eJournals Frühförderung interdisziplinär 25/2

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
41
2006
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Zum theoriegeleiteten Einsatz standardisierter Sprachtests bei Kindern mit geistiger Behinderung

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2006
Maren Aktas
Praktiker stehen dem Einsatz standardisierter testpsychologischer Verfahren bei der Diagnostik geistig behinderter Kinder oft skeptisch gegenüber. Jedoch gilt, dass ein solches Vorgehen die Vergleichbarkeit von Ergebnissen erhöht und nicht zwangsläufig einer individuumszentrierten Entwicklungsbeurteilung widersprechen muss: Im Rahmen einer empirischen Studie mit 28 Kindern mit Down-Syndrom wurde ein diagnostischer Leitfaden entwickelt, der zeigt, wie strukturierte Elternfragebögen und standardisierte Sprachtests bei stark entwicklungsverzögerten Kindern gewinnbringend eingesetzt werden können. Dem Diagnostiker wird dabei ein adaptives Vorgehen empfohlen, das genaue Hinweise zur Aufgabenkombination und -abfolge enthält. Da zur Interpretation der Ergebnisse über die übliche normorientierte Auswertung hinaus eine theoretisch begründete qualitative Auswertung erfolgt, erlaubt der Leitfaden sowohl eine zeitlich ökonomische Erfassung des individuellen sprachlichen Repräsentationsniveaus eines Kindes als auch die Ableitung konkreter Fördermaßnahmen.
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Kinder mit Down-Syndrom oder einer anderen Form der geistigen Behinderung stellen Diagnostiker und Therapeuten häufig vor eine besondere Herausforderung. Unter hohem zeitlichen und ökonomischen Druck soll der Entwicklungsstand des Kindes, z. B. sein sprachliches Fähigkeitsprofil, mit Blick auf die Möglichkeiten und Grenzen einer Förderung beurteilt werden. Kinder mit mentaler Retardierung unterscheiden sich jedoch interindividuell sehr stark in ihren Kompetenzen und ihrer Entwicklungsgeschwindigkeit, so dass ein einheitliches Vorgehen unmöglich erscheint. Daher werden geistig behinderte Kinder häufig informell untersucht (z. B. indem die Eltern befragt und Verhaltensbeobachtungen durchgeführt werden) und es wird absichtsvoll auf den Einsatz standardisierter Verfahren verzichtet. Dabei lässt sich ein standardisiertes diagnostisches Vorgehen durchaus mit einer ressourcenorientierten Einschätzung der indi- Zum theoriegeleiteten Einsatz standardisierter Sprachtests bei Kindern mit geistiger Behinderung Neue Möglichkeiten für die Praxis durch einen diagnostischen Leitfaden MAREN AKTAS˛ Zusammenfassung: Praktiker stehen dem Einsatz standardisierter testpsychologischer Verfahren bei der Diagnostik geistig behinderter Kinder oft skeptisch gegenüber. Jedoch gilt, dass ein solches Vorgehen die Vergleichbarkeit von Ergebnissen erhöht und nicht zwangsläufig einer individuumszentrierten Entwicklungsbeurteilung widersprechen muss: Im Rahmen einer empirischen Studie mit 28 Kindern mit Down-Syndrom wurde ein diagnostischer Leitfaden entwickelt, der zeigt, wie strukturierte Elternfragebögen und standardisierte Sprachtests bei stark entwicklungsverzögerten Kindern gewinnbringend eingesetzt werden können. Dem Diagnostiker wird dabei ein adaptives Vorgehen empfohlen, das genaue Hinweise zur Aufgabenkombination und -abfolge enthält. Da zur Interpretation der Ergebnisse über die übliche normorientierte Auswertung hinaus eine theoretisch begründete qualitative Auswertung erfolgt, erlaubt der Leitfaden sowohl eine zeitlich ökonomische Erfassung des individuellen sprachlichen Repräsentationsniveaus eines Kindes als auch die Ableitung konkreter Fördermaßnahmen. Schlüsselwörter: Sprachentwicklung, Diagnostik, ELFRA, SETK-2, SETK 3-5, Down-Syndrom, Elternfragebogen, geistige Behinderung On Using Standardized Tests of Language Development to Diagnose Mentally Retarded Children: New Possibilities for Practice Via a Diagnostic Guideline Summary: Practitioners often question the usefulness of psychological tests to examine the development of mentally retarded children. However, there is no reason why standardized procedures should be incompatible with an individual evaluation of a child’s competences. In fact, standardized instruments enhance the comparability of outcomes. On the basis of the results from an empirical study with 28 Down Syndrome children, a diagnostic guideline is presented illustrating how structured parent report questionnaires und standardized tests of language development can be used with mentally retarded children. In particular, an adaptive diagnostic strategy is described and the diagnostician is provided with precise recommendations which items and subtests should be used. In order to interpret the scores, quantitative psychometric procedures are combined with a theoretically founded qualitative data interpretation. Thus it is possible both to assess the individual child’s level of language representation in a time-efficient way and to deduce therapeutic measures. Keywords: Language development, diagnosis, ELFRA, SETK-2, SETK 3-5, Down Syndrome, parent report questionnaire, mental retardation Frühförderung interdisziplinär, 25. Jg., S. 79 -91 (2006) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel viduellen Fähigkeiten eines (geistig behinderten) Kindes verbinden, wenn geeignete Instrumente eingesetzt werden. In diesem Beitrag werden die Ergebnisse einer Studie berichtet, in der standardisierte und normierte Elternfragebögen und Sprachentwicklungstests so miteinander kombiniert wurden, dass der kommunikative und sprachliche Entwicklungsstand geistig behinderter Kinder (Kinder mit Down-Syndrom) präzise erfasst werden konnte. Die Studie (Aktas ˛ 2004), die an der Universität Bielefeld in der Arbeitsgruppe von Prof. Hannelore Grimm durchgeführt wurde, besteht aus drei Teilen: (1) einem theoretischen Rahmenmodell, (2) einem empirischen Teil, in dem 28 vierbis siebenjährige Kinder mit Down-Syndrom mit aufeinander abgestimmten standardisierten Verfahren untersucht wurden und (3) dem auf der Basis dieser Daten post hoc entwickelten diagnostischen Leitfaden. Im Folgenden wird nach einem kurzen Abriss des methodischen Vorgehens zunächst das theoretische Modell umrissen, da die Qualität einer diagnostischen Aussage stets von der Gültigkeit der zugrunde liegenden theoretischen Annahmen bestimmt wird. Bei der anschließenden Darstellung des diagnostischen Leitfadens werden zwei Charakteristika besonders hervorgehoben: Der Einstieg in den diagnostischen Prozess sowie die Art der Auswertung und Interpretation. Das Besondere am vorgeschlagenen Vorgehen ist, dass der Einstieg in den diagnostischen Prozess nicht über das chronologische (CA) oder mentale Alter (MA) des Kindes erfolgt, sondern über seinen produktiven Wortschatz. Bei der Auswertung der in der Testsituation erhaltenen Reaktionen und Antworten der Kinder wird ein zweistufiges Vorgehen gewählt. Zuerst werden alle Daten gemäß den Testanweisungen, also nach dem üblichen normorientierten, psychometrischen Vorgehen ausgewertet. Im zweiten Schritt - und das ist der zentrale Punkt - werden die Antworten des Kindes dann qualitativ ausgewertet mit dem Ziel, Rückschlüsse von der Verhaltensebene auf die zugrundeliegende Wissensebene zu ziehen. Dazu werden die richtigen, falschen und auch fehlenden Antworten der Kinder daraufhin untersucht, wie sie zustande gekommen sind, d. h. welche mentalen Repräsentationen dem Verhalten zugrunde liegen. Hier wird ein Rückbezug auf das theoretische Rahmenmodell vorgenommen. Methodisches Vorgehen Entwickelt wurde der Leitfaden an einer Stichprobe von 28 Kindern mit freier Trisomie 21 im Alter zwischen 4; 6 und 7; 6 Jahren (M = 5; 11 Jahre, SD = 11.9 Monate), die keine gravierenden Hörbeeinträchtigungen aufwiesen. Das MA der Kinder wurde über den Snijders-Oomen Nonverbaler Intelligenztest für Kinder (SON-R 2 1 ⁄ 2 - 7) (Tellegen, Winkel, Wijnberg-Williams & Laros 1998) bestimmt und bewegte sich zwischen < 24 Monaten und 4; 9 Jahren (M = 34.8 Mon.; SD = 6.5 Mon.). Der Kontakt zu den Familien wurde über den „Arbeitskreis Down-Syndrom e.V.“ in Bielefeld und die „Lebenshilfe e.V.“ in Berlin hergestellt. Jedes Kind wurde an zwei Testterminen, die jeweils 1 - 1 1 ⁄ 2 h dauerten, zu Hause untersucht. Die Eltern füllten einen Anamnesebogen zum Kind (u. a. bislang erhaltene Fördermaßnahmen, mögliche Hörprobleme, medizinische Angaben) und zu soziodemographischen Daten der Familie aus. Außerdem bearbeiteten sie die Elternfragebögen für die Früherkennung von Risikokindern (Grimm & Doil 2000). Diese ursprünglich für den Einsatz bei 12 (ELFRA-1) bzw. 24 Monate (ELFRA-2) alten Kindern entwickelten Verfahren wurden zu einer Down- Syndrom-Version (ELFRA-DS) kombiniert. Somit konnten vorsprachliche Fähigkeiten wie z. B. der Gestengebrauch, das Reagieren auf und das Experimentieren mit Sprache, sowie sprachliche Fähigkeiten wie der rezeptive und produktive Wortschatz und die Anwendung erster grammatischer Regeln erfragt werden (vgl. Abb. 1). Zur direkten Überprüfung der sprachlichen Fähigkeiten der Kinder wurden der Sprachentwicklungstest für zweijährige Kinder - SETK-2 (Grimm 2000) und der Sprachentwicklungstest für dreibis fünfjährige Kinder - SETK 3-5 (Grimm 2002) zu einer Version SETK-DS kombiniert, indem die Subtests in eine gemeinsame Schwierigkeitsabfolge gebracht wurden. Alle Instruktionen und Auswertungskriterien blieben dabei unverändert. Eine Übersicht über die erfassten 80 Maren Aktas˛ FI 2/ 2006 rezeptiven und produktiven Sprachverarbeitungsfähigkeiten und die entsprechenden Untertests ist in Abbildung 1 zu finden. Zur Prüfung des Satzverständnisses und der Satzproduktion wurden die entsprechenden Items aus SETK-2 und SETK 3-5 ebenfalls in eine gemeinsame Schwierigkeitsabfolge gebracht. Des Weiteren wurde der Subtest „Phonologisches Arbeitsgedächtnis für Nichtwörter“ modifiziert. Da ein Bodeneffekt zu befürchten war (Kießig 2002), wurden sechs leichtere (ein- und zweisilbige) Nichtwörter hinzugefügt. Bei allen Kindern wurde mit der Prüfung des rezeptiven Wortschatzes begonnen. Anschließend wurden sukzessiv schwierigere Aufgaben vorgegeben bis ein Kind keine interpretierbaren Antworten mehr gab. Alle Testdurchführungen wurden auf Video aufgezeichnet und von zwei Beobachterinnen unabhängig voneinander ausgewertet. Ein entwicklungspsychologisches Modell rekurrenter Repräsentationsveränderungen Eine aussagefähige Diagnostik kann nicht ohne ein zugrunde liegendes entwicklungsdiagnostisches Modell erfolgen, das bestimmt, welche Fähigkeiten zu welchem Zeitpunkt untersucht werden. Ein solches Modell erlaubt es, über die genaue inhaltliche Analyse des beobachtbaren Verhaltens Rückschlüsse auf die Kompetenzen und Verarbeitungsfähigkeiten des Kindes zu ziehen. In dem hier zugrunde gelegten entwicklungspsychologischen Rahmenmodell wird FI 2/ 2006 Standardisierte Sprachtests bei Kindern mit geistiger Behinderung 81 Abbildung 1: Übersicht über die eingesetzten Instrumente davon ausgegangen, dass der Spracherwerb, wie auch die Kognitionsentwicklung, nicht nur durch Phasen der quantitativen Zunahme von Wissen (z. B. Vergrößerung des Wortschatzes durch Hinzulernen einzelner Wörter), sondern auch durch Phasen der qualitativen Reorganisation dieses Wissens gekennzeichnet ist (z. B. Erwerb von grammatischen Regeln, mit denen einzelne Wörter zu Sätzen kombiniert werden) (Karmiloff-Smith 1992). Die Entwicklungsphasen bauen dabei aufeinander auf. Zentral ist, dass sich die mentalen Repräsentationen der Kinder in den wiederkehrenden Reorganisationsphasen jeweils verändern. Im Einzelnen beschreibt das in Abbildung 2 dargestellte Modell die Repräsentationsveränderungen vom vorsymbolischen Handeln eines Kindes (Phase 1) bis zum expliziten Zugriff auf sein sprachliches Wissen (Phase 4). Dabei orientieren sich die Phasen an den Erkenntnissen über den normalen Spracherwerb. Das Modell ist jedoch auch auf Kinder mit Down-Syndrom übertragbar, weil diese die wesentlichen Meilensteine des Spracherwerbs zwar deutlich verspätet, im Prinzip jedoch in derselben Abfolge und aufgrund vergleichbarer Mechanismen erreichen wie normal entwickelte Kinder (vgl. für eine Begründung dieser Annahme die Zusammenfassung in Aktas ˛ [2004]). Die erste Phase des vorsymbolischen Handelns beginnt schon bald nach der Geburt, wenn der Säugling beginnt, auf Kommunikationsangebote seiner Bezugspersonen zu reagieren (z. B. mit Blicken oder Vokalisationen). Bei Kindern mit Down-Syndrom gibt es bereits mit wenigen Monaten Hinweise auf eine langsamere Sprachverarbeitung (Chapman 1995, Eilers, Moroff & Turner 1985), einen langsameren Aufbau komplexer auditorischer Repräsentationen (Glenn & Cunningham 1983) und eine später einsetzende Lallphase (Smith & Oller 1981). Zu Beginn dieser Phase reagieren die Kinder zwar, verfolgen aber noch nicht willentlich die Absicht, mit ihren Bezugspersonen in Interaktion zu treten (präintentionales Verhalten). Erst mit etwa neun Monaten beginnen Kinder normalerweise intentional zu handeln. Sie erkennen beispielsweise, dass sie mit ihrem eigenen Verhalten (über Zeigegesten, Blicke, Vokalisationen) die Aufmerksamkeit eines anderen Menschen steuern können, z. B. um einen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus herzustellen. Kinder mit Down-Syndrom haben jedoch Schwierigkeiten, ihre Aufmerksamkeit zwischen Personen und Objekten zu koordinieren und Blicke als Kommunikationsmittel einzusetzen (Kasari, Freeman, Mundi & Sigman 1995). Der Übergang zur zweiten Phase des Impliziten Symbolwissens ist durch einen entscheidenden Repräsentationswechsel gekennzeichnet: Das Kind erkennt, dass ein Zeichen (Symbol) stellvertretend für etwas zu Bezeichnendes steht. Gegen Ende des ersten Lebensjahres ist ein Kind normalerweise in der Lage, Symbole in der Kommunikation einzusetzen und damit Dinge, Personen oder Ereignisse zu bezeichnen. Zu den frühesten eingesetzten Symbolen zählen Gesten zur Befriedigung von Grundbedürfnissen, wie z. B. das Öffnen und Schließen des Mundes oder Lautkombinationen („hamham“), um mitzuteilen „Ich habe Hunger! “. Der Gebrauch der Symbole ist dabei noch eng an den jeweiligen Erwerbskontext gebunden. Erst mit der Zeit werden die Gesten und Vokalisationen flexibler verwendet, was den Übergang von den vorsprachlichen zu den sprachlichen Symbolisierungsfähigkeiten markiert. Kinder mit Down-Syndrom erwerben ebenfalls als erste Symbole einfache Gesten. Während normal entwickelte Kinder jedoch sehr schnell von der gestischen auf die verbale Modalität umsteigen, erstreckt sich die Phase des vorsprachlichen Symbolgebrauchs bei Kindern mit Down-Syndrom (bis auf wenige Ausnahmen) über eine deutlich längere Zeit (Caselli et al. 1998). Dass Kinder mit Down-Syndrom Gesten einfacher zu lernen scheinen als Wörter, lässt sich durch die bessere Anschaulichkeit von Gesten erklären, so dass die Zuord- 82 Maren Aktas˛ FI 2/ 2006 nung und das Behalten von Symbol und Referent leichter gelingt. Versucht man nämlich, Kinder mit Down-Syndrom völlig arbiträre Gesten zu lehren, lernen sie diese nicht schneller als Wörter. Mit Beginn der dritten Phase des Impliziten Sprachwissens werden die Gesten und Vokalisationen schrittweise durch die entsprechenden Wörter ersetzt. Ein zentraler Meilenstein der Sprachentwicklung ist erreicht, wenn das Kind über einen produktiven Wortschatz von etwa 50 Wörtern verfügt, da damit der beschleunigte Worterwerb eingeläutet wird und die Kinder etwa zeitgleich beginnen, Wörter zu kombinieren (vgl. Grimm 2003). Kinder mit Down-Syndrom sprechen die ersten Wörter im Vergleich zu ihrem CA zumeist deutlich verspätet, wobei die Varianz jedoch enorm ist. So wird sowohl von Kindern mit Down-Syndrom berichtet, die mit 8 Monaten (CA) die ersten Wörter sprachen (Berry, Gunn, Andrews & Price 1981) als auch von solchen, die mit 9 Jahren (CA) noch kein einziges Wort produzierten (Fowler 1993). Der Übergang zu ersten Sätzen gelingt, wenn ein Kind ein ausreichend umfangreiches Repertoire an sprachlichem Wissen abgespeichert hat, um die der Sprache zugrunde liegenden Regularitäten ableiten zu können (Grimm 2003). Die wenigen Studien zum Übergang von Einwortzu Mehrwortäußerungen bei Kindern mit Down-Syndrom wei- FI 2/ 2006 Standardisierte Sprachtests bei Kindern mit geistiger Behinderung 83 Abbildung 2: Das Modell der rekurrenten Repräsentationsveränderungen: Vom vorsymbolischen Handeln zum expliziten Sprachwissen 84 Maren Aktas˛ FI 2/ 2006 * Subtests in eckigen Klammern müssen in der jeweiligen Gruppe qualitativ ausgewertet werden. Abbildung 3: Der diagnostische Leitfaden sen darauf hin, dass auch bei ihnen eine Wortschatzgröße von etwa 50 Wörtern den Übergang zu Wortkombinationen markiert (Oliver & Buckley 1994). Ab etwa drei Jahren werden die Sätze üblicherweise länger und grammatikalisch reichhaltiger. Das Kind baut morphologisches und syntaktisches Regelwissen auf und erweitert es kontinuierlich. Der Eintritt in die vierte Phase des Expliziten Sprachwissens erfolgt schließlich, wenn ein Kind mit etwa fünf Jahren erfolgreich sprachlich kommuniziert und über das notwendige formal-grammatische Regelwissen verfügt. Das Kind beginnt nun, zunehmend bewusst auf sein sprachliches Regelwissen zuzugreifen und über sein Sprachwissen zu reflektieren, d. h. es kann ab diesem Zeitpunkt grammatische Regeln nicht nur anwenden, sondern Sprachregularitäten auch erklären. Viele Kinder mit Down-Syndrom bleiben jedoch im Verlauf ihrer Sprachentwicklung auf einem niedrigen Niveau grammatischen Regelwissens stehen und erreichen die Phase des expliziten Sprachwissens nicht (vgl. Fowler 1990). Der diagnostische Leitfaden In der diagnostischen Praxis ist es gerade bei Kindern mit starken Entwicklungsverzögerungen oft nicht einfach zu entscheiden, welche Untersuchungsverfahren im Einzelfall auszuwählen sind, um die tatsächlichen sprachlichen Kompetenzen einzuschätzen. Der hier vorgestellte Leitfaden, der auf den Daten der 28 untersuchten Kinder basiert, gibt dem Diagnostiker daher Kriterien an die Hand, welche Aufgaben in welcher Reihenfolge geeignet sind, um ein Kind weder zu übernoch zu unterfordern und gleichzeitig in kurzer Zeit möglichst viele Informationen zu erhalten. Wie Abbildung 3 zu entnehmen ist, kommt dem produktiven Wortschatz im diagnostischen Leitfaden eine zentrale Bedeutung als Ausgangsbasis für die Definition von drei Subgruppen zu. Der produktive Wortschatz als Einstiegsvariable Die Vorrangstellung des produktiven Wortschatzes - im Vergleich zum CA oder MA, die üblicherweise als Orientierungspunkt zur Einschätzung des Anforderungsniveaus dienen - ist sowohl empirisch als auch theoretisch begründet: In zahlreichen Untersuchungen zeigte sich, dass die allgemeine kognitive und die sprachliche Entwicklung bei Kindern mit Down-Syndrom nicht unbedingt parallel fortschreiten. Selbst Kinder mit vergleichbarem MA weisen mitunter sehr unterschiedliche sprachliche Fähigkeiten auf. In der hier untersuchten Stichprobe korreliert das MA zwar erwartungsgemäß numerisch höher (r = .45 - .80) als das CA (r = .23 - .65) mit den sprachlichen Fähigkeiten der Kinder (vgl. Tabelle 1), im Einzelfall sind die sprachlichen Fähigkeiten bei vielen Kindern jedoch deutlich niedriger einzuschätzen, als ihrem nonverbalen MA nach zu erwarten wäre (Aktas ˛ 2004). Der produktive Wortschatz hingegen, der sowohl über Elternauskunft als auch in direktem Kontakt mit dem Kind erhoben wurde, hängt mindestens ebenso gut, sogar etwas konsistenter als das MA, mit den sprachlichen Leistungen des Kindes zusammen (r = .50 - .90). Auch im Meilensteinmodell des Spracherwerbs erfüllt die Wortschatzgröße - besonders in den frühen Phasen - eine wichtige Indikatorfunktion. So läutet ein produktiver Wortschatz von etwa 50 Wörtern den Wortschatzspurt ein, der wiederum die Basis für die Satzbildung und den Regelerwerb legt. Dieser Zusammenhang scheint auch bei Kindern mit Down-Syndrom zu gelten: Alle untersuchten Kinder mit einem Wortschatz < 50 (n = 6) kombinierten zuverlässig noch keine Wörter, alle Kinder mit einem Wortschatz > 70 (n = 18) hingegen schon. Im Übergangsbereich zwischen 50 und 70 befanden sich vier Kinder, von denen zwei bereits Wörter kombinierten und die anderen beiden nach Angaben der Mütter „eben gerade damit begannen“ (vgl. auch Oliver & Buckley 1994). FI 2/ 2006 Standardisierte Sprachtests bei Kindern mit geistiger Behinderung 85 Der diagnostische Leitfaden Praktisch sieht der in Abbildung 3 dargestellte diagnostische Fahrplan daher vor, dass in einem ersten Schritt mit jedem Kind der Wortschatztest „Produktion I: Wörter“ (SETK- 2) durchgeführt wird. Der Testrohwert von 20 Wörtern trennt dabei Leistungen, die unter bzw. mindestens im Normbereich normal entwickelter zweieinhalbjähriger Kinder liegen. Im zweiten Schritt werden die Eltern der Kinder aus der ersten Gruppe (< 20 Wörter) gebeten, die ELFRA-2-Skala „Produktiver Wortschatz“ auszufüllen und die Frage nach dem Vorliegen von Wortkombinationen (sog. Passierfrage) zu beantworten, so dass eine weitere Aufteilung dieser Teilstichprobe nach dem Kriterium „Wortschatz < 50 Wörter und/ - oder keine Wortkombinationen“ vorgenommen werden kann. Somit werden drei Einstiegsgruppen definiert: (1) die überwiegend noch vorsprachlich kommunizierenden Kinder haben die kritische Wortschatzmarke von 50 Wörtern noch nicht überschritten und/ oder bilden noch keine Wortkombinationen. Die meisten dieser Kinder kommunizieren zwar bereits recht erfolgreich mit nonverbalen Symbolen, stehen aber noch ganz am Anfang der verbal-sprachlichen Entwicklung, d. h. sie sind noch nicht sicher in die Phase des Impliziten Sprachwissens eingetreten. 86 Maren Aktas˛ FI 2/ 2006 Alter Prod. WS CA MA ELFRA SETK 2 Elternfragebögen für die Früherkennung von Risikokindern (ELFRA) ELFRA-1: Rezeptiver Wortschatz (n = 27 - 28) .23 .45* .70*** .64*** ELFRA-2: Produktiver Wortschatz (n = 27 - 28) .38* .69*** .- .92*** ELFRA-2: Syntax (n = 27 - 28) .48* .77*** .90*** .82*** ELFRA-2: Morphologie (n = 27 - 28) .53** .74*** .87*** .81*** Sprachentwicklungstest für zweijährige Kinder (SETK-2) SETK-2: Verstehen I: Wörter (n = 27 - 28) .23 .53** .76*** .79*** SETK-2: Verstehen II: Sätze (n = 26 - 27) .50** .74*** .75*** .76*** SETK-2: Produktion I: Wörter (n = 27 - 28) .41* .66*** .92*** .- SETK-2: Produktion II: Sätze (n = 26 - 27) .39* .74*** .86*** .86*** Sprachentwicklungstest für dreibis fünfjährige Kinder (SETK 3-5) SETK-3: Verstehen Sätze (n = 22 - 23) .65** .80*** .67*** .74*** SETK-3: Enkodierung semantischer Relationen (n = 26 - 27) .34 .69*** .79*** .79*** SETK-3: Morphologische Regelbildung (n = 12) .40 .79*** .50 # .58* SETK 4-5: Verstehen Sätze (n = 22 - 23) .41 .84*** .52* .58** SETK 4-5: Satzgedächtnis (n = 12) .33 .66* .67* .78** SETK-DS: Phonologisches Arbeitsgedächtnis für Nichtwörter (n = 23 - 24) .38 .54** .72*** .71*** Tabelle 1: Pearson-Korrelationen der Fragebogenskalen und Sprachsubtests mit dem CA und MA der Kinder (in Monaten) sowie den Maßen des produktiven Wortschatzes (ELFRA-2: Produktiver Wortschatz; SETK-2: Produktion I: Wörter) Anmerkungen: # p < .10; * p < .05; ** p <. 01; *** p < .001 (2) Die beginnend sprachlich kommunizierenden Kinder verfügen über einen Wortschatz von mehr als 50 Wörtern, kombinieren Wörter und liegen laut Wortschatztest etwa auf dem Niveau normal entwickelter zweibis zweieinhalbjähriger Kinder. Damit verfügen diese Kinder dem Modell entsprechend über Implizites Sprachwissen. (3) Die verbal-sprachlich kommunizierenden Kinder zeigen im Wortschatztest Leistungen, die über denen normal entwickelter zweieinhalbjähriger Kinder liegen. Damit sollten sie in der Lage sein, erste Sätze zu sprechen. D. h. diese Kinder haben begonnen, ihr grammatisches Regelwissen auf- und auszubauen. Je nachdem, zu welcher Gruppe ein Kind auf diese Weise zugeordnet wird, muss die weitere Diagnostik nun optimal auf sein kommunikatives bzw. sprachliches Entwicklungsniveau abgestimmt werden. Im Leitfaden sind daher für jede Gruppe jene Elternfragebogenskalen und Sprachtestaufgaben zusammengestellt worden, die die aktuell im Zentrum der Entwicklung stehenden mentalen Veränderungen abbilden können (vgl. Abb. 3): Bei den überwiegend vorsprachlich kommunizierenden Kindern (Gruppe 1) werden folglich zunächst das Sprachverständnis und der Einsatz von Gesten und Lauten betrachtet. Das Verstehen einzelner Wörter wird sowohl über den Elternfragebogen erfasst (Skala „Rezeptiver Wortschatz“ aus ELFRA-1) als auch in direktem Kontakt mit dem Kind überprüft („Verstehen I: Wörter“ aus dem SETK- 2). Das Verstehen einfacher Sätze wird über die kombinierte Version des Subtests „Verstehen von Sätzen“ (SETK-DS) untersucht. Weiterhin geben die Eltern in den Skalen „Produktion von Lauten und Sprache“ und „Gesten“ (ELFRA-2) Auskunft über die vorsprachlichen kommunikativen Kompetenzen ihrer Kinder. Schließlich ist bei diesen Kindern die Reanalyse des im ersten Schritt durchgeführten Tests „Produktion I: Wörter“ sinnvoll, weil die Reaktionen des Kindes auf die Benennaufforderung aufschlussreiche Informationen darüber liefern, ob das Kind beispielsweise Gesten und Blicke einsetzen kann, um sich mitzuteilen, und ob es die Bedeutung von Symbolen entschlüsselt hat. Zusätzlich kann der Subtest „Phonologisches Arbeitsgedächtnis für Nichtwörter“ genutzt werden, um auf spielerische Weise einen Eindruck von den Vokalisationen und den Artikulationsfähigkeiten eines Kindes zu erhalten. Bei den beginnend sprachlich kommunizierenden Kindern (Gruppe 2) werden dieselben Verstehensaufgaben durchgeführt wie in der ersten Gruppe und die Eltern werden ebenfalls zu den vorsprachlichen kommunikativen Fähigkeiten ihrer Kinder befragt („Produktion von Lauten und Sprache“ und „Gesten“). Nicht mehr erfragt wird hingegen der „rezeptive Wortschatz“ (ELFRA-1), da auf dieser Entwicklungsstufe fast ausnahmslos alle Kinder alle Wörter der Liste verstehen. Stattdessen verschiebt sich in dieser Gruppe der diagnostische Schwerpunkt auf die sprachproduktiven Fähigkeiten der Kinder. So werden die Eltern nun gebeten, die Skalen „Syntax“ und „Morphologie“ (ELFRA-2) auszufüllen und die Kinder werden mit dem Subtest „Produktion von Sätzen“ (SETK-DS) untersucht. Darin werden die Kinder mit bunten Bildkarten ermuntert, sprachlich mit der Untersucherin zu kommunizieren. Dieser Subtest ist ebenfalls gut geeignet, um die gesamte Breite der kommunikativen Möglichkeiten eines Kindes (Blickverhalten, Gesten, Vokalisationen, Wörter) zu beobachten. Videoaufzeichnungen der Testsituation sind hier für nachträgliche Analysen hilfreich. Bei den verbal-sprachlich kommunizierenden Kindern (Gruppe 3) kann schließlich auf die Erfassung des Wortschatzes per direkter Testung komplett verzichtet werden. Bei diesen Kindern muss vielmehr das vorhandene implizite sprachliche Regelwissen genauer analysiert werden. Deshalb werden den Eltern die Skalen „Syntax“ und „Mor- FI 2/ 2006 Standardisierte Sprachtests bei Kindern mit geistiger Behinderung 87 phologie“ (ELFRA-2) vorgelegt. Die Skala „Produktiver Wortschatz“ (ELFRA-2) sollte ebenfalls ausgefüllt werden, da in dieser Wortschatzliste auch grammatische Funktionswörter enthalten sind. Mit den Kindern werden jene Subtests durchgeführt, die auf Satzebene ansetzen („Verstehen von Sätzen“ und „Produktion von Sätzen“ in der kombinierten Down-Syndrom-Version). Auch kann ab dieser Entwicklungsphase das „Phonologische Arbeitsgedächtnis für Nichtwörter“ überprüft werden. Inwieweit es sinnvoll ist, die anspruchsvolleren Aufgaben zur „Morphologischen Regelbildung“ und zum „Satzgedächtnis“ vorzugeben, ist im Einzelfall zu entscheiden. Ein Versuch sollte auf jeden Fall bei jedem Kind gemacht werden, da es durchaus Kinder mit Down-Syndrom gibt, die über unerwartet gute (z. T. dem CA entsprechende) Sprachgedächtnisleistungen verfügen (Aktas ˛ 2004, Rondal 1998). Die Testauswertung Das zweite wesentliche Merkmal des vorgeschlagenen diagnostischen Konzeptes ist die mehrstufige Datenauswertung und -interpretation. Bei der normorientierten Auswertung wird streng nach den Richtlinien des jeweiligen Verfahrens vorgegangen, d. h. für jeden Subtest wird eine Rohwertsumme bestimmt. Dann wird jener Altersbereich aus den Normtabellen herausgesucht, zu dem der Rohwert des Kindes einem Normwert mindestens im Normalbereich (Kriterium: T > 40) entsprechen würde. Obwohl in den Sprachtests die Ermittlung eines „Sprachalters“ nicht vorgesehen ist, kann auf diese Weise der Entwicklungsrückstand grob im Vergleich zu normal entwickelten Kindern beziffert werden. So erhält man beispielsweise die Auskunft, dass die Leistungen eines sechsjährigen Kindes mit Down-Syndrom im Satzverständnistest auf dem Niveau dessen liegen, was bei einem dreieinhalbjährigen normal entwickelten Kind zu erwarten wäre. Um jedoch Rückschlüsse auf das zugrunde liegende Repräsentationsniveau ziehen zu können, muss im zweiten Schritt eine differenziertere, theoriegeleitete Analyse des Antwortverhaltens vorgenommen werden. Nur so ist zu beurteilen, über welche kommunikativen Kompetenzen, welchen Abstraktionsgrad symbolischer Repräsentationen oder über welche sprachlichen Regeln ein Kind verfügt. Am Beispiel von zwei Einzelfällen (Marie, Vp 111 und Colin, Vp 105) aus der Gruppe der überwiegend noch vorsprachlich kommunizierenden Kinder soll dieses Vorgehen demonstriert werden (für Details vgl. Aktas¸ 2004). Beide Kinder weisen nämlich bei einem identischen (normorientierten) sprachproduktiven Leistungsstand gravierende Unterschiede in ihren kommunikativen Kompetenzen auf, die erst durch die qualitativen Analysen erkennbar werden. Marie (5; 5 Jahre CA) und Colin (7; 0 Jahre CA) haben beide ein MA von 2; 3 Jahren und erhalten bei der normorientierten Auswertung der produktiven Sprachtests und Skalen fast identische Werte (vgl. Tab. 2): Beide Kinder produzieren im Test kein bzw. nur ein Wort und sprechen laut Elternauskunft auch nur 7 bzw. 12 Wörter. In ihrem Gestengebrauch und bei der Produktion von Lauten und Sprache unterscheiden sie sich in den Summenwerten ebenfalls kaum voneinander. In den tatsächlichen sprachlichen Repräsentationsfähigkeiten unterscheiden sich Marie und Colin jedoch fundamental. Fest steht, dass beide Kinder gewiss noch nicht in die Phase des Impliziten Sprachwissens eingetreten sind. Um jedoch entscheiden zu können, ob sie bereits über implizites Symbolwissen verfügen oder noch vorsymbolisch handeln, müssen die vorhandenen Testdaten inhaltlich, d. h. qualitativ, reanalysiert werden. Dabei ist bei jedem Kind zu fragen, ob es Hinweise darauf gibt, dass es Symbole wie Gesten oder differenzierende Voka-lisationen als Benennungen verwendet. Und wenn dies nicht der Fall ist, muss beobachtet werden, ob das Kind Anzeichen intentionaler Kommunikation zeigt. Der geeignete Ausgangspunkt zur Beantwortung dieser Fragen ist, wie bereits angesprochen, die qualitative Analyse des gestischen Verhaltens und des Blickverhaltens in der Testsituation bei der Bearbeitung des Subtests „Produktion I: Wörter“ des SETK-2. (Ausführliche Erläuterungen und Kodierschemata für die qualitative Auswertung der Subtests finden sich bei Aktas ˛ [2004]). 88 Maren Aktas˛ FI 2/ 2006 In den Abbildungen 4 und 5 sind die Ergebnisse dieser qualitativen Auswertung für Marie und Colin grafisch zusammengefasst: Marie produzierte nicht nur kein Wort, sondern gab auch keinen einzigen Laut von sich. Sie schaute zwar jeweils auf die vor ihr liegende Karte und zeigte häufig mit dem Finger darauf. Allerdings erfolgten diese Bewegungen eher stereotyp und nicht, um gemeinsame Aufmerksamkeit mit der Untersucherin herzustellen. Die Mutter berichtete im Fragebogen hingegen, dass sie kommunikative Gesten bei Marie schon einmal beobachtet habe. Marie scheint damit zwar prinzipiell in der Lage zu sein, intentional zu handeln, tut dieses allerdings noch nicht so stabil und häufig, dass es sich in der Untersuchungssituation gezeigt hätte. Dass Marie auch mit Symbolen noch nicht sicher umgehen kann, wird durch die Aussage der Mutter gestützt, dass Marie Wörter wie „Mama“ und „Papa“ nicht nur für ihre Eltern, sondern auch für andere Bedeutungen verwende. So sage sie „Mama“, wenn sie „Mach mal! “ meine, und „Papa“ für „Bitte! “. Außerdem antworte sie auf Fragen stets mit „Ja“, auch wenn ihre Mimik und das sonstige Verhalten das Gegenteil ausdrücken. Wörter werden von Marie damit anscheinend noch nicht als eindeutige Bezeichnungen für einen Referenten verstanden. Auch die qualitative Auswertung der Gesten im Subtest Produktion I: Wörter (SETK-2) liefert keinerlei Hinweise für das Vorliegen eines Symbolverständnisses: Marie setzt keine darstellenden Gesten ein, sondern ausschließlich einfache Zeigegesten. Damit scheint Marie - mit Blick auf die Repräsentationsphasen des entwicklungspsychologischen Modells - gerade am Beginn des Übergangs vom intentionalen, vorsymbolischen Handeln zum impliziten Symbolwissen zu stehen, d. h. sie erkennt eben erst, was Symbole sind und wie man diese einsetzen kann. Ganz anders sieht Colins Verhalten beim Wortschatztest aus: Colin kommuniziert mit Hilfe von gestischen Symbolen und vielen Lautäußerungen sehr variabel und erfolgreich. Gesten, Vokalisationen, Mimik, sogar seinen ganzen Körper setzt er erstaunlich flexibel in der Interaktion ein. Er äußert zwar zumeist einzelne Laute und nur gelegentlich Silben, dafür setzt er viele Geräusche und Tierlaute ein, mit denen er seine darstellenden Gesten begleitet. Bei dem Bild „Uhr“ des Wortschatztests „Produktion I: Wörter“ ahmt er beispielsweise das Rasseln eines Weckers nach und zeigt mit dem Finger auf der Karte an, wie ein Zeiger im Kreis wandert. Zwischendurch versichert er sich häufig über Blicke der Aufmerksamkeit der Untersucherin. Colin verfügt eindeutig über ausgeprägtes Implizites Symbolwissen. Die Kombination des standardisierten Vorgehens mit der inhaltlichen Analyse zeigt also deutlich, dass Ergebnisse, die auf den ersten Blick vergleichbar sind, mitunter auf sehr unterschiedliche zugrunde liegende Operationen zurückgehen. Erst die qualitative Analyse der standardisiert erhobenen Daten ermöglicht die entwicklungspsychologisch bedeutsame Differenzierung. Folgerungen für die Förderung Für die Förderung ergeben sich aus diesen diagnostischen Ergebnissen wichtige Konsequenzen, nämlich, dass die Interventionen bei Marie und Colin - je nach erreichter Reprä- FI 2/ 2006 Standardisierte Sprachtests bei Kindern mit geistiger Behinderung 89 Marie (111) Colin (105) 2; 3 J. MA 2; 3 J. 5; 5 J. CA 7; 0 J. Vorsprachliche Kommunikation 26 ELFRA-1: Gesten 25 9 ELFRA-1: Prod. von Lauten und Sprache 9 Produktion 7 ELFRA-2: Prod. Wortschatz 12 0 ELFRA-2: Syntax 0 0 ELFRA-2: Morphologie 0 0 SETK-2: Produktion I: Wörter 1 0 SETK-2: Produktion II: Sätze 1 Tabelle 2: Rohwerte für Kind 111 (Marie) und Kind 105 (Colin) im Vergleich sentationsebene - unterschiedlich aussehen müssen: Bei Marie ist zunächst das generelle Interesse an sozialer Interaktion zu stärken. Weil sie noch nicht sicher intentional kommuniziert, muss ihre Fähigkeit, Wünsche und Bedürfnisse gezielt mit vorsymbolischen Mitteln (z. B. Blickverhalten, Zeigegesten) mitzuteilen, gefördert werden. Darauf aufbauend können dann erste symbolische Kommunikationsformen angebahnt werden, wobei zunächst Symbole mit einem geringeren Abstraktionsgrad als Gesten oder Wörter für Marie geeignet sind (z. B. Miniaturobjekte, Fotos, Bildkarten). Über das Spielen und Experimentieren mit Lauten und Geräuschen kann die spontane Lautproduktion angeregt werden. Das Erlernen neuer Wörter stellt bei Marie hingegen aus entwicklungspsychologischer Perspektive erst das übernächste Ziel dar. Colin hingegen kommuniziert sowieso spontan und verwendet auch viele Symbole intentional. Damit operiert er eindeutig auf der Ebene des Impliziten Symbolwissens. Allerdings fällt es ihm sehr schwer, Laute zu bilden, was ihm den Einstieg in die verbale Kommunikation erheblich erschwert. Da bekannt ist, dass gestische Symbole den Gebrauch sprachlicher Symbole vorbereiten und erleichtern können (Launonen 1996, 1998) und zunächst die Kommunikation mit seinen Bezugspersonen sichergestellt sein muss, steht bei Colin die Erweiterung seines Gestenrepertoires im Vordergrund. Daneben sollte er darin unterstützt werden, zunehmend variable und mehrsilbige Vokalisationen zu produzieren. Fazit Eine standardisierte testpsychologische Untersuchung des Sprachentwicklungsstandes ist mit einem relativ geringen Zeitaufwand (Testdauer ca. 30 bis 45 Min.) auch bei geistig behinderten Kindern möglich, wenn ein adaptives diagnostisches Vorgehen verfolgt 90 Maren Aktas˛ FI 2/ 2006 Abbildung 4: Ergebnisse der qualitativen Auswertung des Subtests Produktion I: Wörter (Marie, Vp 111) Abbildung 5: Ergebnisse der qualitativen Auswertung des Subtests Produktion I: Wörter (Colin, Vp 105) wird, die quantitative Auswertung der Testergebnisse durch eine theoriegeleitete qualitative Analyse des Verhaltens des Kindes ergänzt wird und Beobachtungen der Eltern in standardisierter Weise erfasst und mit genutzt werden. Eine solche Untersuchung ermöglicht sowohl eine fundierte Einschätzung des kommunikativen Niveaus, auf dem ein Kind operiert, als auch die Gewinnung förderrelevanter Aussagen über seine sprachlichen Fähigkeiten. Literatur Aktas˛, M. 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