Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Gespräche führen in der Frühförderung: Systemische Aspekte
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2006
Günther Emlein
Frühförderfachkräfte machen gelegentlich die Erfahrung, dass der Prozess mit dem Kind stagniert, dass Eltern als störend oder als ablehnend erlebt werden oder das Helferkarussell sich dreht. Systemisches Denken bietet für solche Situationen andersartige Beschreibungen an, die einen neuen Blick ermöglichen und die Handlungsfähigkeit in der Gesprächsführung wieder herstellen. Das Papier stellt Ideen systemischer Praxis dar und macht sie für Frühförderung nutzbar. Stilmittel und Gesprächsmöglichkeiten werden vorgestellt.
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1. Systemisches Denken im Kontext Frühförderung Frühförderung ist ein psychosoziales Feld - und so erhebt sich eigentlich schon zu Anfang die Frage, wie man die psychosozialen Aspekte dieses Feldes beschreiben und einordnen will. Welcher psychosoziale Ansatz ist für die Frühförderung geeignet? Es geht also nicht nur um die Frage: „Bobath“ oder „Vojta“, also: Welchen Zugang nehmen wir zum Kind? , sondern Frühförderung steht zugleich und dauerhaft vor einer zweiten Frage: Wie, mit welcher Sichtweise beschreiben wir Gespräche mit den Eltern der Kinder, mit Kolleginnen und Kollegen, die mit demselben Kind tätig sind? Ein Gespräch dient nicht nur der Information, sondern gestaltet Beziehungen: Hier geht es dann um Wertschätzung und Würdigung der Klienten und Kolleginnen und um die Frage, wie man wertschätzend Veränderung anregen kann. Wie - d. h. mit welcher Theoriebrille - beschreiben wir also die Tatsache, dass unsere Arbeit mit dem Kind einen Kontakt zu Eltern und anderen helfenden Personen bedeutet? Wofür aber ist der Blick auf Beziehungen und Kommunikation hilfreich? Die entwicklungsorientierte Arbeit mit dem Kind kann nicht erfolgreich sein, wenn sie in stagnierenden Beziehungen stattfindet, in denen die Positionen und Ansichten ein für allemal festgeschrieben sind. So ist es oft eine guter und weiterführender Gang der Dinge, von vorneherein den sozialen Aspekt von Frühförderung einzubeziehen (Emlein 1994, 2001 a, 2001 b, Emlein und Boller 1995). 2. Die Metapher des Systems: Verkettung Systemiker „sehen“ Systeme. Systemisch zu sehen heißt, die Welt auf eine gewisse Weise zu interpretieren und zu strukturieren. Systeme gelten nicht als Dinge, die draußen in der Welt herumstehen und über die man stolpern könnte. Auch „Systeme“ bilden Realität nicht Frühförderung interdisziplinär, 25. Jg., S. 122 -131 (2006) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Gespräche führen in der Frühförderung: Systemische Aspekte GÜNTHER EMLEIN Zusammenfassung: Frühförderfachkräfte machen gelegentlich die Erfahrung, dass der Prozess mit dem Kind stagniert, dass Eltern als störend oder als ablehnend erlebt werden oder das Helferkarussell sich dreht. Systemisches Denken bietet für solche Situationen andersartige Beschreibungen an, die einen neuen Blick ermöglichen und die Handlungsfähigkeit in der Gesprächsführung wieder herstellen. Das Papier stellt Ideen systemischer Praxis dar und macht sie für Frühförderung nutzbar. Stilmittel und Gesprächsmöglichkeiten werden vorgestellt. Schlüsselwörter: Gesprächsführung, Konfliktmanagement, systemischer Ansatz Conversations in Early Intervention: A Systemic Perspective Summary: Professionals in early intervention sometimes make the experience that the process with the child stagnates, that parents are perceived as disturbing or rejecting or that the carrousel of all helping persons turns. For these situations systemic thinking offers alternative descriptions which allow a fresh view und bring back the chance for actions. The paper outlines ideas of a systemic practice und makes them usable for conversations in early intervention. Methods and possibilities of dialogue are presented. Keywords: Counseling, conflict management, systemic approach ab, aber sie helfen uns bei der Orientierung: Systemisch zu sehen organisiert, strukturiert und interpretiert unsere Wahrnehmung. Der Anspruch ist einfach, dass systemisch zu beobachten leichter geht und weiter führt als andere Theorieansätze (Emlein 2007). Wir beschreiben Systeme als Verkettungen - von Molekülen (im organischen Bereich) oder von Sinnelementen (im psychischen und sozialen Bereich). Systeme sind also Kombinationen von Elementen; und die Verkettung gibt der Einheit einen eigenen Charakter. In den Bereichen von Kommunikation und Erleben haben wir es mit Arrangements von Bedeutungen und Zuschreibungen zu tun. Systemische Praxis untersucht die Bedeutungskombinationen im jeweiligen Setting. Leitfragen sind: Was gehört zum Bedeutungskosmos? , und: Wer trägt zum Ideenkosmos bei? Welche Bedeutung/ Interpretation folgt auf was? Sehen wir „systemisch“, so „sehen“ wir Bedeutungsketten, die zu Weltbildern gerinnen. Seit Luhmann (1984) sprechen wir von sozialen Systemen, sofern zu den Sinnverkettungen mehrere Beteiligte beitragen. Weltbilder sind erlebens- und handlungsleitend. „Vorfälle“ bekommen durch Bedeutungen Wirkung. Die interpretierenden Bedeutungen machen Geschehnisse relevant: Man spricht darüber, man verkettet den eigenen Beitrag mit anderen Bedeutungen und gibt dem Bedeutungsarrangement dadurch eine bestimmte Richtung. Wirkungen entstehen durch Verkettung spezifischer Bedeutungen; es entsteht eine Art Gefälle, das Situationen entsprechend einfärbt. Oft sind es Verkettungen, die Menschen leiden lassen oder ihnen das Leben schwer machen, und andere Versionen, die ihnen gut tun. Das System entwickelt eine „Eigendynamik“: nur Bestimmtes, „Passendes“ kann sich an Vorausgesagtes anhängen. Anderes findet in ein einmal entstandenes Gefälle kaum Anschluss, es wird sozusagen nicht registriert, niemand bezieht sich darauf. So kann sehr schnell ein geschlossenes Weltbild entstehen, bei dem die Beteiligten nicht mehr die Lücken für alternative Ideen sehen. Wir fragen nicht nach Ursachen - wodurch eine Sichtweise entstanden ist -, sondern wir fragen nach Konfigurationen, Verkettungen und Auswirkungen - wie eine Sichtweise aufrechterhalten wird und welche Wirkung sie hat. Wir fragen „vorwärts“ („Wenn x geschieht, wie gehen Sie damit um? “). Aus systemischer Sicht ist relevant, was anschließend geschieht. Was anschließend geschieht, wertet einen Vorfall auf oder beruhigt die Szene. Es kommt also weniger darauf an, ob eine Sicht „richtig“ ist oder nicht, sondern welche Auswirkungen eine Sicht hat (Emlein 2007). Die Metapher des Systems als Verkettung erlaubt eine schlanke Beschreibung der Aufgabe. Sofern Verkettungen zum Erleben von Leid und Beengung führen und Betroffene dies so äußern, müssen nur Verkettungen verändert werden. Oft ist es nicht nötig, inhaltlich „gegen“ spezifische Ideen vorzugehen. Wirkungsvoller ist es in der Regel, „anders weiter zu machen“, eine andere Quittung für das Gesagte zu geben, eine Umlenkung einzufädeln. 3. Frühförderung als soziales System Auch in der Frühförderung spielt sich zwischen den Beteiligten ein je eigener, gemeinsam hergestellter Bedeutungskosmos aus Botschaften und dazu geäußerten Antworten ein. Zur Verkettung „Frühförderung“ tragen Familienmitglieder bei, aber ebenso helfende Personen und beteiligte Institutionen. Dieser Sinnkosmos wirkt, indem er über Behinderung und Rehabilitation, über Eltern, Kinder und helfende Personen ein Bedeutungsnetz wirft (Sorrentino u. a.1988, Jawad 2001). Was an sachbezogenen Aussagen fällt, ist also zugleich beziehungsgestaltend, z. B. wenn eine Fachkraft sich aufgefordert sieht, sich fachlich zu rechtfertigen, sie also bestimmte Aussagen der Klientel als „Angriff“ verstanden hat. Das Etikett „Behinderung“ selbst ist eine Weichenstellung, die gerne zur Verkettung von Negativbewertungen führt (Sorrentino 1988, Palmowski und Heuwinkel 2000, Emlein 1996). FI 3/ 2006 Gespräche führen in der Frühförderung 123 Aus systemischer Sicht hat Frühförderung also zwei Fokusse: einerseits die Unterstützungsangebote bezüglich der Entwicklungsförderung eines Kindes, andererseits das Bedeutungsarrangement, das Familienmitglieder und Helfende um Einschränkung und Hilfestellung herum gestalten. Dieser semantische Kontext leitet Verstehen und Bewertungen. 4. Kommunikationsgestaltung und -veränderung in der Frühförderung Systemische Möglichkeiten unterstützen die Fachkräfte, wenn sie bei stagnierender Kommunikation kooperative Möglichkeiten einfädeln und Auswege anbieten möchten. Jeder Beitrag, der sich mit vorher Gesagtem verkettet, reinterpretiert Bisheriges und gibt eine Nuance (der Bestätigung, der Veränderung) hinzu und wirkt auf die Gesamtrichtung der Verkettung. Die Kunst besteht also darin, alternative Ideen zur Anknüpfung anzubieten. Ob ein Angebot angenommen wird, ist nicht voraussagbar; man kann Umlenkungen nicht erzwingen. Man kann nur die Chancen optimieren, dass die Alternative interessanter und hilfreicher erscheint als alles Bisherige: „Angenommen, Sie würden auf unerfindliche Weise eines Tages sich keine Sorgen mehr machen wollen, das Grübeln hat Sie sozusagen verlassen, was wäre von dem Augenblick an anders, was würden Sie von da an anders machen, und wer würde als Erstes die Veränderung bemerken? “ 4.1 Frühförderung als Vertragssystem Zur Bildung eines sozialen Systems kommt es nur, wenn die Beitragenden sich einig sind über das Beitragen selbst (WER mit WEM? ), über die Gesamtrichtung der verketteten Bedeutungen (WAS? ) und über die zeitliche Organisation des Systems (WANN, WAS ZU- ERST, WAS DANACH? ); dies ist die soziale, sachliche und zeitliche Dimension von Kommunikation (Luhmann 1984). Mit einer vertraglichen Vereinbarung (Wozu soll die gemeinsame Zeit gut sein? ) werden also die „Erste Auslenkung“ und die Grundausrichtung des entstehenden Systems definiert. Die Metapher des Systems als Verkettung lädt dazu ein, den Beginn sorgfältig zu gestalten. Ob alle Beteiligten sich „im selben Boot einfinden“ und dieselbe Reise beabsichtigen, ist nicht von selbst gegeben. Wir setzen oft leichtfertig voraus, dass unser Gegenüber dasselbe meint und dasselbe will wie wir. Dies gilt es aber bis in Einzelheiten hinein zu verhandeln und zu vereinbaren. Ein klarer und durchführbarer Vertrag macht transparent, in welcher Absicht was geschieht. Eine solche Vereinbarung lässt sich erreichen, indem man Frühförderung versteht als Dienstleistung und die Eltern als Kunden. Die resultierenden Verträge sind freiwillig (vgl. Emlein 1994) eingegangene Vereinbarungen. Ein guter Vertrag ist eine gut verhandelte Vereinbarung darüber, was geschieht und durch welche Bewertungen welche Auslenkungen geschaffen werden. Wenn es zu Schwierigkeiten kommt, ist es oft hilfreich, noch einmal den Vertrag zu überprüfen, die Grundausrichtung zu befragen: „Es sind jetzt mehrere Termine ausgefallen; das hat mich auf die Frage gebracht, ob ich denn aus Ihrer ganz persönlichen Sicht überhaupt das Richtige für Ihr Kind tue.“ 124 Günther Emlein FI 3/ 2006 Kind: Einschränkung, Fördermöglichkeiten Bedeutungskosmos: Kommunikationen, Verkettungen, „Beziehungen“ Abbildung 1: Der doppelte Bezugspunkt der Frühförderung Klienten kommen zu helfenden Einrichtungen mit einem Anliegen. In der Regel lässt sich der Wunsch in einem Satz formulieren: „Hilf mir (uns), …“ Der Satz fällt jedes Mal anders aus. Im Rahmen des Machbaren und Sinnvollen gibt er einen roten Faden, an welchem die Hilfe sich entlanghangeln kann. Er schließt selbstredend unerbetene Hilfeleistungen oder gar Kontrolle aus, ebenso uneinlösbare Versprechen. Weitere Handlungen müssen neu vereinbart werden. Gibt es kein Anliegen (mehr), ist der Kontakt beendet und das Hilfssystem löst sich auf. 4.2 Kooperationsfördernde Interviews Hilfemaßnahmen selbst und vertraglich vereinbarte Angebote von Umlenkungen werden leichter angenommen, wenn die Kunden gewürdigt und anerkannt werden (für ihre Bemühungen, für Engagement, für Lernbereitschaft usw.). Werden Menschen kritisiert durch Moral („Herr X müsste endlich …“) oder psychologische Diagnosen („So lange Frau Y überbehütend ist, …“), teilt man ihnen mit, dass sie so, wie sie sind, nicht gut genug (für das Kind, für die Frühförderfachkraft? ) sind. Klienten werden auf eine solche Zumutung sich verteidigen oder auf leise Art sich verweigern. Botschaften und Maßnahmen, die die Kooperationsbereitschaft der Klienten unterstützen, halten den Prozess wohlwollend in Gang. „Widerstand“ ist in der Regel berechtigt, weil er sich gegen Ideen wehrt, die die Klienten nicht für hilfreich halten. Noch einmal: Es geht nicht um die „richtige“ Sicht der Dinge, sondern um Wirkung (= Folge von Ausrichtung der Verkettung) - und Wirkung ist unabhängig von Wahrheit. 4.3 Probleme und Lösungen Schwierigkeiten von Menschen oder zwischen Menschen verortet systemische Praxis in eigens entstandenen „Problemsystemen“. Das sind Systeme, deren Kommunikationsfokus ein „Problem“ ist (Goolishian und Anderson 1998, Anderson und Goolishian 1990, Emlein 1995). Sie entstehen durch Verkettungen von Negativbewertungen, es handelt sich also nicht um Sachverhalte, sondern um Schwere schaffende Interpretationen. Zu Problemsystemen kommt es durch Meinungsverschiedenheiten zwischen den Beteiligten, die sich als nicht auflösbar erweisen. Man mag darüber streiten, ob es ein Problem gibt, von welcher Art es ist oder wer es hat, oder man ist sich uneinig über die Lösung. Änderungen werden von der jeweils anderen Seite erwartet. Es wäre nun wenig hilfreich, die aufgrund von Fachlichkeit triftige Sicht als „richtige“ hinein zu geben, sondern es erscheint passender, einen Diskurs zu moderieren, in welchem das System seine Inkompatibilitäten selbst bereinigt und sich neu entscheidet. An der Problemkommunikation können neben einzelnen oder allen Familienmitgliedern auch professionelle Helfer beteiligt sein (Emlein 1994, Emlein und Boller 1995). Es ist wichtig herauszufinden, wer am Problemfokus mitwirkt, sonst entgeht der beratenden Person ein Teil der relevanten und wirksamen Ideen. Zum Entwickeln weiterer Lösungen ist es nicht notwendig, dass alle Beteiligten sich einfinden; man arbeitet mit denen, die daran Interesse haben und bezieht die anderen gedanklich ein. Leichtgängig ist es, neben schon existierenden Lösungen weitere Lösungen zu stellen, sodass die Beteiligten wählen können und - müssen. Probleme kann man also nicht lösen, indem man sich noch mehr mit ihnen beschäftigt. Wirksamer ist es, die Kommunikation in eine andere Richtung zu lenken: „Als Sie sich vor kurzem einmal weniger Sorgen gemacht haben, was war dadurch anders? “ 5. Folgerungen • Beteiligte verknüpfen mit ihren Kommunikationen auch Interessen. Eine systemische Sicht schützt davor, einseitig die ei- FI 3/ 2006 Gespräche führen in der Frühförderung 125 nen Interessen zu unterstützen und andere als störend zu kritisieren. Die traditionell übliche Parteinahme für die Interessen des Kindes gegen elterliche Interessen zahlt sich nicht aus (Boszormenyi-Nagy und Spark 1973, Boszormenyi-Nagy und Krasner 1986); es handelt sich auch eher um eine Parteinahme nur für jene Teilinteressen des Kindes, die die Fachkraft für die relevanten erklärt hat - Kinder haben aber auch ein Interesse, auf gutem Fuße mit ihren Eltern zu stehen. • Aufgrund der zwei Foci der Frühförderung kann es sinnvoll sein, die Funktionen auf zwei Personen zu verteilen: Eine Fachkraft arbeitet überwiegend mit dem Kind, die zweite Kraft wahrt den Blick auf den Kommunikationskontext und führt die Gespräche durch (Emlein und Boller 1995). Die Aufteilung federt ab, dass man sich in Beziehungen verheddert, wenn man über lange Zeit „nahe am Geschehen“ ist (zu bemerken an Parteilichkeit, Ärger, Lustlosigkeit usw.). • Systeme entscheiden selbst, ob sie aus dem „Sinn-Pool“ der Umgebung ein Sinnelement in ihre Verkettungen einhängen und sich damit ändern. In dieser Hinsicht sind Systeme autonom. Es gibt wenig Möglichkeiten, Vorschriften zu machen, wie es „richtig“ geht. Kommunikativ wie organisch-körperlich kann Frühförderung nur noch als Anregung und als Angebot gefasst werden. Frühförderung entfernt sich damit von der Idee des Trainings und definiert sich vielmehr als Spiel (Weiß 1993). Für jede Antwort des Systems zu einer Anregung hat das System „gute Gründe“; es gibt also wenig Anlass, das System „korrigieren“ zu wollen für das, was es tut. Wir müssen manchmal damit leben, dass das System nicht tut, was wir für richtig halten. • Der Verzicht auf Wahrheit legt Interdisziplinarität und damit auch die prinzipielle Gleichberechtigung aller Sichtweisen nahe, eingeschlossen ist dabei die Sicht der Eltern. Dass die Praxis anschließend Gewichtungen schafft, modifiziert und handhabbare Vereinbarungen - Vereinbarungen! - trifft, ist ein zweiter, pragmatischer Schritt. 6. Stillstand einer Frühförderung: eine Fallgeschichte und ein Krisengespräch Eine Fallbeschreibung möge einen Teil der genannten Aspekte illustrieren. Das Beispiel zeigt, wie Bedeutungsverkettungen sich in Verhalten umsetzen und den geplanten und von beiden Seiten gewünschten Prozess unterlaufen, und wie eine Umlenkung angeregt wurde. In einer marokkanischen Familie, deren zweitjüngstes Kind Frühförderung erhielt, kam die Förderung nach einer Weile zum Stillstand. Der Junge machte nicht mehr mit, seine älteren Schwestern beschlagnahmten das Frühförderspielzeug. In einem Konsultationsgespräch stellte sich heraus, dass die Mutter schon seit langem eine deutsche Freundin suchte und diese in der Frühförderin zu finden meinte. Die Mutter befürchtete, ihre deutsche Freundin wieder zu verlieren, sobald die Frühförderung erfolgreich beendet sei. So machte das Verhalten der Kinder Sinn, es zerstreute die Befürchtungen der Mutter. Zwischen Kindern, Mutter und Frühförderin hatte sich eine Problemverkettung etabliert, in welcher Erfolg in der Sache zum Misserfolg in Beziehungen wurde und umgekehrt. Meine Kollegin, die mit dem Kind arbeitete, und ich einigten uns auf eine Kommentierung der Szene: Ich „warnte“ die Kollegin in Gegenwart der Familie davor, die Frühförderung „zu schnell“ erfolgreich werden zu lassen, denn dann würde die Mutter „zu schnell“ ihre deutsche Freundin wieder verlieren. Wenige Wochen später erklärten die Eltern, die Angelegenheit mit der deutschen Freundin würden sie jetzt anders lösen, und dieses Thema habe mit der Frühförderung nichts zu tun - woraufhin der Junge wieder sprunghaft Fortschritte zeigte (ausführlicher zu diesem Fall und zur Arbeitsweise in: Emlein 1994). Die Familie hat in die Verkettungen eine Zweitbewertung des Frühfördererfolgs eingehängt. Sichtbar ist, zu welch originellen Lösungen Beteiligte finden, wenn sie kommunikativ Sinn machen. Die Frühförderin könnte nur wenig erreichen, wenn sie mit erfolg- 126 Günther Emlein FI 3/ 2006 reicher Arbeit die Mutter des Kindes gegen sich aufbrächte. Sach- und Bedeutungskontext waren inkompatibel. Dies zu benennen, könnte allerdings als Kritik an der Mutter aufgefasst werden. Wir gingen daher auf die Suche nach einem wohlmeinenden Weg der Problemauflösung. Wir beeinflussten den Ablauf der Verkettungen, indem wir die Situation zeitlich bewerteten (was nicht gleichzeitig geht, geht nacheinander) und zugleich die „Schuld“ auf uns nahmen. Meine Botschaft implizierte zwar den früheren oder späteren Erfolg der Frühförderung, wies aber die Entscheidung über den Zeitpunkt der Familie zu. Ob eine Frühförderin für Freundschaften beansprucht werden dürfe, ließen wir unkommentiert, wir hätten andernfalls die Familie nur gescholten. Dafür „verlangte“ ich von der Frühförderin, dass sie sich änderte - in einem Kontext, in dem eigentlich in der Familie - dem Wunsch der Eltern entsprechend! - sich etwas ändern sollte. Dies alles schuf Freiraum für spontane Neuerungen. Wir kommunizierten also gezielt „widersprüchlich“. Wir haben zahlreiche Förderungen erlebt, bei denen nach auf Sichtweisen und Verkettungen fokussierenden Gesprächen drastische Veränderungen im Verhalten der Kinder zu beobachten waren (Emlein 1994, Emlein und Boller 1995). 7. Stilmittel systemischer Praxis für die Frühförderung Die bislang entwickelten Stilmittel systemischer Praxis lassen sich in zwei Leitlinien zusammenfassen (Emlein 1994, 1995, Emlein und Boller 1995). Diese Vorschläge erlauben vielfältige Variationen, und dies macht sie auch für Frühförderung geeignet: 1. Rede anders über das Problem (z. B. Probleme als versteckte Talente, Lösungen, Ausnahmen zum Problem usw.). 2. Rede über etwas anderes (z. B. Ressourcen, Lebensfreude, „problemfreie Zonen“). Es geht also darum, das vorgefundene Bedeutungsarrangement anzureichern oder zu modifizieren. Welchen Weg man gehen kann, hängt von der Antwort des Systems ab. Wenn etwas funktioniert: Tu es weiter. Wenn etwas nicht funktioniert, tu etwas anderes (de Shazer 1988). Hier sollen exemplarisch, um das Gepräge systemischer Arbeitsweise zu skizzieren, einige der systemischen Stilmittel aufgeführt werden. Für weitere Einblicke verweise ich auf die Literatur (besonders: von Schlippe und Schweitzer 1996, Mücke 2001). 7.1 Ressourcenorientierte Fragen Solche Fragen machen bislang verborgene Ressourcen sichtbar. Ressourcen sind einfach „zur Verfügung stehende Mittel“, ursprünglich finanziell gemeint, aber metaphorisch auf alles, was hilfreich ist, anwendbar. Sie zu stellen, führt unmittelbar zu einem neuen Szenario, das weniger grau gefärbt ist, dafür mehr Lebendigkeit und Phantasie beherbergt. Helfen können wir nur, wenn wir mit den Betroffenen Ressourcen finden. „Hatten Sie schon einmal ein solches Problem, und wie haben Sie es damals gelöst? “ „Was sagt das über Sie, wenn Sie … erreichen? “ „Haben Sie schon einmal überprüft, ob Sie auch weiterhin auf so viel verzichten müssen, wie Sie es damals entschieden haben, als Sie Ihr behindertes Kind bekamen? “ „Wenn Sie plötzlich dringend zum Zahnarzt müssten, wer könnte sich dann um Ihr Kind kümmern? “ „Gibt es bei Ihnen eine Erklärung dafür, dass die ganze Familie auf die Fähigkeiten des Vaters verzichtet? “ Auch Pragmatisches: „Hat Ihnen schon jemand über Familienentlastende Dienste erzählt? “ 7.2 Hypothetische Fragen Diese Art der Fragen öffnen Möglichkeitshorizonte. Sie sind fiktiv gehalten, sodass die Betroffenen selbst entscheiden können, wie FI 3/ 2006 Gespräche führen in der Frühförderung 127 sie es denn künftig haben wollen. Hypothetische Fragen schaffen neue Optionen, weil diese aber (noch) fiktiv sind, verpflichten sie niemanden; dennoch stehen sie im Raum, sobald sie gesagt sind. „Angenommen, Ihre Frau würde wieder ihr Tennisspiel aufnehmen, wie wird sie es mit der Kinderbetreuung hinkriegen? “ „Angenommen, Sie würden als Vater sich mit der Tatsache der Einschränkung versöhnen, woran könnte Ihre Familie das merken? “ „Angenommen, die Tante aus Amerika käme zu Besuch, und Sie würden erzählen, was Ihre Kinder alles könnten, was würden Sie ihr erzählen? “ (Hierbei ist das behinderte Kind gerade eingeschlossen! ) „Angenommen, in der Nacht, während Sie schlafen, ist ein Wunder geschehen und Gott/ eine Fee/ ein geheimnisvoller Geist hat Sie vom Hader mit dem Schicksal befreit: Woran würden Sie das am nächsten Morgen merken, was würden Sie dann als Erstes anders machen und als Zweites? “ - Ein Fragestil, der mit „Angenommen…“ beginnt, hat sich bewährt. Oft auch beginne ich: „Ich habe gerade eine verrückte Idee. Wollen Sie sie hören? (Wenn ja: ) Ich stelle mir gerade vor, …“. Hypothetische Fragen können wirkungsvoll Umlenkungen einfädeln, die eine neue Sicht der Dinge anbahnen. Sie können allerdings keine biologisch-somatischen Gegebenheiten wie Einschränkungen ändern. Es würde also nur zu Verwirrung führen, würde man fragen: „Angenommen, durch ein Wunder wäre Ihr Kind nicht mehr behindert …“. Man sollte die Fragen in einer akzeptablen Form stellen: ungewöhnlich, aber nicht zu ungewöhnlich (Andersen 1990). Dann sind sie innovativ, können aber dennoch den Weg ins System finden. 7.3 Skalenfragen Skalenfragen (de Shazer 1985, 1988, 1991) erlauben Vergleiche und helfen daher hervorragend, andere Sichtweisen zu implementieren und Umlenkungen einzufädeln. Oft entsteht ein klarer Fahrplan aus dem Dilemma heraus. „Angenommen, Sie würden sich selbst auf einer Skala von 0 - 10 einschätzen, und 0 wäre der schlimmste Moment, z. B. wie Sie sich gefühlt haben, als Sie die Diagnose erfahren haben, und 10 wäre das Glück schlechthin, wo auf der Skala würden Sie sich vermuten? “ Nach der Antwort: „Wie haben Sie das geschafft, von damals … auf heute …? Und wenn Sie noch einen Punkt weiter wollten auf der Skala, was müssten Sie dafür tun? “ (Meistens weniger als befürchtet.) Woran würde Ihr Partner/ Ihre Partnerin merken, dass Sie … erreicht haben und nicht mehr bei … sind? Welchen Wert auf der Skala müssten Sie erreichen, dass Sie sagen, jetzt ist es o. k? “ (In der Regel zwischen 7 und 9, d. h. realistisch). 7.4 Experimente „Hausaufgaben“ haben experimentellen Charakter. Die Ausführung erbringt neue Informationen. Werden sie nicht ausgeführt, geschieht dies aus guten Gründen - und diese Gründe sind selbst wichtige Informationen. Experimente legen nahe: Etwas tun ist der Gang der Dinge, und es gibt Möglichkeiten. Die Ideen sollten passgenau sein; dies ist am ehesten erreicht, wenn man sie mit der Familie zusammen festlegt und der Familie Raum gibt zur Modifikation. Auch hier ist es möglich, im Rahmen des Fiktiven zu bleiben. Einem Ehepaar, das seit der Ankunft des behinderten Kindes auf partnerschaftliches Glück verzichtete („Wir müssen jetzt alles für unser Kind tun“), gaben wir die Anregung, an einem bestimmten Abend, wenn das Kind schon schliefe, im Wohnzimmer Kerzen anzuzünden, Weingläser zu holen, Musik aufzulegen usw. - und sich noch einmal gegenseitig zu erzählen, wie sie sich kennen gelernt haben und was sie aneinander attraktiv fanden; das sei alles bei diesem Experiment. Diese und weitere An- 128 Günther Emlein FI 3/ 2006 regungen verbesserten die Paarbeziehung so weit, dass die Mutter am Ende ihrem Mann zutraute, adäquat mit dem behinderten Kinde umzugehen. - Eine andere Möglichkeit: Die ganze Familie plant einen Familienausflug „unter der nötigen Berücksichtigung des behinderten Kindes“ inkl. dessen, was die Geschwisterkinder kritisch schauenden Erwachsenen im Zug oder im Restaurant sagen könnten. 7.5 Widersprüchliche Kommunikation Oft kommt es leichter zu Veränderungen, wenn man nicht darauf besteht, sondern dem Status quo Gewicht gibt (Sorrentino 1988). Betroffene haben damit die Freiheit, autonom Veränderungen in die Wege zu leiten anstatt jemandem zuliebe. Ein bestimmtes Elternpaar war mit der Förderung seines behinderten Kindes nicht einverstanden, obwohl sie jeden Termin wahrnahmen. Sie versprachen sich von der Förderung nichts, andere Maßnahmen seien angezeigt; jene anderen Maßnahmen konnten sie allerdings nicht benennen. Die Verwirrung war groß, der Fortschritt blockiert. Ein Besuch bei der Familie erbrachte Folgendes: Nur zu 30 % glaubten die Eltern, dass deutsche Fachkräfte dem Kind helfen könnten: Zu 70 % trauten sie es muslimischen Helfern zu. Wenn es Ärzte nicht schaffen würden, würden sie sich an den Imam wenden, und sie hatten auch tatsächlich schon einige (erfolglose) Besuche beim Imam hinter sich (! ). Ich stellte zwei hypothetische Fragen: „Angenommen, weder Ärzte noch der Imam können Ihrem Kind helfen, was dann? “ „Dann kann Gott helfen.“ „Und wenn Gott nicht helfen kann, wie Sie es sich wünschen? “ „Dann werden wir unser Schicksal akzeptieren.“ Das Gottvertrauen dieser muslimischen Familie hing anscheinend davon ab, dass sie Menschen nur beschränkt Erfolg zutrauten. Ein Erfolg helfender Personen stellte ihren Glauben in Frage. Das hat zu vielen Arretierungen der Bedeutungen geführt. Mit dem Einverständnis der Frühförderfachkraft entwickelte ich ein Ritual und bat alle Beteiligten, dieses Ritual jeweils am Anfang und am Ende der Frühförderstunde durchzuführen. Die Kollegin sollte sich vor dem Kinde verneigen und sagen: „Die Ärzte können nicht helfen, der Imam kann nicht helfen, auch ich kann nicht helfen, nur Gott kann helfen.“ Daraufhin sollten die Eltern sich verneigen und sagen: „Ja, so ist es.“ Durch dieses Ritual konnte die Frühförderarbeit wieder in Fluss gebracht werden. Es hat das Gottvertrauen der Familie geschützt und doch der Familie ermöglicht, die Zwickmühle ihrer Anschauungen zu verlassen. 8. Settings 8.1 Familiengespräche Ein großer Teil der Gespräche in den Mehrpersonenkontexten der Frühförderung sind vermutlich Familiengespräche. Eltern oder Elternteile sind von Anfang an mit dabei, wenn Frühförderung beginnt und ein Vertrag geschlossen wird. Sie sind die „nächsten Angehörigen“, die den Werdegang genau beobachten und Meinungen dazu haben. Familiengespräche haben einen der Frühförderung angepassten Zweck. Sie haben in der Regel drei Themen (Emlein und Boller 1995, 3): • Bilanz: Die Frühförderarbeit wird, am besten in regelmäßigen Abständen, mit den Eltern und je nach Interesse auch mit anderen, einer Bilanz unterzogen. Wie weit ist man gekommen, wird die Maßnahme von allen gutgeheißen, welche Auswirkungen hat die Arbeit auf die anderen Familienmitglieder, wie viele Prozent sind schon erreicht, was ist der nächste Schritt, welche Fragen sind inzwischen entstanden usw. Oft ist es sinnvoll, auch kleinste Entwicklungsschritte deutlich zu registrieren („Die Mühe lohnt sich! “). • Vertrag: Diese Gespräche ermöglichen, den Frühfördervertrag zu bestätigen oder FI 3/ 2006 Gespräche führen in der Frühförderung 129 fortzuschreiben, Neues zu verabreden, Themen aufzunehmen oder fallen zu lassen. • Auflösung von Problemkommunikation: Hindern Problemverkettungen das Vorwärtsschreiten der Frühförderung, so können alternative Ideen und Bewertungen wieder Freiraum schaffen. Familiengespräche im Kontext der Frühförderung beinhalten kein Therapieangebot (Jawad 2001, obwohl er im Titel das Etikett „Therapie“ verwendet). Es sind eher Kontextgespräche, die auf die gegenseitigen Auswirkungen von kindzentrierter Arbeit und dem gesamten Kommunikationsszenario reflektieren. Vom Wunsch nach „Therapie“ zu unterscheiden sind die auf die Behinderung des Kindes bezogenen Anliegen von Eltern. Hierzu zählen Schwierigkeiten in der Erziehung oder Auseinanderleben der Partnerschaft seit der Ankunft eines behinderten Kindes. So haben wir in einem Fall Paargespräche angeboten, als klar wurde, dass ein Ehepaar auf gemeinsame Freuden bis hin zur Intimität verzichtete, weil „wir jetzt alles für unser (behindertes) Kind tun müssen“ (Emlein und Boller 1995, 4). Gespräche sollten so terminiert werden, wie es den Beteiligten angenehm ist. Die Erfahrungen systemischer Praxis sprechen für alle sinnvollen Lösungen in jedem integrierbaren Zeitformat. Wir haben gleich gute Erfahrungen gemacht mit 14-tägigen wie mit 3-monatigen Abständen (Emlein 1994, Emlein und Boller 1995), aber ebenso mit einmaligen „Krisengesprächen“. 8.2 Helferkonferenzen und interdisziplinäre Gespräche Eine systemische Perspektive ist ausgesprochen hilfreich bei Helferkonferenzen. Solche Konferenzen werden sinnvollerweise einberufen, wenn sich ein Konflikt zwischen den verschiedenen Helferberufen einnistet. Bei Familien mit einem behinderten Kind sind manchmal viele und sehr unterschiedliche Fachkräfte beteiligt. Diese haben oft einander widersprechende Ideen dazu, was dem Kind zu gegebener Zeit helfen könnte. Darüber hinaus kommt es auf Grund persönlicher Idiosynkrasien der Fachleute zu Frontenbildungen. Helferkonferenzen sind auch sinnvoll, wenn unklar ist, wie man das Problem am hilfreichsten beschreibt (Fall A in: Emlein und Boller 1995, 4f.). Eltern sollten in jedem Falle dabei sein, denn sie sind ja die Kunden des Angebots. Als Erstes sollte eine Vereinbarung darüber erreicht werden, was das Ziel der Sitzung ist. Klarheit hierüber verhindert Eskalationen und Missverständnisse und schafft eine konstruktive erste Auslenkung. Hilfreich ist ein kooperatives, zum Zuhören einladendes Klima, welches Negativauslenkungen vorbeugt. Es führt oft schon zu enormen Wendungen, wenn Fachleute und Eltern sich gegenseitig ihre Sichtweisen bekannt machen - denn für jede Sicht spricht etwas und dies war vorher unbekannt. Die Beteiligten sollten selbst eine Lösung zur Unterschiedlichkeit der Ideen finden. Eine Moderation, die selbst keine Position hat, also nicht weiß, wer Recht hat, kann effektvoll die Helferkonferenz steuern. Am Ende der Konferenz sollten Absprachen und Vereinbarungen stehen. Diese bilden den neuen Rahmen, innerhalb dessen für alle die eigenen Bewegungen leichter und sicherer sind. Will eine Partei an einer solchen Konferenz nicht teilnehmen, hindert dies die anderen nicht an der Arbeit. Die Moderation sollte die abwesende Partei gedanklich einbeziehen. Eine Helferkonferenz kann auf klassische Weise moderiert werden (Moderation allein gegenüber allen anderen Beteiligten). Aber ebenso das Konzept des Reflecting Teams (Andersen 1990) oder das KREIS-Verfahren (Schlienger-Schweingruber u. a. 1997) haben hier ihren Platz. Beide unterteilen die Beteiligten in mehrere Gruppen, die sich zuhören, während jeweils nur eine Gruppe spricht - sehr effektive Verfahren besonders in Streit-Szenarios oder anregungsarmen Settings. 130 Günther Emlein FI 3/ 2006 9. Ausblick: Erste Erfahrungen Eine systemische Orientierung in der Frühförderung erleichtert in vielen Bereichen die Arbeit. Die Konsultationsgespräche mit der Familie werden von der Familie als Würdigung wahrgenommen, was den guten Kontakt leichter ermöglicht. Zu sehen, wie das Verhalten des behinderten Kindes zum Verhalten der anderen Familienmitglieder passt, vermittelt oft neue und völlig andere Eindrücke. Oft wird erst in der Interaktion sichtbar, wie drastisch die Fortschritte auf allen Seiten sind. Anregungen an den Kontext erlauben, die Veränderungen beim Kind und bei den anderen zu verknüpfen und damit noch weitere Wirkung zu erreichen. Helferkonferenzen gestatten es, in oft einmaligen Begegnungen Streitszenarios („Wer hat die richtige Idee für das Kind? “ - Natürlich man selbst! ) aufzulösen und auch den Graben zwischen Medizin, therapeutischer und pädagogischer Frühförderung zuzuschütten zugunsten von mehr Respekt füreinander und gemeinsam getragenem Respekt gegenüber den Familien. In allem verbessert sich die Position der Eltern. Sie sind „Meinungsmacher“ und Vertragspartner im sozialen System „Frühförderung“: Sie kooperativ einzubeziehen, erübrigt „Widerstände“ und Missverständnisse. Literatur Andersen, T. (Hg.) (1990). Das Reflektierende Team. Dortmund (Modernes Lernen). Anderson, H. und Goolishian, H. A. (1990). Menschliche Systeme als sprachliche Systeme. Familiendynamik 15, 212 - 243. Boszormenyi-Nagy, I., und Krasner, B. R. (1986). Between Give and Take. 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Günther Emlein Lehrtherapeut und Lehrender Supervisor Projektleiter „Systemische Praxis in der Frühförderung“ Institut für systemische Theorie und Praxis Frankfurt (ISTUP) Zeißelstraße 11 D-60318 Frankfurt E-Mail: ge@istup-ffm.de FI 3/ 2006 Gespräche führen in der Frühförderung 131
