eJournals Frühförderung interdisziplinär 25/2

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
41
2006
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Feinfühligkeitstraining und interaktionsorientierte Eltern-Kind-Interventionen in der Frühgeborenen-Nachsorge

41
2006
Kai Brüggemann
Interaktionsorientierte Interventionen bei Frühgeborenen und ihren Eltern werden vorgestellt wie z. B. das auf der Bindungstheorie beruhende Feinfühligkeitstraining. Theoretische Überlegungen und empirische Befunde aus der Literatur hierzu werden referiert. Es zeigt sich unter anderem, dass unter den bindungsorientierten Frühfördermaßnahmen das Feinfühligkeitstraining im Vergleich zu repräsentanzen-bezogenen Maßnahmen deutlich häufiger untersucht ist, dass aber in Bezug auf die Frühgeborenen-Nachsorge noch erheblicher Forschungsbedarf besteht. Aufgrund der bisher vorliegenden Ergebnisse werden Anwendungshinweise für bindungsorientierte Frühfördermaßnahmen entwickelt.
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Mutter-Kind-Beziehung und Frühgeburtlichkeit In der Frühgeborenen-Nachsorge ist neben den neurologischen Kontrollen und der Entwicklungsdiagnostik eine Einschätzung der Eltern-Kind-Beziehung zu berücksichtigen (Sarimski, 2000). Die Mutter-Kind-Interaktion 1 ist ein wichtiges Therapieziel, da man weitere Frühfördermaßnahmen umso erfolgreicher implementieren kann, je besser diese Beziehung organisiert ist. Die unerwartet frühe Geburt, die - je nach Gestationsalter des Frühgeborenen verschieden lange - Trennung von den Eltern aufgrund intensivmedizinischer Versorgung, die Sorge um Entwicklung und Gesundheit des Kindes können die Beziehungsentwicklung auf Seiten der Eltern gefährden. Die höhere Irritierbarkeit, die anfälligere Emotionsregulation und ein schwierigeres Temperament frühgeborener Säuglinge stellen kindbezogene Risiken der Beziehungsentwicklung dar (Gutbrod & Wolke 2003). Eine Möglichkeit zur Beurteilung der Qualität der Mutter-Kind-Beziehung bietet die Bindungsdiagnostik, u. a. indem man die sog. mütterliche Feinfühligkeit erfasst. Feinfühligkeit nach Mary Ainsworth (1977) umfasst die unverzerrte Wahrnehmung kindlicher Signale durch die Eltern, deren richtige Interpretation sowie deren angemessene und prompte Reaktion darauf. Dies wird mit einer 9-Punkte-Skala (Ainsworth, Bell & Stayton 1974; Ainsworth, 1977) im (korrigierten) Alter von ca. 3 Monaten gemessen. Die Skala enthält die Aspekte - Zugänglichkeit der Mutter für kindliche Signale - Perspektivenübernahme/ Einfühlungsvermögen in die Lage des Kindes Feinfühligkeitstraining und interaktionsorientierte Eltern-Kind-Interventionen in der Frühgeborenen-Nachsorge Eine Übersicht KAI BRÜGGEMANN Zusammenfassung: Interaktionsorientierte Interventionen bei Frühgeborenen und ihren Eltern werden vorgestellt wie z. B. das auf der Bindungstheorie beruhende Feinfühligkeitstraining. Theoretische Überlegungen und empirische Befunde aus der Literatur hierzu werden referiert. Es zeigt sich unter anderem, dass unter den bindungsorientierten Frühfördermaßnahmen das Feinfühligkeitstraining im Vergleich zu repräsentanzen-bezogenen Maßnahmen deutlich häufiger untersucht ist, dass aber in Bezug auf die Frühgeborenen-Nachsorge noch erheblicher Forschungsbedarf besteht. Aufgrund der bisher vorliegenden Ergebnisse werden Anwendungshinweise für bindungsorientierte Frühfördermaßnahmen entwickelt. Schlüsselwörter: Frühgeborenen-Nachsorge, Feinfühligkeitstraining, Evaluation Sensitivity Training and Interaction-Oriented Interventions in Premature Infants’ Aftercare Summary: Interaction-oriented interventions with premature infants and their parents are presented, in particular the sensitivity training which is based on attachment theory. Theoretical considerations and empirical evidence are reviewed. Regarding attachment-based early interventions, there are more studies on sensitivity trainings than on representational approaches, yet referring to premature infant aftercare further empirical evidence is needed. Summing up actual results, hints for clinical use of attachment-based early interventions are developed. Keywords: Premature infant aftercare, sensitivity training, evaluation Frühförderung interdisziplinär, 25. Jg., S. 92 -99 (2006) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel - Kontingenz im Reagieren auf diese Signale Dieses Vorgehen hat zwei Vorteile: Erstens kann man damit einen Hinweis auf die weitere Bindungsentwicklung, z. B. die Mutter- Kind-Bindung mit etwa 1 - 1 1 ⁄ 2 Jahren bekommen. Diese wiederum sagt etwas Wesentliches über die weitere soziale Entwicklung des Kindes aus. Zweitens kann man damit feststellen, ob und wenn ja was in der Mutter- Kind-Beziehung zu behandeln ist. Dazu wird ein Feinfühligkeitstraining durchgeführt. Es handelt sich dabei um eine Frühfördermaßnahme mit dem Ziel, die Interaktion der Mutter mit dem Kind in Alltagssituationen (Wickeln, Füttern, Baden, Spielen) zu optimieren. Diese werden videografiert und anschließend mit der Mutter besprochen. Dabei geht man davon aus, dass die Mutter durch das unmittelbare Ansehen eine besonders schnelle Einsicht erhält in Zusammenhänge zwischen eigenem Verhalten und Reaktionen des Kindes (sog. Prinzip des „seeing is believing“). Eine Grundvoraussetzung hierbei ist eine wertschätzende Haltung gegenüber der Mutter sowie die Anerkennung ihrer bisherigen Lösungsversuche in der Interaktion mit dem Kind. Um eine Perspektivenübernahme des Kindes durch die Mutter und somit eine höhere mütterliche Feinfühligkeit zu erreichen, wird in der gemeinsamen Videobetrachtung zunächst an gelungene Mutter- Kind-Episoden angeknüpft. Von da ausgehend wird versucht, bei der Mutter eine Neu-Interpretation von Verhaltensweisen ihres Kindes anzuregen in Episoden, in denen wenig oder kein feinfühliges mütterliches Verhalten beobachtet wurde. Dieses Verfahren ist in US-amerikanischen Studien gut erforscht (Erickson & Kurz-Riemer, 1999). Randomisierte Studien mit Kontrollgruppen zum Feinfühligkeitstraining an deutschen Stichproben wurden bisher von Ziegenhain, Wijnroks, Derksen und Dreisörner (1999) bei reifgeborenen Kindern jugendlicher Mütter und von Brisch, Bechinger, Betzler und Heinemann (2003) bei extrem Frühgeborenen durchgeführt. Als Erfolgsmaß des Trainings bei Brisch et al. (2003) diente die mit dem Fremde-Situations-Test erfasste Bindung des Kindes im (korrigierten) Alter von 14 Monaten. Daneben gibt es noch viele andere Frühförderprogramme, die in Eltern-Kind-Interaktionen auf Rhythmizität, Synchronizität, Qualität und Ausmaß der Stimulation, Responsivität, Sensitivität, Kontingenz etc. fokussieren, ohne die Bindungsentwicklung zu untersuchen (Übersicht vgl. Bakermans-Kranenburg, van Ijzendoorn & Juffer 2003). Das Feinfühligkeitstraining i. e. S. als ein Video- Home-Training, das sich auf die Feinfühligkeit von Ainsworth bezieht, ist bei Frühgeborenen bisher von Brisch et al. (2003) empirisch untersucht worden. Mögliche Nachteile, das Feinfühligkeitstraining bei Frühgeborenen anzuwenden, ergeben sich daraus, dass noch unklar ist, ob a) bei frühgeborenen Kindern (insgesamt gesehen) überhaupt eine Gefährdung der Bindungsentwicklung vorliegt, b) eher Faktoren auf Seiten der Eltern oder auf der des Kindes (v. a. der neurologische Zustand) ausschlaggebend sind und c) es einen vergleichbaren Zusammenhang zwischen elterlicher Feinfühligkeit und späterer Bindung bei Frühgeborenen gibt wie bei Reifgeborenen. a) Teilweise findet sich in der Literatur ein Zusammenhang zwischen Frühgeburtlichkeit und Bindungsunsicherheit resp. -störung, und teilweise besteht dieser Zusammenhang nicht (Buchheim, Brisch & Kächele 1999; Gutbrod & Wolke 2003): Eine Meta-Analyse von van Ijzendoorn, Goldberg, Kroonenberg und Frenkel (1992) zeigt, dass die Bindungsqualität der Frühgeborenen in den sechs analysierten Studien (1980 - 1989) insgesamt gesehen nicht bedeutsam von der bekannten Verteilung der Bindungsmuster gesunder Reifgeborener abweicht. Die meisten dieser Studien bei Frühgeborenen betreffen jedoch nach heutigen FI 2/ 2006 Frühgeborenen-Nachsorge 93 Maßstäben keine Risikogeburten (vgl. dazu Brisch et al. 2003; Gutbrod & Wolke 2003). In der Studie von Plunkett, Meisels, Stiefel, Pasick und Roloff (1986) fand sich das gleiche Ergebnis für Frühgeborene mit geringem medizinischem Risiko. Für Frühgeborene mit hohem medizinischem Risiko hingegen fanden sie deutlich mehr unsichere Bindungsmuster im Vergleich zu Reifgeborenen. Buchheim et al. (1999) sowie Gutbrod und Wolke (2003) nehmen an, dass der neurologische Gesundheitszustand bzw. das Geburtsgewicht für die Bindungsentwicklung mitbestimmend ist. Dabei sehen Gutbrod und Wolke (2003) ein schwieriges Temperament bei Frühgeborenen mit sehr niedrigem Geburtsgewicht als primär, während Brisch et al. (2003) neben neurologischen Komplikationen, die mit sehr niedrigem Geburtsgewicht einhergehen, auch mögliche Traumaerfahrungen, die bei den Eltern durch die angstbesetzte Frühgeburt reaktiviert werden, in Betracht ziehen. Gutbrod und Wolke (2003) stellen in ihrer Übersicht über mehrere Studien fest, dass man bei frühgeborenen Kindern > 1000 g, also bei eher „schweren“ Frühgeborenen, keine andere Verteilung der Bindungsmuster im Vergleich zu Reifgeborenen fand. Bei extrem Frühgeborenen hingegen finden sich teilweise mehr unsichere, v. a. unsicher-ambivalente Bindungsmuster. Dies wird in Zusammenhang mit der Angst der Eltern um das Überleben des Kindes gesehen, die im Laufe der Intensivbehandlung (z. T. mehrfach) zwischen Hoffnung und Verzweiflung pendeln kann. Eine gesicherte Aussage über die Bindungsentwicklung extrem Frühgeborener ist zum jetzigen Stand aber noch nicht möglich. b) Ob wirklich elternbezogene Probleme wie Sorgen und Ängste um die Gesundheit des Kindes oder ob kindbezogene Probleme wie exzessives Schreien und schwieriges Temperament überwiegen, ist noch unklar: Die Meta- Analyse von van Ijzendoorn et al. (1992) zeigt, dass für die Bindungsqualität weniger Probleme des Kindes ausschlaggebend sind als vielmehr Probleme der Mutter. Hingegen waren bei Risikokindern mit einem Gestationsalter von unter 32 SSW in der Bayerischen Längsschnittstudie bis zum 9. Lebensjahr der untersuchten Kinder biologische Prädiktoren aussagekräftiger als soziale Prädiktoren wie elterliche Verhaltensweisen (Wolke & Meyer 2000). In einer kontrollierten Interventionsstudie mit der wohl intensivsten Förderung (Infant Health and Development Program, IHDP) konnten keine positiven Langzeiteffekte bei Kindern mit einem Geburtsgewicht unter 2000 Gramm gefunden werden (Brooks- Gunn et al. 1994). Brisch (2004) fand bei Frühgeborenen mit extrem niedrigem Geburtsgewicht entsprechend, dass hier weniger das Bindungsmodell der Mutter als vielmehr der neurologische Status des Kindes ausschlaggebend für die Bindungsqualität ist. c) Daher ist auch unklar, ob Interventionen, die man anhand der Bindung Reifgeborener entwickelte, überhaupt den Erfordernissen der Bindungsentwicklung bei extrem Frühgeborenen entsprechen und ob die gleichen Mechanismen wie bei Reifgeborenen in der Entwicklung einer sicheren Bindung gelten, ob es also einen ähnlichen Zusammenhang zwischen Feinfühligkeit der Eltern und Bindung gibt. Elterliche Feinfühligkeit ist schon in nicht-klinischen Studien zwar signifikant, aber insgesamt gesehen nur mäßig mit der Bindung korreliert (r = .24, vgl. De Wolff & Van Ijzendoorn 1997). Dieses Ergebnis weist auf die Bedeutung von anderen Einflussfaktoren inbesondere bei der Entwicklung von Frühgeborenen hin, wie die Sorge um die Gesundheit des Kindes und die Wahrnehmung des Kindes als eine eigenständige Person (vgl. Seifer, Clark & Sameroff 1991). Sind nach der Geburt die Möglichkeiten der Beteiligung der Eltern an der Pflege auf der Station begrenzt bzw. nicht gegeben, kann dies die Wahrnehmung der Mütter stören, dass sie das Kind als ihr Kind ansehen (Bustan & Sagi 1984). Für die Bindungsentwicklung von Kindern mit besonderen somatischen Risiken können außer 94 Kai Brüggemann FI 2/ 2006 der elterlichen Bindungsrepräsentation ferner die elterlichen Bewältigungsfähigkeiten und die erfahrene soziale Unterstützung von Bedeutung sein (Brisch 2004). Gutbrod und Wolke (2003) fanden nur wenige Studien, die überhaupt den Zusammenhang von mütterlicher Feinfühligkeit und Bindung bei Frühgeborenen untersuchten. Ferner fanden Meier, Wolke, Gutbrod und Rust (2003) bei sehr früh geborenen Kindern (< 1500 g oder < 32 Wochen Gestationsalter) keinen Zusammenhang zwischen Irritabilität des Säuglings im korrigierten Alter von 3 Monaten und mütterlicher Sensitivität. Gutbrod und Wolke (2003) fassen zusammen, dass erhöhte Irritabilität der Säuglinge in Verbindung mit erhöhter Sorge der Eltern um das Kind zu geringerer Sensibilität der Eltern und damit zu unsicherer Bindung führen kann. Empirische Befunde zu feinfühligkeitsbzw. interaktionsorientierter Frühförderung Wichtige Hinweise für die Effektivität von bindungsbasierter Frühförderung gibt die Meta-Analyse von Bakermans-Kranenburg et al. (2003). Im Fokus der Interventionen in den untersuchten Studien standen entweder die Feinfühligkeit oder die sog. Repräsentanzen (Wahrnehmungen der Eltern von sich selbst und von ihrer Beziehung zum frühgeborenen Kind) der Eltern. Es zeigte sich, dass das Feinfühligkeitstraining häufiger empirisch untersucht worden ist als die repräsentanzenbezogene Interventionsform: Während nur drei der analysierten Studien den Fokus einzig auf Repräsentanzen legten, wurde 33 Mal die mütterliche Feinfühligkeit allein untersucht. Die übrigen Studien verwirklichten eine Kombination dieser Interventionsschwerpunkte. Aus ihrer Meta-Analyse leiten Bakermans-Kranenburg et al. (2003) u. a. ab, dass sich ein größerer Effekt des Feinfühligkeitsbzw. des interaktionsorientierten Ansatzes im Vergleich zu repräsentationalen Ansätzen ergibt, und dass sich allein bei den erstgenannten Trainings signifikante Therapie-Effekte zeigten. Von den 70 Studien beziehen sich 11 Studien auf die hier zu betrachtenden elternbezogenen Frühfördermaßnahmen mit Frühgeborenen, bei denen die elterliche Feinfühligkeit gemessen wurde (vgl. Tabelle) 2 . Zusammengefasst lässt sich Folgendes über diese Studien sagen: Die meisten Interventionen beginnen nach der Entlassung mit einer Nachbetreuung, die bei mehr als der Hälfte der Studien mindestens fünf Monate andauerte. Hierbei fanden erste Kontakte zwischen Therapeutin und Eltern bereits vor der Entlassung statt. Höck (1999) berichtet entsprechend, dass gerade das tägliche Miteinander auf der Station eine gute Voraussetzung für eine vertrauensvolle Beziehung nach der Entlassung im ambulanten Setting sein kann. Zudem ist eine ambulante Weiterbetreuung wichtig, um die realistische Einschätzung der Eltern mit der Entwicklung des Frühgeborenen und mit ihren eigenen Kräften begleiten zu können. Zwei der Studien legen einen Schwerpunkt der Intervention hingegen auf die stationäre Betreuung und enden mit der Entlassung (Bustan & Sagi 1984; Meyer et al. 1994). Die Sitzungsbzw. Hausbesuchsdauer der in der Meta-Analyse untersuchten Interventionen lag zwischen 45 Minuten und 2 Stunden. Nachuntersuchungen der Mutter-Kind-Interaktion erfolgten in der Regel im korrigierten Alter von drei bis fünf Monaten, teilweise auch öfter. Meyer et al. (1994) berichten nicht über eine Nachuntersuchung, Ross (1984) und Sajaniemi et al. (2001) berichten über Nachuntersuchungen nach dem ersten resp. zweiten Lebensjahr. Eine Beziehung zwischen elterlicher Feinfühligkeit (sensu Ainsworth) und Bindung des Kindes ab dem ersten Lebensjahr wurde in keiner der aufgeführten Studien untersucht. Der stark vereinfachten Darstellung in der Tabelle steht die Verschiedenartigkeit der in- FI 2/ 2006 Frühgeborenen-Nachsorge 95 96 Kai Brüggemann FI 2/ 2006 haltlichen Ausgestaltung der Mutter-Kind-Interventionen wie auch des methodischen Vorgehens der einzelnen Studien gegenüber: Auf der einen Seite fanden beispielsweise bei Field, Widmayer, Stringer und Ignatoff (1980), Ross (1984) und Kang et al. (1995) eher edukativ orientierte Elternanleitungen in Form von Spielen und Übungen statt, deren Umsetzung in der Nachbetreuungsphase mit Hausbesuchen nachvollzogen und kontrolliert wurde. Brisch et al. (2003) auf der anderen Seite setzen einen Schwerpunkt eher auf die Phase zwischen Entbindung und Entlassung in Form von Elterngruppen und Einzelpsychotherapie, da in einer Pilotstudie festgestellt worden war, dass bei vielen Eltern durch die Frühgeburt frühere Traumen reaktiviert werden könnten (Brisch, Kächele & Pohlandt 1993). Die Studien entstammen verschiedenen Stadien des medizinischen Fortschritts, so dass deren Risikokriterien nicht mehr ohne weiteres vergleichbar sind; es wurden Studien mit Frühgeborenen ohne neurologische Komplikationen verglichen mit Studien zu Frühgeborenen mit erheblichen Komplikationen oder mit Studien ohne betreffende Angaben hierzu. Schließlich sind Unterschiede in der Verteilung der Bindungsmuster v. a. durch verschiedene ethnische Zusammensetzungen der Stichproben zu bedenken (Gomille & Gloger-Tippelt 1999). Es ist schwer, den wirklichen Effekt des Feinfühligkeitstrainings bei der Behandlung Frühgeborener abzuschätzen, da - aufgrund der komplexen klinischen Situation - zumeist Kombinationsinterventionen durchgeführt wurden. Selbst bei den Studien, die sich auf den Fokus „Sn“ beschränkten, wurden meist mehrere Therapie-Elemente mit dem Feinfühligkeitstraining kombiniert (Mutter-Kind- Interaktionsanleitung in Verbindung mit einer Informationsvermittlung über Besonderheiten der Entwicklung Frühgeborener; Interviews und Sitzungen zur emotionalen Begleitung; praktische Hilfen, Vermittlung wohn- Studie Intervention: Hausbesuche? neurologische Ergebnis Dauer Art Komplikationen? Spiker et al. (1993) 1. - 3. LJ Sn, Sp ja nein teilweise Barrera et al. (1986) 1. LJ Sn, Sp ja ja s Beckwith (1988) 1. LJ Sn, Sp ja - teilweise Ross (1984) 1. LJ. Sn ja ja s Sajaniemi et al. (2001) 6. - 12. LM Sn ja nein s Kang et al. (1995) bis 5. LM Sn ja ja s Field et al. (1980) bis 4. LM Sn ja nein s Zahr (2000) bis 4./ 12. LM Sn, Sp ja nein ns Bustan & Sagi (1984) bis Entl. Sn nein nein s Meyer et al. (1994) bis Entl. Sn, R, Sp nein - s Brisch et al. (2003) 1 Tag 3 Sn, R (ja) 4 ja s Tabelle 1: Studien zu elternbezogenen Frühfördermaßnahmen mit Frühgeborenen 3 zusätzliche therapeutische Angebote während des Krankenhausaufenthalts (Elterngruppe, Psychotherapie; vgl. Brisch et al., 1996) 4 Hausbesuche fanden in der ersten Woche nach Entlassung statt, der Fokus lag dabei aber nicht auf der elterlichen Feinfühligkeit, sondern auf der Unterstützung im Umgang mit der besonderen Pflegesituation und z. T. Beatmungsgeräten. LJ/ LM = Lebensjahr/ -monat; Sn = sensitivity = Feinfühligkeitstraining; R = representation = repräsentanzen-bezogen; Sp = support = (soziale) Unterstützung; teilweise = mind. eines der feinfühligkeitsbezogenen Maße nicht signifikant; ns/ s = nicht/ signifikant; - = nicht angegeben ortnaher Hilfen). Auch ist es bei den angeführten Studien nicht möglich, zwischen spezifischen Trainingseffekten und unspezifischen Effekten, die durch eine langfristige Betreuung an sich entstanden, zu unterscheiden. Feinfühligkeitstraining in der Frühgeborenen-Nachsorge? Aus den bisherigen Studien zur feinfühligkeitsbzw. interaktionsorientierten Frühförderung bei Frühgeborenen lässt sich noch nicht beantworten, wann bei welchen Familien welche Intervention am sinnvollsten ist. Folgende Tendenzen zeichnen sich jedoch ab: Es gibt Hinweise dafür, dass allein eine Entwicklungsberatung im Sinne einer Information an die Eltern über die erschwerte Reizverarbeitung und zum Interaktionsverhalten bei Frühgeborenen (Barrera, Rosenbaum, & Cunningham 1986) oder auch eine Demonstration der Brazelton Neonatal Assessment Scale (Brazelton 1973) mit dem Kind zu mehr Sicherheit bei den Eltern führen kann. In der Meta-Analyse von Bakermans-Kranenburg et al. (2003) zeigte sich bezüglich des sozio-ökonomischen Status über die Gesamtzahl aller analysierten Studien hinweg kein Wirksamkeitsunterschied: Der feinfühligkeitsbzw. interaktionsorientierte Ansatz war sowohl bei niedrigem als auch bei mittlerem/ hohem sozio-ökonomischen Status wirksam. Für die Untergruppe der hier betrachteten Studien mit Frühgeborenen ergibt sich, dass neben der Ethnizität die mütterliche (Schul)Bildung einen starken Einfluss auf die Mutter- Kind-Interaktion ausübt (Spiker, Ferguson & Brooks-Gunn 1993). Kang et al. (1995) boten ein nach Bildungshintergrund abgestuftes Training an: Für Eltern mit niedrigerer Bildung wurde das Training erweitert um Informationen über Entwicklungsmeilensteine, Besonderheiten der motorischen Entwicklung Frühgeborener, entwicklungsangemessene Anregung, wohnortnahe Hilfsangebote und Notwendigkeit familiärer Ressourcen. Für die Passung zwischen Therapieangebot und Klient/ innen ist dies sicher ein entscheidender und zu berücksichtigender Faktor. Das Beratungskonzept für Eltern von Frühgeborenen von Sarimski (2000) sieht vor, sowohl die Eltern-Kind-Interaktion („Was wünschen Sie sich für die spielerische Interaktion mit Ihrem Baby? “) als auch die Repräsentanzen der Eltern („innere Wahrnehmung der Beziehung“) ressourcenorientiert zu beachten. Dabei spielen Fragen der Bindungsentwicklung eine untergeordnete Rolle. Vielmehr wird angenommen, dass durch die besonderen Bedingungen der Risikogeburt (organische und/ oder psychosoziale Belastungen) die intuitiven elterlichen Kompetenzen blockiert sein können. Zwei Aspekte daran sind besonders herauszuheben: Zum einen ist das Ziel der Elternberatung Frühgeborener nicht „die Rekonstruktion psychischer Strukturen wie in der psychotherapeutischen Behandlung“, sondern die Neuordnung der „repräsentationalen Welt“ und die Lösung von Blockaden der intuitiven elterlichen Kompetenzen (Sarimski 1999). Zum anderen empfiehlt Sarimski (2000), die Frühfördermaßnahmen je nach Bedarf mit Schwerpunkt auf die Eltern-Kind-Interaktion oder auf die Ebene der Repräsentanzen der Eltern anzuwenden, stets aber beide Bereiche als einander ergänzend zu beachten. Wie wichtig diese Abstimmung ist, zeigen Befunde, wonach interaktionsorientierte Maßnahmen auch negativ wirken können: Bei Afflek et al. (1989, zit. nach Sarimski 1992) waren Mütter von leicht frühgeborenen Kindern, die sich vor der Intervention nicht unsicher im Umgang mit ihren Kindern fühlten, hinterher vorübergehend verunsichert, während zu Beginn unsichere Mütter von dem Training profitierten. Bei Zahr (2000) bestand die Intervention darin, Mütter in Hochrisikofamilien (lateinamerikanische Einwanderer) in Hausbesuchen darin anzuleiten, sensibel auf das Verhalten der Kinder einzugehen und ihnen Besonderheiten der Entwicklung Frühgeborener (motorisch, mental, Temperament) näherzubringen. Obwohl die Therapeuten dabei nicht nach einem FI 2/ 2006 Frühgeborenen-Nachsorge 97 fest vorgegebenen Curriculum, sondern abgestimmt auf die Bedürfnisse der Mütter vorgingen (z. B. wurde die Mutter zu Beginn jedes Hausbesuchs gefragt, was ihr Hauptanliegen für diesen Termin sei), zeigten sich signifikant bessere Werte in der Mutter-Kind- Interaktion in der Kontrollgruppe, die an der üblichen Standardversorgung teilnahm. Unabhängig von der eher theoretischen Betrachtung der Bindungsentwicklung von Frühgeborenen ermöglicht es das Feinfühligkeitstraining, eine Brücke zwischen unmittelbarer Eltern-Kind-Interaktion und Repräsentanzen der Eltern herzustellen: Die Bedeutung „einfacher“ Verhaltensweisen des Säuglings wie Vokalisieren, Lächeln, Schreien oder Blickkontakt halten (im Gegensatz zu komplexeren Verhaltensaspekten wie Responsivität, Sensitivität etc.) in bindungsrelevanten Alltagssituationen kann für einige Eltern vor dem Hintergrund eigener Bindungserfahrungen verständlich gemacht werden, so dass ggf. eigene ungünstige Bindungserlebnisse der Eltern therapeutisch aufgefangen werden oder Bewältigungsstrategien gewürdigt werden können. Dies muss aber nicht für alle Eltern zutreffen, so dass hier ggf. andere Schwerpunkte in der Begleitung gewählt werden können (z. B. eher praktische Fragen oder Fragen der Besonderheiten der Entwicklung Frühgeborener). D. h. vom Feinfühligkeitstraining aus kann bei Bedarf auf die Vorstellungsebene der Eltern bzw. auf die Wahrnehmung von sich als Mutter/ Vater eines frühgeborenen Kindes mit den damit verbundenen möglichen Gefühlen übergeleitet werden. Mit einer entsprechenden Videotechnik kann der Untersucher darüber hinaus diagnostisch entscheidende Informationen über Kontingenz, Responsitivät, Sensitivität und komplexere Verhaltensdimensionen wie die Feinfühligkeit einer Mutter-/ Vater-Kind-Dyade gewinnen, um Therapieschwerpunkte im Hier und Jetzt zu bestimmen. In diesem Zusammenhang bietet sich auch die klinische Kommunikationsdiagnostik nach Papousˇek (1996) an. Anmerkungen 1 Im Folgenden ist der Begriff „Mutter“ gleichbedeutend mit der primären Bezugsperson zu sehen, was sich sowohl auf die Mutter wie auf den Vater beziehen kann. 2 Die Arbeit von Brisch et al. (2003) ist nicht in der Meta-Analyse von Bakermans-Kranenburg et al. (2003) enthalten. Die Studie von Tessier, Cristo, Velez, Giron, Figueroa de Calume, Ruiz-Paláez et al. (1998) wurde im Folgenden nicht berücksichtigt, da die Intervention nicht in einem primär interaktionsbezogenen Training, sondern in einer bestimmten Art des Handlings (Känguruh-Pflege) bestand. Literatur Ainsworth, M. D. S., Bell, S. M. & Stayton, D. J. (1974). Infant-mother attachment and social development. In M. P. M. Richards (Ed.), The introduction of the child into a social world, p. 99 - 135. Cambridge: University Press. Ainsworth, M. D. S. (1977). Feinfühligkeit versus Unempfindlichkeit gegenüber Signalen des Babys. In K. E. Grossmann (Hrsg.), Entwicklung der Lernfähigkeit in der sozialen Umwelt, S. 98 - 107. München: Kindler. Bakermans-Kranenburg, M. J., van Ijzendoorn, M. H. & Juffer, E. (2003). Less Is More: Meta-Analyses of Sensitivity and Attachment Interventions in Early Childhood. Psychological Bulletin, 129 (2), 195 - 215. Barrera, M. E., Rosenbaum, P. L. & Cunningham, C. E. (1986). 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