraus, den einen zu erhalten bzw. den zweiten zu verlassen. Er muss sich so vielfältig regulieren können in Fragen von Hunger und Sattheit, Schlaf- und Wachrhythmus, Essen und Verdauung, Haltung und Bewegung. Seine Ernährung gelingt ausschließlich über die Funktion des Saugens. Auch diese Aktivitäten sind ohne einen ständigen Austausch, eine immer wieder herzustellende Aufmerksamkeit für sich und das Gegenüber nicht zu entfalten. Zur Freude seiner Umwelt setzt das Kind sein angeborenes Kontaktverhalten (erstes Lächeln, sich zuwenden, Blickkontakt) ein und entwickelt seine Bereitschaft zur Nachahmung. Die Bedeutung dieser Verhaltensweisen liegt in dem bereits erwähnten angeborenen Programm des Menschen, sich selbst erhalten, also weitest gehende Selbstständigkeit erreichen zu können. Wir beobachten die beginnende Aufrichtung z. B. in Versuchen, die Füße gegen die Unterlage zu stemmen oder den Kopf zu heben und zu halten. Oder die Ausrichtung zur Körpermitte hin als eine Möglichkeit, sich sowohl bezüglich der Körperhaltung als auch bezüglich der Stimmungslage zu stabilisieren und zu zentrieren. Weinen oder Lächeln geben über die momentane Befindlichkeit Auskunft, sie wenden sich damit an die Eltern und wirken so auf deren Verhalten ein. Ich weiß, wie es dir geht Eltern passen sich diesen Verhaltensweisen aktiv und beschützend an: sie erkennen die Wichtigkeit der körperlichen Präsenz, bieten dem Säugling Unterstützung zur Veränderung unangenehmer Situationen oder vielfältige Körperspiele als Anregung an und lassen ihn wissen, welche Reaktion sie an ihm erkennen: „Gell, da lachst du, wenn ich dich hier kitzle …“ Sie imitieren seine Lautäußerungen, erweitern sie um eigene und finden Antworten („Ja, ich weiß, du magst es nicht, wenn ich dich ausziehe, gleich ist es geschafft …“). Kommunizieren ist keine gesonderte Tätigkeit zwischen Eltern und Kind, sondern besteht in ihrem Einfallsreichtum und der unermüdlichen Suche nach feinfühligem (dieser Begriff entstammt als zentraler Gesichtspunkt der Bindungstheorie und wird von mir an dieser Stelle „ausgeliehen“), sich anpassendem elterlichen Verhalten ihrem behinderten Kind gegenüber und dessen langsam beobachtbaren Reaktionen hierauf. Dieser Prozess ist Kommunikation und findet in allen alltäglichen Aktivitäten zwischen Eltern und Kind statt. Dazu gehört im ersten Trimenon vor allem die Vielfältigkeit des körperbezogenen Kontaktes beim Tragen, Wickeln, Baden, Füt- 52 Ulrike Wohlleben FI 1/ 2006 tern etc., der nicht nur Nähe und Orientierung für das Baby bietet, sondern ihm hilft, den eigenen Körper und seine Möglichkeiten, sich selbst, als bedeutsam kennen zu lernen. So entwickelt sich bedeutsame Körpersprache, die z. B. für Kinder mit muskulärer Hypotonie anfangs schwerer zu verwirklichen oder für ihre Eltern schwerer zu entschlüsseln sein kann. Die ständige innere Bereitschaft zu zugewandtem Verhalten benötigt bisweilen kleine Hilfen bezüglich der äußeren Haltung. Wenn sich z. B. die Fähigkeit, sich in einer Position einzurichten und zu halten, langsamer entwickelt oder wenn die Stabilität in der Körpermitte schwer zu finden ist, können Eltern anfangs die kindlichen Signale vielleicht schwerer verstehen. Mit Lagerungshilfen und ihrem eigenen anpassungsfähigen Körper können sie jedoch bessere Voraussetzung dafür schaffen, dass sich ihr Kind ihnen zuwenden kann. Denn der Blickkontakt spielt eine entscheidende Rolle, seine Bedeutung liegt in wunderbar ausschließender Weise in der Botschaft: da bist du und hier bin ich, wir bilden eine Zweieinheit, d. h. wir wissen bereits viel voneinander und lernen uns immer besser kennen. Eltern lernen aus eigener Intuition oder mit Unterstützung der Therapeutin, ihr Kind so zu halten und sich ihm so zu nähern, dass dieser Blickkontakt im Laufe der Zeit besser gelingt. Sie geben ihm Halt durch Begrenzung und sorgen dafür, dass es sich spüren und seine Aufmerksamkeit richten kann; sie nähern sich ihm im genau richtigen Abstand, so dass das Kind die Konturen ihres Gesichtes erkennen kann. Bei Frühchen oder Kindern mit Zerebralparese, die häufig visuelle Einschränkungen haben, ergänze ich ihre Strategien vielleicht mit dem Hinweis auf die Lichtverhältnisse, die in jedem Raum dem Kind neue Anpassungsleistungen abverlangen, oder rege Eltern an, die Konturen ihres Gesichtes durch Schminke oder Haarschmuck hervorzuheben. Die Abwendung des Blickes, die das Kind einsetzt, wenn es ruhebedürftig ist und sich zurückziehen möchte, bedarf der besonderen Aufmerksamkeit: Eltern behinderter Kinder werten sie aus der berechtigten Sorge um die Kommunikationsmöglichkeiten des Säuglings schneller als Defizit, interpretieren sie als Abkehr oder Desinteresse. Ich sehe es als meine Aufgabe, den Eltern meine Wahrnehmung der kindlichen Ruhebedürftigkeit, dem Wunsch nach einer Pause zu vermitteln. Eltern, die diese Fähigkeit ihres Kindes erkennen und sein Bedürfnis respektieren, können so ihre Ängste relativieren und sich noch besser auf die Signale des Kindes einstellen. Gegebenenfalls biete ich dem elterlichen Repertoire möglicher Maßnahmen zur Zentrierung des Kindes kleine Erweiterungen an, z. B. die Durchführung der motorischen Ruhe aus dem Castillo-Morales-Konzept, die die Aufmerksamkeit des Kindes lenken und seine Ausrichtung zur Mittellinie hin unterstützen kann. Essen und Trinken ist für viele der von mir betreuten Kinder eine Schwierigkeit, die organisch-funktionelle oder auch regulative Gründe haben kann. Das Castillo-Morales- Konzept enthält hierfür manuelle Stimulationsmöglichkeiten, für die Eltern angeleitet werden. Sie können den Saug- und Schluckvorgang im Zusammenhang mit dem gesam- FI 1/ 2006 Frühe Kommunikation 53 Abbildung 2: Die motorische Ruhe: Sich sammeln, zur Mitte hin ausrichten ten sensomotorischen Entwicklungsstand positiv beeinflussen und verwenden dafür Stimulationen wie z. B. Berührung und Vibration. Angenehme Bewusstmachung schwer zu aktivierender Bewegungsabläufe ist dabei das vordergründige Ziel. Vor allem aber können Eltern damit über ihre stimulierende Tätigkeit den Kontakt zu ihrem Kind buchstäblich in die eigenen Hände nehmen, seine Reaktionen abwarten und wiederum beantworten, so dass ein beständiger körperlicher Dialog zwischen Eltern und Kind ermöglicht wird. Viele dieser Hilfen sind ihnen ohnehin geläufig: sie sorgen dafür, dass sich die Füße des Kindes beim Saugen abstützen können oder geben ihm einen Finger in die Faust, mit dem sie den Saugrhythmus begleiten. Da die Mimik zu den bedeutsamsten Ausdruckformen gehört, ist die behutsame und angenehme Stimulation des orofazialen Komplexes eine wichtige Unterstützungsmaßnahme. Kinder mit ausgeprägter muskulärer Hypotonie, die wenig Mimik einsetzen können, mit angeborenen Symptomen einer Fazialisparese oder Kinder mit kraniofazialen Fehlbildungen bedürfen hier einer besonderen Begleitung. Ich leite auch hier die Eltern an, sich mit liebevollen „Schmuse“aktivitäten im alltäglichem Zusammenhang (z. B. bei der täglichen Pflege) mit der orofazialen Muskulatur zu beschäftigen. Dabei habe ich nicht nur die Verbesserung der funktionellen Möglichkeiten des Kindes im Auge, sondern sehe Berührung vor allem als interaktive „Technik“ des Dialogs. Das zweite Trimenon: Beginnende willkürliche Tätigkeiten Im zweiten Trimenon hat das Baby bessere Möglichkeiten erreicht, eine stabile Haltung einzunehmen, der Kopf wird sicher gehoben und freier bewegt, auch die Extremitäten sind gezielter einsetzbar. Damit verbunden werden seine Lautäußerungen ebenso wie seine Mimik differenzierter, der Blickkontakt intensiver und gerichteter, die Bewegungen von Armen und Beinen stärker als Ausdrucksmittel eingesetzt. Saugen als bisher ausschließliche Möglichkeit, sich zu ernähren, wird erweitert durch die Fähigkeit, nun auch breiige Kost zu sich zu nehmen. Die Sinnesentwicklung des Kindes hat sich erweitert, verschiedene Modalitäten können miteinander verknüpft werden. Im Prozess der Bedeutungsentwicklung hat das Kind also seine eigenen Ausdrucksmöglichkeiten erweitert. Seine Eltern können mit größerer Sicherheit über die Bedürfnisse des Kindes Auskunft geben und sich mit gezielteren Maßnahmen um deren Befriedigung kümmern. Ein wichtiger Aspekt ist, dass sie nun ihre gemeinsame Aufmerksamkeit auf die Umwelt, auf Spielzeug, andere Personen, Musik etc. richten und dem Kind deren Bedeutung nahe bringen können. Der sprachlich-stimmliche Ausdruck der Eltern vermittelt dem Kind nicht mehr nur deren Anwesenheit und ruhige Zuwendung, er verändert sich vor allem prosodisch in vielfältiger Weise. Sätze wie: „Komm, wir gehen in die Badewanne“ oder „Vorsicht, der Brei ist noch sehr heiß“ haben eine sehr unterschiedliche intonatorische Struktur, die dem Kind Bedeutung vermittelt. Ungeachtet dessen, ob das Kind eines Tages in der Lage sein wird, sprachlich zu kommunizieren, lernt es so die Struktur seiner Muttersprache zunächst als regelmäßig wiederkehrendes, affektiv gesteuertes auditives Ereignis mit unverwechselbaren Merkmalen kennen und dessen Bedeutung in kleinen Schritten zu entschlüsseln. Zwei Momente beachte ich bei Kindern in dieser Entwicklungsphase besonders: Innehalten: Die zunehmende Fähigkeit, bewusst zu spüren, zu lauschen, zu sehen äußert sich vor allem durch die Unterbrechung soeben durchgeführter Aktivitäten: Saugen wird unterbrochen, wenn sich eine zweite Person nähert, die Bewegung der Extremitäten wird gestoppt, wenn eine Musik beginnt 54 Ulrike Wohlleben FI 1/ 2006 etc. Es ist mir wichtig, diese Aufmerksamkeit Eltern als eine wichtige Voraussetzung zur Auseinandersetzung mit anderen, zur Kommunikation im weitesten Sinne, zu spiegeln und sie dazu zu ermuntern, ihrem Kind diese Momente bewusst zu ermöglichen: „Horch! “ - die Geste mit dem erhobenen Zeigefinger ist ein zentrales Element der Aufmerksamkeitslenkung. Mit ihm wird „Zuhören“ als eine entscheidende kommunikative Strategie erlernt. „In Sprache baden“: In diesem Zusammenhang fragen viele Eltern danach, wie viel sie mit ihrem Kind sprechen sollen - je mehr sie um die sprachliche Entwicklung ihres Kindes fürchten, umso mehr versuchen sie, es sprachlich ausgiebig zu „füttern“. Das gilt besonders für diejenigen Kinder, deren zukünftige Entwicklung für ihre Umwelt aufgrund deren Grunderkrankung vorhersehbar zu sein scheint. „Viel Sprache“ bietet nach meiner Erfahrung nicht die entscheidende Unterstützung auf dem Weg zu jeder Art von Kommunikation, da sie so schnell zu einem undifferenzierbaren akustischen Ereignis werden kann. Das wichtige an sprachlichem Input ist dessen Bedeutung, d. h. Eltern - und Therapeutinnen - sollten mit ihrem Kind sprechen, weil sie ihm etwas mitteilen wollen, nicht, weil sie „viel Sprache“ anbieten wollen. Gerade Kinder mit einer begrenzten Aufnahmekapazität benötigen bedeutungsvolle Sprache - und diese beinhaltet erneut Pausen, Absätze und - Schweigen. Viele Eltern äußern in dieser Phase ihre Hilflosigkeit angesichts der vermeintlichen Anforderung, ihrem Kind ein großes Angebot an sprachlichen Stimuli zu vermitteln und betrachten ihr eigenes Verhalten als eher schlecht angepasst an die Möglichkeiten des Kindes. Wenn ausgerechnet die Logopädin - und sie tut dies voller Überzeugung! - sie zu Pausen, auch zu schweigender, körperbezogener Zwiesprache mit ihrem Kind anregt, stellt dies häufig eine Erleichterung für sie dar. Drittes und viertes Trimenon: (Sich) wahrnehmen und in die Selbstständigkeit bewegen Entscheidend in der sensomotorischen Weiterentwicklung ab dem 7. Lebensmonat ist die beginnende Fortbewegung, mit dem das gesund geborene Baby sich von seinen Eltern distanzieren kann; es kann Essen oder Körperkontakt von sich aus ablehnen, fremde Personen als solche erkennen und den Kontakt zu ihnen vermeiden („fremdeln“). Es lernt sich selbst als Person mit einem Namen kennen und dadurch von anderen unterscheiden. Es versteht gegen Ende dieses Trimenons konventionalisierte Gesten („Winke winke“) und entdeckt das Wörtchen „Nein“, d. h. seine Bedeutungsentwicklung ist entscheidend vorangekommen. Ursache und Wirkung werden im Spiel erprobt (Gegenstände fallen lassen, bestimmte Reaktionen erwarten, Objektpermanenz entdecken). Die Kommunikation mit ihm ist auf allen Ebenen - mittels Körperkontakt, Mimik, Gestik, Lauten, Worten, gemeinsamen Blicken - zu einer Selbstverständlichkeit geworden, die Eltern und Kind mit täglich neuen Ideen erweitern, und sich immer neue Anlässe zu gemeinsamem Erleben gegenseitig zuspielen. In diesem Zeitraum - und nun fasse ich das dritte und vierte Trimenon zusammen - wird die andersartig verlaufende Entwicklung des Kindes, das mit einer Behinderung geboren wird, auch im kommunikativen Bereich deutlich. Seine Lautäußerungen lassen sich weniger gut differenzieren, die Fortbewegung gelingt noch nicht, Gestik kann unter Umständen verstanden, selten aber gezielt eingesetzt werden. Dies ist der Zeitpunkt, zu dem Eltern besondere Unterstützung benötigen. Für ihr Kind und dessen Entwicklungsstand ist sich äußern Können, die eigenen Bedürfnisse bedeutsam zu gestalten, für einen langen Zeitraum an nicht- oder vorsprachliche Signalsysteme gebunden, ihre Wichtigkeit dadurch unbestreitbar. Sie umfassen Atmung, Herzschlag, Körpertemperatur, Färbung der FI 1/ 2006 Frühe Kommunikation 55 Haut, den Blick richten oder den Kopf abwenden ebenso wie gähnen und seufzen, schreien, lächeln, sich bewegen. Jetzt können Missverständnisse entstehen: Kinder mit Bewegungsauffälligkeiten im Rahmen einer Zerebralparese z. B. setzen sehr häufig „pathologische Muster“, etwa den Opisthotonus gezielt ein, um ein klares „nein“ zu formulieren. Eltern, die das schon häufig erlebt haben, verstehen dies in der Regel richtig, benötigen aber Unterstützung, um ihrer Wahrnehmung und nicht fachlichen Beurteilungen zu vertrauen. Kommunikation mit dem entwicklungsverzögerten Kind wird in diesem Stadium besonders komplex; sie erfordert von Eltern noch mehr und noch variablere Strategien des angemessenen Kontaktes: sie entschlüsseln und beantworten die nichtsprachlichen Ausdrucksformen des Kindes auf gleicher Ebene und äußern sich gleichzeitig und zunehmend gezielter sprachlich, weil sie wissen, dass dies die allgemein gültige Form der Verständigung ist, die auch ihr Kind erlernen soll. So agieren sie über lange Zeit quasi zweisprachig: sie verstehen die Äußerungen ihres Kindes, gleichgültig, welches Zeichensystem es benutzt. Sie „übersetzen“ dessen Mitteilungen für sich und andere und beantworten sie auch verbal. So vermitteln sie gleichzeitig sprachliche Strukturen und deren Bedeutung, ohne allzu früh wiederum eine Antwort auf dieser Ebene zu erwarten. In der Regel erkennen Eltern den Zeitpunkt, zu dem die nichtsprachlichen Zeichensysteme konventionalisiert und damit einer größeren sozialen Gemeinschaft zugänglich gemacht werden sollten. Sobald sie den Wunsch ihres Kindes bemerken, sich über den unmittelbaren situativen Kontext hinaus äußern zu wollen, etwa mit Wünschen wie: „Wo ist der Papa? “ oder „Ich möchte spazieren gefahren werden“ können die Möglichkeiten unterstützter Kommunikationsformen angeboten werden: symbolische Handlungen, das Ursache-Wirkungs-Prinzip stehen in einfachster Form im Vordergrund der gemeinsamen Aktivität und können im gezielten Umgang mit Bildsymbolen, Fotos oder elektronischen Hilfen zur Äußerung der kindlichen Bedürfnisse oder Erlebnisse münden. Zum Schluss Frühzeitig an den kommunikativen Möglichkeiten eines entwicklungsverzögerten Kindes zu arbeiten, heißt für mich als Logopädin dann aktiv zu werden, wenn Eltern diesbezüglich über die eigenen Kapazitäten des Sich-Einstellens auf die Bedürfnisse ihres Kindes in Zweifel geraten. Solange sie wissen, was ihr Kind braucht, hat es seine Bedürfnisse offenbar geäußert und wurde von ihnen verstanden. Alles, was sie sich für dieses oft anstrengende Zusammensein mit ihrem Kind aneignen, worum sie sich bemühen, macht den Prozess des Bedeutung- Gebens aus. Zeit spielt dabei für sie und ihr Kind eine wichtigere Rolle als für Eltern eines gesunden Kindes und muss auch von mir ausreichend bereitgestellt werden. Ich bestärke sie darin, dass sie mit ihrem Kind kommunizieren können, öffne sie für die vielfältigen Ebenen, auf denen dies stattfindet und entdecke mit ihnen die Besonderheiten der Signale, die ihr Kind sendet, weil es die Bedeutung seiner Eltern für seine Bedürfnisse erkennt. 56 Ulrike Wohlleben FI 1/ 2006 Abbildung 3: Sich wahrnehmen Literatur Berthold E., Käsgen R., Ott-Hackmann, H. (1999): So sollst Du sein. Reinbek bei Hamburg Bruner, J. (1987): Wie das Kind sprechen lernt. Bern Castillo Morales, R. (unter Mitarbeit von: Brondo, Juan; Haberstock, Barbara) (1998): Die Orofaziale Regulationstherapie. 2. durchges. Aufl. München Grossmann, K. (2005): Frühe Bindungen und psychische Sicherheit bis ins junge Erwachsenenalter. In: Frühförderung Interdisziplinär 24, Nr.2/ 2005, 55 - 64. München Iven, C. (2000): Gemeinsam an Lösungen arbeiten. In: L.o.g.o.s Interdisziplinär, S. 84 - 97 Kitzinger, A., Kristen, U., Leber, I. (2003): Jetzt sag ich’s Dir auf meine Weise. Erste Schritte in Unterstützter Kommunikation mit Kindern. Karlsruhe Papousˇek, M. (2001): Vom ersten Schrei zum ersten Wort. Bern Göttingen Toronto Papousˇek, H. und Papousˇek, M. (1991): Early integrative and communicative development: Pointers to humanity. In: Emrich, H. M., Wiegand, M. (Eds.): Integrative biological psychiatry. Berlin Heidelberg/ New York Rauh, H. (2005): Besonderheiten der Bindungsentwicklung bei Kindern mit Down-Syndrom (mit Fallvignetten von Claudine Calvet). In: Frühförderung Interdisziplinär 24, Nr.2/ 2005, 65 - 73. München Wohlleben, U. (2002): Soziale und kulturelle Bedingungen in der Kommunikation sprechender und nichtsprechender Menschen. In: Bewegung und Entwicklung. Nr. 1/ 2002, 24 - 33 Wohlleben, U (2004): Die Verständlichkeitsentwicklung von Kindern mit Lippen-Kiefer-Gaumen-Segel- Spalten. Idstein Zollinger, B. (1997 3 ): Die Entdeckung der Sprache. Bern, Stuttgart Zollinger, B. (Hrsg.) (2000): Wenn Kinder die Sprache nicht entdecken. Bern, Stuttgart Zollinger, B. (2004): Kindersprachen. Kinderspiele. Bern, Stuttgart Dr. phil. Ulrike Wohlleben Logopädische Praxis Moststr. 27 D-90762 Fürth E-Mail: uwohlleben@gmx.de FI 1/ 2006 Frühe Kommunikation 57 Mit einem Geleitwort von H. François-Kettner und einem Vorwort von M. Glückselig und K. v. d. Hude 2005. 204 Seiten. 7 Abb. (3-497-01782-5) kt € 24,90 | SFr 43,70 Geburt unter Notfallbedingungen, Frühgeburt, Krankheit oder Behinderung des Neugeborenen - für Eltern eine große Belastung. In diesen Krisensituationen hilft eine einfühlsame Betreuung durch das neonatologische Pflege- und Behandlungsteam. Die Autorin stellt ein Interventionskonzept der familienorientierten, psychosozialen Elternberatung in der Neonatologie vor und zeigt u. a. wie man medizinische Informationen verständlich vermittelt und im neonatologischen Team in der Elternberatung zusammenarbeitet. a www.reinhardt-verlag.de