Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2006
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Zuhören und verstehen
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Hiltrud Funk
Dem Artikel liegen Ansätze der Selbstpsychologie zugrunde, die in Verbindung gebracht werden mit dem pädagogischen Anliegen. Diese gehen davon aus, dass zu der Entwicklung eines kohäsiven Selbst von Anfang an die Eltern als Selbstobjekte für das Kind eine zentrale Rolle spielen. In der Frühförderung können selbstpsychologische Erkenntnisse genutzt werden, indem einerseits sich die Frühförderin als Selbstobjekt zur Verfügung stellt, andererseits die Eltern unterstützt werden, diese Funktionen für ihr Kind erfüllen zu können. Am Fallbeispiel eines hörenden Kindes mit gehörlosen Eltern wird ein solches Konzept der Frühförderung erläutert.
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1. Einleitung Seit ungefähr hundert Jahren kann man eine spannende Beziehung zwischen Pädagogik und Psychoanalyse verzeichnen, die bereits Freud (1964) artikuliert hat. Als nützlich werden Erkenntnisse der Psychoanalyse für die Pädagogik deshalb erachtet, weil sie dem Pädagogen 1 ermöglichen, die einer Interaktion inhärenten unbewussten Anteile zugänglich zu machen. Dies ist notwendig, damit es auf der einen Seite nicht zu einem unglücklichen Ausleben der unbewussten Anteile des Pädagogen kommt und er auf der anderen Seite verstehen kann, in welche Prozesse das Kind bzw. der Jugendliche involviert ist bzw. der Pädagoge und das Kind gleichermaßen. Auch die Frühförderung hat sich psychoanalytische Ansätze zu Nutze gemacht (Maas 1999, Messerer 1999, Werkstattgruppe familienorientierte Frühförderung 2000). Ich werde im Folgenden einen Ansatz von Frühförderung vorstellen, der selbstpsychologische Implikationen nutzt. Schwerpunktmäßig werde ich meine Konzeption am Beispiel eines hörenden Kindes mit gehörlosen Eltern aufzeigen (s. auch Funk 2004). 2. Frühförderung und Selbstpsychologie Die Theorie und Praxis der Frühförderung geht insbesondere in den letzten Jahren davon aus, dass sie ihre Intentionen dann realisieren kann, Zuhören und verstehen Selbstpsychologische Sichtweisen in der Frühförderung dargestellt am Beispiel eines hörenden Kindes mit gehörlosen Eltern Hiltrud Funk Zusammenfassung: Dem Artikel liegen Ansätze der Selbstpsychologie zugrunde, die in Verbindung gebracht werden mit dem pädagogischen Anliegen. Diese gehen davon aus, dass zu der Entwicklung eines kohäsiven Selbst von Anfang an die Eltern als Selbstobjekte für das Kind eine zentrale Rolle spielen. In der Frühförderung können selbstpsychologische Erkenntnisse genutzt werden, indem einerseits sich die Frühförderin als Selbstobjekt zur Verfügung stellt, andererseits die Eltern unterstützt werden, diese Funktionen für ihr Kind erfüllen zu können. Am Fallbeispiel eines hörenden Kindes mit gehörlosen Eltern wird ein solches Konzept der Frühförderung erläutert. Schlüsselwörter: Selbst, Selbstobjekt, Selbstobjektbedürfnisse, Empathie, Laut- und Gebärdensprache, hörende Kinder mit gehörlosen Eltern Listening and Understanding - Self Psychological Aspects in the Early Intervention Described on the Background of a Case of a Hearing Child with Deaf Parents Summary: This article is based on concepts of Self psychology which are then connected with educational needs. These concepts assume that, from the very start, parents as selfobjects play a central role in the development of a child’s cohesive self. Early intervention can benefit from results of Self psychology, enabling the professional on the one hand to function as a selfobject for the child, and on the other hand to support parents in fulfilling these functions. This concept of early intervention is explained on the background of a case of a hearing child of deaf parents. Keywords: Self, selfobject, selfobject-needs, empathy, speech and sign language, hearing children with deaf parents Frühförderung interdisziplinär, 25. Jg., S. 71 -78 (2006) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Originalarbeiten wenn sie nicht nur das Kind, sondern ebenso seine Eltern, ja die Familie insgesamt bzw. das umgebende soziale Geflecht berücksichtigt. Frühförderung findet im Rahmen von vielfältigen Interaktionen und Beziehungen statt, die auch die Frühförderin betreffen. Sie muss zu ihrer Aufgabenerfüllung ein Reflexionsmodell zur Verfügung haben, das es ihr ermöglicht, oszillierend zwischen Nähe und Distanz zu den Beteiligten förderlich zu handeln. Die hier gewählte Selbstpsychologie stellt ein neues Modell dar, das die psychische Organisations- und Funktionsweise des Menschen verstehen will. Sie bezieht Erkenntnisse über die frühe Kindheit ein und erhält wichtige Anregungen aus der Säuglingsforschung, z. B. dem Konzept Daniel N. Sterns über die Selbstentwicklung des Säuglings (1998). Demnach beginnt bereits in den Mutter-Säugling-Interaktionen der Herausbildungsprozess des Selbst einer Person. Psychische Erfahrungen werden in einem Selbst organisiert und dieses in Beziehung zu seiner Umgebung gesetzt. Das Selbst ist laut Köhler folgendermaßen definiert: „Als Selbst wird jene Organisation bezeichnet, die den Prozess des Erlebens, das heißt innerer und äußerer Wahrnehmungen, bewusster und unbewusster innerer Vorgänge und Motivationen integriert und in einer zeitlichen Kontinuität zusammenhält. Das Selbst ist aus der Sicht der Selbstpsychologie ohne die Matrix seiner Selbstobjekte nicht überlebensfähig.“ (1998, 28) Letzteres weist auf die Rolle von anderen Personen hin, die für den Menschen stützende Aufgaben übernehmen. Mit Selbstobjekt ist nicht eine konkrete Person gemeint, sondern die Funktion, die das Objekt für das Selbst erfüllt. Diese Prozesse sind nicht auf die Säuglingszeit beschränkt, sondern während des ganzen Lebens angesiedelt; d. h. wenn im Folgenden vom Säugling bzw. Kind geschrieben wird, gilt dies genauso, dem jeweiligen Alter angepasst, auch für Jugendliche und Erwachsene. Die Selbstobjekte erfüllen psychisch wichtige Selbstobjektbedürfnisse, die hier stichwortartig dargestellt werden (Wolf 1998): • Verschmelzendes Selbstobjektbedürfnis: Da der kleine Säugling sich noch wenig differenziert erfährt, verschmilzt er mit der Welt, indem er sie in sein sich entwickelndes Selbst einbezieht. • Spiegelndes Selbstobjektbedürfnis: Der Säugling wünscht, dass er akzeptiert, wertgeschätzt und bewundert wird. • Alter-Ego- oder Zwillings-Selbstobjektbedürfnis: Das Kind strebt danach, einem Anderen in Wesensart bzw. Aussehen ähnlich zu sein. • Idealisierendes Selbstobjektbedürfnis: Das Kind möchte den bewunderten Anderen als schützend und beruhigend erleben. • Selbstobjektbedürfnis nach Effektanz: Der Säugling ist bestrebt, im Anderen eine Wirkung zu erzielen und erfährt dadurch Freude und Bestätigung. • Selbstobjektbedürfnis nach Gegnerschaft: Das Kind möchte sich dem Anderen gegenüber durchsetzen. Das Selbstobjekt reagiert abgrenzend und gleichzeitig responsiv. In der Frühförderung kann davon ausgegangen werden, dass die Eltern, insbesondere früh die Mutter, diese Funktionen für das Kind erfüllen. Aber auch die Frühförderin stellt sich dem Kind zur Verfügung, um zur Stärkung seines Selbst beizutragen und damit dem Kind zu ermöglichen, entwicklungsgemäße Schritte zu gehen und sich als Zentrum von Initiative zu erfahren (Kohut 1996). Über dieses In-Beziehung-Setzen mit dem Kind hinaus fungiert sie auch für Mutter und Vater als Selbstobjekt, nämlich in der Weise, dass diese ihre Elternfunktionen in förderlicher Weise erfüllen können und dem Kind durch ihr Halten die Voraussetzung bieten, in seiner Entwicklung auch mit möglicherweise vorhandener Behinderung voranzuschreiten. 72 Hiltrud Funk FI 2/ 2006 In menschlichen Beziehungen, also auch im Rahmen von Frühförderung, ist Empathie das Medium, durch das positive Interaktionen gelingen können. „Empathie ist die Fähigkeit, sich in das Leben einer anderen Person einzudenken und einzufühlen. Sie ist unsere lebenslange Fähigkeit, das zu erleben, was ein anderer Mensch erlebt, wenn auch gewöhnlich und richtigerweise in einem abgeschwächten Grad“ (Kohut 1987, 126). Es kommt demnach darauf an, dass die empathische Person sich zwar innerlich am subjektiven Erleben des Anderen beteiligt, aber ebenso die gemeinsam erlebten Gefühle erkennt und versteht. Menschen können nicht immer empathisch reagieren, nicht nur weil sie selbst belastet sind und deshalb der Andere nicht offen genug wahrgenommen werden kann, sondern weil sie als Menschen notwendig „versagen“ müssen. Im Fall einer Eltern-Kind-Beziehung erkennt das Kind die Grenzen der Eltern und kann über die erlebte Frustration selbst nach neuen Möglichkeiten suchen. Voraussetzung ist, dass die Frustration „optimal“ (Kohut) ist, d. h. nicht überfordernd, sondern anregend, wohl eher als optimale Responsibilität bezeichnet werden kann (Lichtenberg/ Lachmann/ Fosshage 2000). Es ist einleuchtend, dass auch die professionelle Förderung dann für die kindliche Entwicklung nützlich ist, wenn sie empathisch und responsiv dem Kind und seinen Eltern begegnet. Das ist möglich, wenn die Frühförderin zwischen Fremd- und Selbstbeobachtung oszilliert, um die sehr komplizierten Prozesse, in denen sie eingebunden ist, zu verstehen und entsprechend zu handeln. Frühförderung hat nicht nur mit Kindern zu tun, die eine manifeste Behinderung aufweisen, sondern zunehmend mit solchen, die emotional beeinträchtigt sind. Folge sind häufig Beeinträchtigungen des Lernens allgemein. Emotionale Auswirkungen zeigen sich, wenn es zu häufigem, langandauerndem Versagen der Bezugspersonen des Säuglings bzw. Kindes kommt. Die Rede ist hier von einem Versagen, das sich in Interaktionen zeigt, die auf selektiven Abstimmungen (Stern 1998) beruhen und überwiegend die Bereiche betonen, die Mutter bzw. Vater entgegenkommen und nicht am Anliegen des Kindes orientiert sind. Das Kind wird die Bedürfnisse z. B. nach Spiegelung und Idealisierung verdrängen oder abwehren und schützt sich durch Distanziertheit und Beziehungslosigkeit, ein Erscheinungsbild wie es im Extremfall der Autismus bietet. Ebenso können die Ich-Funktionen beeinträchtigt werden und es wird von inneren Impulsen überwältigt; aggressives, dissoziales Verhalten kann sich einstellen. Aber auch ein Leistungsdruck, der niemals zur Erfüllung führt, kann gespürt werden. Winnicott (1984) und Stern (1998) schreiben hier vom sog. falschen Selbst, das dann zum Tragen kommt, wenn das wahre Selbst geschützt werden muss. Wahrscheinlich ist Frühförderung damit weniger konfrontiert, weil diese Kinder sehr angepasstes, zunächst unauffälliges Verhalten demonstrieren. Insgesamt jedoch ist die Entwicklung des Selbst betroffen und in seiner Kohärenz gefährdet, d. h. eine Fragmentisierung des Selbst droht. Selbstpsychologische Erkenntnisse können demnach wichtige Hinweise für die frühkindliche Entwicklung und deren Unterstützung liefern, und zwar in der Zeit, die relevant für die Frühförderung ist. 3. Fallbeispiel Ich möchte im Folgenden einen Einblick in die pädagogische Arbeit mit einem hörenden Kind von gehörlosen Eltern geben, die orientiert ist an selbstpsychologischen Konzepten. 3.1 Beschreibung Lena 2 ist die jetzt sechsjährige hörende Tochter eines gehörlosen Paares. Ich begann mit der Frühförderung, als sie 11 Monate alt war, verfügte also über eine mehrjährige Erfahrung FI 2/ 2006 Zuhören und verstehen 73 im Zusammenhang mit der Familie und ihren Kommunikations- und Interaktionsformen. Die folgende Szene ist auf diesem Hintergrund zu verstehen, und ich werde Informationen, die zum Verständnis notwendig sind, einfließen lassen. Die damals vierjährige Lena begrüßte mich anlässlich meines Hausbesuchs sehr freudig bereits an der Tür. Ihre Mutter stand - wie in letzter Zeit häufig - im Hintergrund, schien Lena ganz den Empfang zu überlassen. Lena ließ ihre Mutter nicht zu Worte, besser ausgedrückt, zur Gebärde kommen und sagte mit geheimnisvollem Gesicht, dass sie eine Überraschung für mich hätte. Ich hatte sie noch nie so bewegt erlebt wie jetzt. Sie führte mich in ihr Zimmer und zeigte auf den Käfig mit einem Hamsterweibchen, der getrennt von dem des Männchens stand. Sie sagte entzückt: „Guck mal, da sind die Babys! “ Drei winzige Hamsterjunge wuselten um ihre Mutter herum, und Lena machte mich darauf aufmerksam. „Guck mal, die wollen immer bei der Mama sein. Die trinken noch bei der Mama. Aber sie fressen auch schon Heu.“ Stolz wollte sie mir ein Junges zeigen und versuchte es zu fangen. Sie tat dies sehr hastig, erwischte eines am Bein und hielt es fest. Resultat war, dass die Kleinen wild und panisch quietschend durch den Käfig rasten. Ich fühlte die Aufregung von Lena, ihre Hektik und ihren dringenden Wunsch, endlich ein Junges zu fangen. Mir taten die Tiere leid, und ich erklärte ihr, dass sie sie nicht so beunruhigen dürfe. Lena ließ dies kalt und sie gab keine Ruhe bis sie eines in der Hand halten konnte. Schließlich gelang es mir, nachdem ich die kleinen Hamster gebührend bewundert hatte, sie zu überzeugen, dass diese besser wieder in dem Käfig bei ihrer Mama aufgehoben sind. Wir unterhielten uns über die Hamster, und sie erzählte mir, dass sie im Kindergarten immer an die Hamster denken müsse. Ich war überrascht, denn bisher hatte ich erst etwas von ihrem Kindergarten gehört, wenn ich intensiv nachgefragt hatte. Von Kindern hatte sie gar nichts berichtet. Ich fragte sie, was sie im Kindergarten denkt, und sie entgegnete: „Die hören nie zu. Die streiten sich immer und beißen sich.“ Mir blieb fast die Luft weg, und ich antwortete ihr: „Wenn du von zu Hause weg bist, hören die Hamster nicht zu und streiten sich. Du musst immer an die Hamster denken und kannst dann gar nicht richtig mit den anderen Kindern spielen.“ Der letzte Zusatz kam mir ganz spontan, ohne dass ich genau sagen konnte, wie der Gedanke bei mir entstanden war. Lena stimmte mir gleich wie erleichtert zu, ich schien sie verstanden zu haben, und zunächst schien das Thema für sie erledigt zu sein. Beim Abschied rief sie mir jedoch im Treppenhaus hinterher: „Denk auch an die Hamster! “ Sie tat dies durchaus fröhlich, wenn auch sehr ernst gemeint. Ich rief zurück: „Ja, und ich denke auch an dich.“ Ich war sehr betroffen und traurig zugleich von dieser Szene. 3.2 Interpretation Wie üblich schrieb ich nach den Hausbesuchen auf, was ich erfahren und empfunden hatte. Ich werde nun die Interpretation des Erlebten auf der Grundlage der selbstpsychologischen Konzeption folgen lassen, so wie ich sie unmittelbar danach, aber auch in zeitlicher Distanz dazu gefunden habe. 3 Lena empfängt mich ganz aufgeregt bereits an der Haustür. Seit einigen Monaten hat sie die Rolle der „Hausherrin“ übernommen und begrüßt mich an der Tür. Ihre Mutter überließ ihr bereitwillig diese Funktion. Ich bin mir unsicher, ob sich hier möglicherweise eine Rollenumkehr andeutet, wie manchmal in dem Eltern-Kind-Verhältnis dieser Familien festgestellt wird, oder ob Mutter und Kind spielerisch damit umgehen. Jedenfalls will Lena mir geheimnisvoll eine Überraschung mitteilen. Sie geht davon aus, dass dies auch für mich bedeutungsvoll ist, jedenfalls hält sie mich als Adressaten ihrer Überraschung für wichtig. Sie möchte damit etwas Bedeutungsvolles mit 74 Hiltrud Funk FI 2/ 2006 mir teilen, stellt eine Verständigungsebene mit mir her, zeigt mir, dass sie in Beziehung zu mir ist. Ich habe wirklich keine Ahnung, was sie meinen könnte, bin ganz gespannt, so wie sie es wohl auch von mir erwartet. Schon hier zeigt sich Lenas Kompetenz, andere für sich zu interessieren, sie spielt quasi auf der Klaviatur des Dialogs und realisiert ihr Bedürfnis nach Effektanz. Allerdings weiß sie auch, dass ich ihr eine Partnerin bin, dieses Selbstobjektbedürfnis erfülle, denn ich lasse mich willig auf ihr Angebot ein. Ich spüre deutlich, welchen Wert sie darauf legt, mir etwas zu zeigen. Die dann von ihr präsentierten Hamsterbabys sind wirklich eine Überraschung für mich, und ich empfinde ebenfalls Entzücken. Wir sind uns hier sehr nah und teilen das gleiche Gefühl. Dies wahrzunehmen wird mir durch Empathie ermöglicht, d. h. ich spüre ihr Gefühl und kann es von meinem unterscheiden. Damit wird es auch kommunizierbar, eine wichtige Tatsache, denn in Lenas Familie ist es nicht üblich, Gefühle zu zeigen und darüber zu sprechen bzw. zu gebärden. Ich denke, dass dies nicht nur daran liegt, dass den Eltern wenige (gebärden)sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung stehen, vielmehr ihre problematischen Erfahrungen und deren Verarbeitung dafür verantwortlich sind. Ich sehe es als eine Aufgabe an, Lena als spiegelndes Selbstobjekt zur Verfügung zu stehen, gerade in einem Bereich, den die Eltern weniger erfüllen können. Lena drückt mir gegenüber eine ganz eigene Interpretation des Geschehens aus. Sie versetzt sich in die Lage der Hamsterjungen, die ganz nah bei ihrer Mutter sein wollen. Ich verstehe das so, dass sie selbst diesen Wunsch ihrer Mutter gegenüber hat. Umso erstaunter bin ich, dass sie es ist, die die Jungen nun von der Mutter trennt. Sie jagt sie erbarmungslos durch den Käfig, lässt sich nicht von der Panik der Tierchen beeindrucken und auch von meinen Bitten nicht. Hier fehlt ihr völlig die Einfühlung, sie lässt sich nur von ihrem Wunsch treiben, eines zu fangen. Zum Verständnis dieser Sequenz kann beitragen, dass Lena die Woche überwiegend bei ihrer Großmutter mütterlicherseits aufwächst, ohne dass ein Grund wie z. B. die ganztägige Erwerbstätigkeit beider Elternteile vorliegen würde. 4 Lena wurde bereits sehr früh für lange Zeit von der Mutter getrennt. Ich schließe, dass sie hier eine Situation darstellt, die sie selbst erlebt und genauso empfunden hat. Deshalb konnte meine verbale Intervention nicht erreichen, dass die Jungen bei ihrer Mama bleiben konnten, schließlich erhob offensichtlich niemand bei ihr mit Erfolg seine Stimme. Lena begründet das Bestreben der Jungen, bei der Mama zu bleiben, damit, dass sie von ihr genährt werden möchten. Offensichtlich spielt Lena auf die mütterliche Nahrungsquelle an, die nicht nur Nahrung im eigentlichen Sinn spendet, sondern auch Liebe und Geborgenheit. Hier kann Lena symbolhaft zu ihren Selbstobjektbedürfnissen stehen und gleichzeitig ausdrücken, dass ein Mangel herrscht. Im Folgenden offenbart sie ihren Lösungsversuch: Die Jungen fressen auch schon Heu, obwohl sie noch so klein sind. D. h. sie zeigen sich unabhängig von der Mutter und versorgen sich selbst. Auch hier vermute ich, dass Lena ihre Entwicklung darstellt. Oberflächlich betrachtet, würde man von einem Ablöseprozess sprechen, der zur Autonomieentwicklung des Kindes unabdingbar ist. Im Falle Lenas aber - durch verschiedene Beobachtungen gestützt, zu denken ist auch an die Szene an der Haustür anfangs - ist von einem frühzeitigen Reifen auszugehen. Sie ist darauf angewiesen, selbstständig zu sein, da ihre Eltern wenig Halt geben und sie darauf angewiesen ist, sich selbst zu bemuttern. Ich vermute hier den Beginn der Herausbildung eines falschen Selbst. Lena erfüllt den Wunsch der Eltern, selbstständig zu sein, sich von ihnen unabhängig zu zeigen, ohne dass sie aber aufgrund ihrer Entwicklung dazu bereit sein kann. Die Eltern erfahren eine Entlastung, die sie vor Überforderung schützen soll, diese aber gleichzeitig der Tochter aufbürdet. Die Eltern sind eben- FI 2/ 2006 Zuhören und verstehen 75 so belastet, da sie wie viele gehörlose Eltern einer genauen Beobachtung der hörenden Nachbarschaft und Verwandtschaft unterliegen, ob sie denn auch gute Eltern sein können. Dies erzeugt einen Druck, dem diese Eltern kaum standhalten können und Auswirkungen auf das Selbst zeigen. Folge ist, dass sie sich zurückziehen und anderen, wie der Großmutter, die Erziehung überlassen. Auch hier gibt es Hinweise in biografischen Texten, ebenso in wissenschaftlichen Untersuchungen (Walker 1987, Strom/ Daniels/ Jones 1988, Preston 1995). Auf meine Nachfrage hin erzählt mir Lena, dass sie im Kindergarten immer an die Hamster denken muss, die nicht zuhören und sich streiten und beißen. Entgegen meiner Erwartung, dass Lena mit Freude an ihre Hamster denkt und sie eigentlich gern bei ihnen wäre, hat sie negative Gedanken. Sie beklagt, dass die Hamster nicht zuhören. Unklar ist, ob sie es nicht können, also gehörlos sind, oder ob sie aufgrund ihrer Situation dazu nicht in der Lage sind, möglicherweise gar nicht zuhören wollen. Für mich deutlich stellt Lena hier symbolisch ihre Beziehung zu den Eltern dar. Sie fühlt sich nicht gehört, d. h. dass intersubjektives Erleben zwischen Lena und den Eltern nur ungenügend stattfinden kann. Verschiedene Selbstobjektfunktionen werden von ihnen nicht ausreichend erfüllt, insbesondere die Spiegelungsfunktion. Lena zeigt aber die Kompetenz, in anderen Personen Selbstobjekte zu finden. Es muss also Personen gegeben haben, seien es zumindest zeitweise die Eltern, sei es die Großmutter, die diese Fähigkeit bei ihr ermöglicht haben. Lena benötigt mich immer wieder, um bei mir die Selbstobjektfunktion des Alter-Ego erfüllt zu bekommen. Ich als hörender Mensch bin ihr hier ähnlich, kann nachvollziehen, was es bedeutet zu hören, aber auch was es bedeutet, nicht gehört zu werden. Ich kann empathisch ihre zeitweiligen Gefühle des Unverstandenseins und Alleinseins im Zusammenhang mit nicht-hörenden Eltern verstehen. Allerdings muss ich vermeiden, die Eltern und deren Befindlichkeit aus dem Blick zu verlieren, sonst kann ich nicht für diese die nötige Selbstobjektfunktion erfüllen. Zudem gerate ich in eine Konkurrenzsituation zu ihnen, die mich - ähnlich wie es die Großmutter tut - als die bessere Mutter erscheinen lässt. Dies wäre für die Erfüllung meines Frühförderauftrags kontraproduktiv. Die Hamster hören nicht zu, sondern streiten und beißen sich. Wie bereits erwähnt, steht der Käfig des Männchens von dem des Weibchens mit den Jungen getrennt. Beide vertragen sich nicht und ich erinnere mich, dass Lena mir oft davon erzählt, dass sie sich besonders nachts von ihrem Lärm gestört fühlt. Wenn ich auch hier davon ausgehe, dass Lena mir ihre Eltern in den Tieren präsentiert, so habe ich tatsächlich öfter den Eindruck, dass Lenas Vater und Mutter in der Erziehung häufiger uneins sind. Der Vater tritt für sie nicht genügend als jemand in Erscheinung, der als Selbstobjekt zur Verfügung stehen kann. Vater und Mutter scheinen für Lena weniger als vereintes denn als getrenntes Elternpaar deutlich zu werden. Sie sind in Streit verstrickt, den Lena als bedrohlich empfindet. Beim Abschied gibt mir Lena auf den Weg, dass ich so wie sie an die Hamster denken soll. Hier stellt sie den Wunsch nach Gemeinsamkeit her, den ich empathisch spüre und aus dem heraus ich ihr mitteile, dass ich auch an sie denken werde. Ich drücke damit aus, dass ich ihren Wunsch aufgenommen habe, jemanden zu haben, der sie versteht. Auch hier geht es um das Alter-Egobzw. Spiegelungsselbstobjektbedürfnis. Ebenso verhilft ihr die Erfüllung des Selbstobjektbedürfnisses nach Effektanz zu einer Stabilisierung ihres Selbst. 4. Schlüsse Das obige Fallbeispiel zeigt einen kleinen Ausschnitt aus der Frühförderarbeit. Es legt besonderen Wert auf die Verdeutlichung der empathischen Zugehensweise, um die kom- 76 Hiltrud Funk FI 2/ 2006 plizierte Situation eines hörenden Kindes mit gehörlosen Eltern zu verstehen und förderlich handeln zu können. Diese Szene ist verquickt mit den Aufgaben von Frühförderung, den Kindern Anregung und Förderung in entwicklungsrelevanten Bereichen zu geben. Schwerpunktmäßig ist das bei hörenden Kindern mit gehörlosen Eltern die Förderung des Hörens und des Sprechens, auch wenn nicht per se davon ausgegangen werden kann, dass die Kinder Probleme in der Sprachentwicklung haben (Grüner 2004). Im Beispiel kommt dieser Aspekt zum Tragen, indem über die Hamster und ihre Lebensweise gesprochen wird und implizite Sprachkorrekturen vorgenommen werden. Die Frühförderin steht als hörende Gesprächspartnerin dem Kind für seine Fragen und Anliegen zur Verfügung - eine Aufgabe, die der Förderung der Sprachentwicklung, aber auch der Erweiterung des Wissens dient. Darüber hinaus müssen die Kinder jedoch auch unterstützt werden, in ein Leben hineinzuwachsen, das ihnen ermöglicht, sich sicher sowohl in der hörenden als auch der gehörlosen Umgebung zu bewegen bzw. eine Integrationsleistung zu meistern, die auf sich teilweise widersprechenden Erfahrungen basiert. Diese Bemühungen können dann erfolgreich sein, wenn sie Eltern haben, die ausreichend kompetent sind. Es gilt also für die Frühförderin Vater und Mutter darin beizustehen, entsprechende Kompetenzen auszubilden, wenn sie noch nicht vorhanden sind, bzw. sie zu stützen. Bestandteil einer befriedigenden Eltern-Kind-Beziehung ist, dass die Eltern genügend empathisch ihrem Kind gegenüber sind. Eltern können dann empathisch sein, wenn sie jemanden haben, der ihnen gegenüber Empathie zeigt. Auf dem Hintergrund einer haltenden, förderlichen Beziehung zu einer Frühförderin können sie genügend Sicherheit entwickeln. Dadurch dass die Frühförderin auch die Bedürfnisse der Eltern notwendigerweise frustriert, jedoch optimal, d. h. nicht überfordernd, sondern responsiv ist, können die Eltern zu eigenen Wegen der Weiterentwicklung finden. Konkret bei Lenas Eltern gab ich deren Wunsch nicht nach, weitgehend mit ihr allein zu spielen, sondern bezog sie immer wieder ein. Auf der einen Seite erhalten Eltern damit die Gelegenheit, mit ihrem Kind in einer Art und Weise zusammenzusein, die durch das Beisein der Frühförderin einen sicheren Rahmen bildet. Auf der anderen Seite kann die Frühförderin als kompetente Person fungieren, die dem idealisierenden Selbstobjektbedürfnis entgegenkommt. Die Eltern können sie so als Modell gebrauchen. Wenn die Eltern allerdings das Gefühl haben, dass sie selbst die Bedürfnisse des Kindes nur unvollkommen erfüllen können, besteht die Gefahr, dass die Frühförderin als die bessere Mutter gesehen wird. Es geht in der Frühförderung also darum, sich „behutsam einzumischen“, wie es Maas formulierte (1999). Häufiger vermissen gehörlose Eltern Informationen über die kindliche körperliche und psychische Entwicklung, so dass sie unrealistische Vorstellungen über ihr Kind entwickeln (Funk/ Tratzki/ Tratzki 2001). Themen der Gespräche mit Eltern sind dementsprechend, welche Entwicklungsbedürfnisse das Kind hat und wie Eltern darauf eingehen können. Möglichen Überforderungen des Kindes gilt es entgegenzuwirken und den Eltern ein dem Kind angepasstes Verhalten zu ermöglichen. Dazu gehört auch, der Familie bei den Verhandlungen über die Bilingualität und Bikulturalität zu helfen. Häufig benutzen die Eltern die Gebärdensprache untereinander, sprechen aber mit dem Kind. Das Kind bleibt so von Teilen der Kommunikation ausgeschlossen. Dies ist auch umgekehrt der Fall, nämlich dann wenn die Kinder mit den Eltern nicht so sprechen, dass sie verstanden werden können. Häufige Missverständnisse sind die Folge, die sich auf Dauer auf die Beziehung auswirken. Die Frühförderin berät die Eltern in der Wahl und den Gebrauch des passenden Sprachmodus und stützt sie in der Verwendung der Gebärdensprache. Dadurch dass sie selbst idealerweise sowohl Lautsprache als FI 2/ 2006 Zuhören und verstehen 77 auch Gebärdensprache benutzt, kann sie zugleich dem Kind ein Vorbild sein. Für das Kind ist sie eine Person, die hören kann und die sich sowohl in der hörenden Umgebung als auch der gehörlosen ausreichend bewegt. Hörende Kinder von gehörlosen Eltern machen mit den Frühförderinnen Erfahrungen, die sie so mit ihren Eltern nicht machen können. Die Frühförderin erklärt die Namen und die Bedeutung von Geräuschen, sie hört ihnen zu, sie spricht mit ihnen normgerecht, sie führt sie u. U. in die Normen und Werte der hörenden Umgebung ein. Damit erfülllt sie eine Alter-Ego-Funktion, die dem Kind ermöglicht, Lernpotenziale auftauchen zu lassen. Es erfährt, dass es möglich ist, hören zu können und zu dürfen, aber auch gleichzeitig an der Sprache und Kultur der gehörlosen Menschen teilzuhaben. Die Kinder von gehörlosen Eltern können über den großen Vorteil verfügen, bikulturell und bilingual aufzuwachsen. Manchmal braucht die gemischt hörend-gehörlose Familie hier Unterstützung. Keinesfalls kann jedoch davon ausgegangen werden, dass Gehörlosigkeit automatisch einen Hilfebedarf hervorruft. Dieser wird sich wie immer in der Frühförderung individuell zeigen und formuliert werden. Eine spezialisierte Frühförderung sollte bereit sein, sich auf die Belange dieser Familie einzustellen und passende Angebote vorzuhalten. Anmerkungen 1 Die männliche Form wird gebraucht, wenn es um Berufsgruppen geht, die beide Geschlechter gleichermaßen umfassen. Die weibliche Form wird genutzt, wenn überwiegend Frauen tätig sind. 2 Die Namen der Personen entsprechen nicht den realen Namen. 3 Ich möchte an dieser Stelle den Mitgliedern der Werkstattgruppe familienorientierte Frühförderung danken, die mir eine wertvolle Hilfe bei der Interpretation waren. 4 Vielleicht wird hier wiederholt, was sich in Biografien von hörenden erwachsenen Kindern von gehörlosen Eltern immer wieder findet (z. B. Mayerhofer 1996). Meistens begründen die hörenden Großeltern, aber auch die gehörlosen Eltern, die Trennung von den Eltern damit, dass die Kinder besser sprechen lernen, wenn sie größtenteils bei den Großeltern leben. Literatur Freud, S. (1964): Gesammelte Werke VIII. Frankfurt Funk, H., Tratzki, C., Tratzki, S. (Hessisches Sozialministerium Hrsg.) (2001): Unser Baby ist da! Ratgeber für gehörlose Eltern. Wiesbaden Funk, H. (2004): Das nicht-gehörte Kind. Die Entfaltung des Selbst von hörenden Kindern mit hochgradig hörbehinderten Eltern. Möglichkeiten der Frühförderung. Frankfurt Grüner, B. (2004): Die Sprachentwicklung hörender (Vorschul-)Kinder hochgradig hörgeschädigter bzw. gehörloser Eltern. Hamburg Köhler, I. (1998): Das Selbst im Säuglings-und Kleinkindalter. Hartmann, H.-P. et al. (Hrsg.). Das Selbst im Lebenszyklus. Frankfurt, 26 - 48 Kohut, H. (1987): Wie heilt die Psychoanalyse? Frankfurt Kohut, H. (1996): Die Heilung des Selbst. Frankfurt Lichtenberg, L. D., Lachmann, F. M., Fosshage, J. L. (2000): Das Selbst und die motivationalen Systeme. Frankfurt Maas, D. (1999): Psychoanalytische Pädagogik und Frühförderung. Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie 4, 575 - 599 Mayerhofer, M. (1996): Zusammenleben Hörender mit Gehörlosen im Familienleben. Kongreßbericht 5. Internationaler Kongreß der Schwerhörigen und Spätertaubten. Graz Messerer, K. (1999): Ein psychoanalytisch-pädagogischer Blick in die Praxis der Mobilen Frühförderung. Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik, 63 - 83 Preston, P. (1995): Mother Father Deaf. Cambridge Stern, D. N. (1998): Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart Strom, R. D., Daniels, S., Jones, E. (1988): Parent Education for the Deaf. Educational and Psychological Research 2, 117 - 128 Walker, L. A. (1987): A Loss for Words. New York Werkstattgruppe familienorientierte Frühförderung (Hrsg.). (2000): Das behinderte Kind und seine Eltern. Heidelberg Winnicott, D. W. (1984): Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. Frankfurt Wolf, E. S. (1998): Theorie und Praxis der psychoanalytischen Selbstpsychologie. Frankfurt Dr. phil. Hiltrud Funk Pädoaudiologische Frühberatungsstelle für Hörgeschädigte an der Schule am Sommerhoffpark Gutleutstr. 295 D-60327 Frankfurt/ M. E-Mail: sommerhoffpark.fruehfoerderung@t-online.de 78 Hiltrud Funk FI 2/ 2006
