Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2006
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Sensorische Integration 1965-2005
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2006
Kristiane Kull-Sadacharam
Die ursprüngliche Theorie und Praxis der Sensorischen Integration, im Folgenden SI genannt, wurde von Dr. A. Jean Ayres entwickelt. Die sog. empirische Entwicklung, die Verknüpfung der theoretischen Überlegungen und der praktischen Anwendung fand zunächst in Kalifornien und später in ganz USA großen Anklang. In einem ihrer frühen Artikel konzentrierte sie sich auf die Bedeutung perzeptiv-motorischer Fertigkeiten und Funktionen bei Kindern. 1960 begann sie diverse Theorien zu studieren, die ihre Grundgedanken untermauern sollten.
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Wer hat die Theorie und Praxis der Sensorischen Integration entwickelt? Die ursprüngliche Theorie und Praxis der Sensorischen Integration, im Folgenden SI genannt, wurde von Dr. A. Jean Ayres entwickelt. Die sog. empirische Entwicklung, die Verknüpfung der theoretischen Überlegungen und der praktischen Anwendung fand zunächst in Kalifornien und später in ganz USA großen Anklang. In einem ihrer frühen Artikel konzentrierte sie sich auf die Bedeutung perzeptiv-motorischer Fertigkeiten und Funktionen bei Kindern. 1960 begann sie diverse Theorien zu studieren, die ihre Grundgedanken untermauern sollten. Diese stammten u. a. von Theoretikern und Wissenschaftlern, wie Sigmund Freud (Motorik und Psyche), Margret Rood (Anatomische Zusammenhänge), Alexander R. Lurija (Neuropsychologie), Ashley Montagu und Harry F. Harlow (Körperkontakt), Henry Head (Neurologie). Darüber hinaus hat Hanus Papouˇ sek (Neurobiologie und Lernen) ihre Überlegungen zur Entwicklung der Theorie und Praxis maßgeblich geprägt. Jean Ayres vertiefte ihre Erkenntnisse am Institut für Mentale Gesundheit, am Hirnforschungsinstitut wie auch am Zentrum für Kindsentwicklung an der Universität Südkalifornien. Es folgten Publikationen wie „Lernstörungen“, „Bausteine der kindlichen Entwicklung“, „Südkalifornischer Sensorisch-Integrativer Test-SCSIT, Sensorisch-Integrativer Praxie-Test-SIPT“. Ihr Leben lang konzentrierte sich Ayres in ihrer Tätigkeit als Ergotherapeutin und Psychologin darauf, wie Kinder mit Behinderungen sensorische Eindrücke verarbeiten und wie sie diese Eindrücke umsetzen, um notwendige Strategien für geforderte Alltagsverrichtungen wie z. B. schulisches Lernen, zu ermöglichen. Daraus folgt das Erarbeiten sozioemotionalen Verhaltens bzw. Stabilität. Eine zweite Generation von Forschern wie Lucy Miller, Sharon Cermak, Winnie Dunn, Moya Kinneally und Helen Polatajko sowie Charlotte Royeen, die alle Ergotherapeuten sind, setzen die wissenschaftliche Untermauerung der Theorie fort. Wer profitiert von der SI-Therapie? SI ist eine Theorie, die sich auf Erklärungsmodelle beruft, wie das Gehirn sensorische Informationen verarbeitet und organisiert, um „reibungslose Handlungen“ für Anforderungen des täglichen Lebens hervorbringen zu können. Als Ayres an ihren Theorien und Forschungen arbeitete, bot der Staat Kalifornien öffentliche, finanzielle Mittel zur Untersuchung von Kindern mit Lernbehinderungen und Schwächen an. Aus diesem Grund folgten viele ihrer Arbeiten zu diesem Thema. In ihren Schriften über Autismus wird deutlich, dass Ayres’ Interesse in der Sensorischen Integration im Zusammenhang mit sozio-emotionaler Verarbeitung lag. Therapiekonzepte auf den Punkt gebracht Sensorische Integration 1965 - 2005 Eine Zusammenfassung KRISTIANE KULL-SADACHARAM Frühförderung interdisziplinär, 25. Jg., S. 100 -102 (2006) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Ich selbst habe sie während meines postgraduierten Studiums an der Universität Südkalifornien in der Praxis erlebt, wie sie einen kleinen Jungen evaluierte und diesen Jungen uns Studenten als sog. „limbisches“ Kind vorstellte. Letztendlich wurde eine Studie von Dr. Diane Parham durchgeführt, die anhand des Sensorischen Integrations- und Praxis- Tests (SIPT) nachweisen konnte, dass die SI- Therapie diesen Kindern zu verbesserten Interaktionen mit der Umwelt und somit emotionaler Kontrolle verhalf. Was hat sich in der SI-Theorie von 1965 bis heute 2005 verändert? Es ist anzunehmen, dass die Veränderung der SI-Theorie mit der wachsenden Anzahl von Kindern mit Lernbehinderungen, Kindern mit Autismus, Asperger Syndrom, oder autistischem Verhalten, Kindern mit Cerebralparese einherging. Die Notwendigkeit von SI wird daran deutlich, wie das Individuum sensorische Informationen aufnimmt, nutzt und organisiert, bis hin zur sog. sensorischen Modulation (Hyperversus Hyporeagibilität). Diese Modulationsstörungen werden derzeit von vielen Forschern und Praktikern untersucht. Bislang sprach man von z. B. „taktiler Abwehr“ - heute spricht man von „sensorischer Abwehr“ bzw. von „sensorischer Modulationsstörung“. Was ist die Auswirkung der SI-Therapie? Ein Kind, das im Laufe seiner Entwicklung spielerisch eine ihm entsprechende Körper- und Raumwahrnehmung entwickeln kann, wird wahrscheinlich in seinem Handeln und Lernen wenig auffällig sein. Dies bedeutet, das Kind lernt Sinnesempfindungen - Berührung, Gleichgewicht, Orientierungssinn, Tiefenwahrnehmung, Sehen, Hören, Geruch und Geschmack - im Alltagshandeln neurologisch angemessen zu ordnen und zu verarbeiten (= Sensorische Integration - Sensorische Prozesse). Hiermit entwickelt es eine innere, ständig wachsende, geistig-körperliche Basis für sein Handeln und Lernen. Kann nun ein Kind von sich aus - in seiner Umgebung - diese innere Ordnung nicht herstellen, wird es in seinem Handeln und Lernen mit großer Wahrscheinlichkeit auffällig werden. Theoretisch gesprochen ist die Auswirkung der Therapie eine Verbesserung bzw. Verfeinerung des Zusammenspiels im Zentralnervensystem. Dies äußert sich in der Folge in verbesserter Organisation von sensorischen Einflüssen und ermöglicht somit, Fähigkeiten bzw. Fertigkeiten und Anteilnahme am täglichen Leben in schulischen Leistungen, wie auch in sozio-emotionalen Anforderungen auf einen besseren Stand zu bringen. Was ist die Rolle der Eltern und der Kinder in der Therapie? Die Rolle des Kindes ist es, sich aktiv zu betätigen, aufzunehmen und zu verarbeiten. Es erfordert viel Erfahrung, aber auch fundiertes Wissen der ErgotherapeutIn, dem Kind die notwendige Herausforderung abzuverlangen, und dies muss darüber hinaus mit Freude geschehen. Dies ist neurologisch begründbar und wurde schon 1970 durch Studien von Prof. Hanus Papousˇek nachgewiesen. Dieses Lernen in positiver Atmosphäre hat große Bedeutung im Säuglingsalter, bis hin zum Schulalter. Die Beteiligung der Eltern ist wünschenswert, jedoch muss sich dies immer aus den Begebenheiten heraus ergeben. Säuglinge und Kinder mit sensorischen Verarbeitungsproblemen können sehr gravierende interaktionelle Einflüsse auf die Eltern-Kind-Beziehung nehmen. Negative gegenseitige Einflüsse müssen zunächst erkannt und dann unterbrochen werden. So ist es für die betroffenen Eltern oft hilfreich, den/ die TherapeutIn zu beobachten, wie und wann er/ sie das Kind fordert. Hier ist es besonders wichtig, Abwehrverhalten des Kindes zu vermeiden, FI 2/ 2006 Sensorische Integration 1965 - 2005 101 da dies zu Lerndefiziten führen kann. Behandlungsziele werden schriftlich fixiert und mit den Eltern besprochen. Bei Kindern älter als drei Jahre beobachten die Eltern die therapeutische Intervention hinter einer sog. Einwegscheibe. Dies ermöglicht „gewachsene Strukturen“ aufzulösen, um gemeinsam (Eltern, Kind, TherapeutIn), neue entwicklungsfördernde Wege zu finden. Der klassisch ausgestattete Behandlungsraum für SI soll es dem Kind ermöglichen, seine Erfahrungen mit einer/ m ausgebildeten TherapeutIn so intensiv wie möglich zu festigen, um diese Erfahrungen im häuslichen Alltag umzusetzen. Was ist der Beweis der SI-Theorie? Julie Bissel, 2004, nennt SI die am meisten untersuchte Therapieform und damit federführend in der Pädiatrie. Darüber hinaus bietet die SI-Theorie grundlegende Strukturen in der Ergotherapie wie auch in der Physiotherapie. Insgesamt zeigen diverse Forschungsergebnisse, dass die Neuroplastizität mit einer „reicheren Umgebung“ korreliert und diese Erkenntnisse die Theorie der SI sehr unterstützen. Hier einige Literaturhinweise bezogen auf die Effektivität der SI: American Occupational Therapy Association. 2003. Statement: Applying sensory integration framework in educationally related occupational therapy practice. American Journal of Occupational Therapy, 57, 652 - 659. Eide, F. 2003. Sensory integration: Current concepts and practical implications. Sensory Integration Special Interest Section Quarterly, 26(3), 1 - 3. Mulligan, S. 2003. Examination the evidence for occupational therapy using a sensory integration framework with children: Part two. Sensory Integration Special Interest Section Quartely, 26 (2), 1 - 3. Was sagen Kritiker über SI-Therapie? Die größte Kritik an der SI-Therapie ist, dass randomisierte, kontrollierte Studien, bezogen auf Behandlungsergebnisse, fehlen. Allerdings lässt sich diese Aussage auch auf andere medizinisch/ therapeutische Maßnahmen übertragen. Wo kann man SI-Therapie lernen? Jean Ayres selbst sagte immer wieder, dass die SI- Therapie niemals nur theoretisch-fundiert erworben werden kann. Selbstverständlich sind Literaturstudien absolut notwendig. Allerdings lernen wir die praktische Umsetzung nur mit und an den Kindern. Ayres hat einen Intensivkurs etabliert mit praktischen und theoretischen Anteilen. Dieses Konzept wurde erstmals 1989 am Kinderzentrum etabliert und durchgeführt. Seitdem organisiert die Gesellschaft für Sensorische Integration Deutschland und International e.V. (GSID ® ) regelmäßig Kurse und Symposien mit u. a. amerikanischen Kollegen/ Innen, zu Themen wie z. B. SI und Cerebralparese, SI und Autismus, SI und Wahrnehmung. Insgesamt organisieren viele Anbieter SI- Therapie-Kurse. Es ist jedoch ratsam, sich vorab gut zu informieren, welche Inhalte gelehrt werden bzw. welche Qualifikationen die Referenten besitzen. Die Gesellschaft für sensorische Integration grenzt sich aus diesem Grunde mit qualifiziertem Abschluss in Sensorisch- Integrativer-Ayres-Therapie (SIAT ® ) ab. Weitere Literaturempfehlungen Bundy, A. C., Lane, S. J. & Murray, E. (eds.) 2002. Sensory integration: Theory and practice 2nd ed. Philadelphia: F. A. Davis Heller, S. 2003: Too loud, too bright, too fast, too tight: What to do if you are sensory defensive in an over stimulating world. New York: Harper Smith-Roley, S., Blanche, E. & Schaaf, R. 2001. Understanding sensory integration for diverse populations. San Antonio, TX: Therapy Skill Builders. Kristiane Kull-Sadacharam Vorsitzende der Gesellschaft für Sensorische Integration Jean Ayres, Deutschland und International e.V. Kinderzentrum München Heiglhofstr. 63 D-81377 München 102 Kristiane Kull-Sadacharam FI 2/ 2006
