eJournals Frühförderung interdisziplinär 26/1

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2007
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Stichwort Zertifizierung

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2007
Seit Beginn der 1990er Jahre werden Einrichtungen und Dienste der Sozialen Arbeit verstärkt mit der Anforderung zum „Qualitätsmanagement“ konfrontiert:[…]
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FI 1/ 2007 37 Zertifizierung Hintergrund Seit Beginn der 1990er Jahre werden Einrichtungen und Dienste der Sozialen Arbeit verstärkt mit der Anforderung zum „Qualitätsmanagement“ konfrontiert: Sie sollen Kriterien für eine Bewertung der „Güte“ ihrer Handlungsweisen und Handlungsergebnisse benennen und dabei Verfahrensweisen für eine solche Bewertung entwickeln, die sowohl den komplexen Handlungsbedingungen in der Sozialen Arbeit angemessen sind als auch eine Transparenz schaffen, durch die ein folgenreiches Debattieren über Qualität zwischen den verschiedenen Beteiligten (Fachkräfte, Adressaten) und Interessenträgern (Finanzgeber, Politiker, Fachöffentlichkeit etc.) möglich wird. So sollen z. B. gem. § 76 SGB XII die Träger der Sozialhilfe mit dem Träger der Einrichtung „Grundsätze und Maßstäbe für die Wirtschaftlichkeit und die Qualitätssicherung der Leistung“ vereinbaren. Im Zuge der allgemeinen Diskussion um Verstärkung des Managements als Steuerungsmechanismus in Einrichtungen der Sozialen Arbeit wurde auch im Hinblick auf das Qualitätsthema gefragt, welche Konzepte und Methoden aus dem Wirtschaftsbereich in das Qualitätsmanagement der Sozialen Arbeit transferiert und wie diese dort nutzbar gemacht werden können. Bei diesen Überlegungen wurden die in der gewerblichen Dienstleistung erprobten Verfahren nach DIN ISO 9000 ff. und die darin verkoppelte Verleihung von Prüfsiegeln durch externe Auditoren (Zertifizierung) auch für Einrichtungen der Sozialen Arbeit diskutiert. Definition Bei der Zertifizierung handelt es sich um Verfahren des Qualitätsmanagements, • bei denen externe Prüfer (Auditoren) eine Einrichtung anhand von Qualitätskriterien überprüfen und bewerten, • bei denen die Prüfer ihre Basis in einem über die einzelne Einrichtung hinausweisenden und in einem einrichtungsübergreifenden Kontext entwickelten Katalog von Qualitätskriterien, Qualitätsstandards und Verfahren der Qualitätsbewertung finden und • bei denen die Prüfer aufgrund ihrer Prüfung ein nach innen und außen präsentierbares Gütesiegel verleihen. Zertifizierung wird zwar häufig bezogen auf den Normenkontext zum Qualitätsmanagement, der in den Bestimmungen DIN ISO 9000 ff. festgelegt ist, jedoch ist die Logik von Zertifizierung nicht auf diesen Normenkontext beschränkt. Die Verleihung von Gütesiegeln kann auch z. B. über Fachorganisationen in einem Arbeitsfeld nach vorher offengelegten Qualitätskriterien und Verfahrensmodalitäten organisiert werden. Ein Zertifikat nach DIN ISO 9000 ff. ist allerdings das bekannteste und ein allgemeines über die Spezifika eines Arbeitsfeldes hinausweisendes Gütesiegel. Angesichts der Verlautbarungen von Wohlfahrtsverbänden und Fachverbänden scheint die Zertifizierung von Einrichtungen in der qualitätsbezogenen Legitimationsstrategie vermutlich künftig einen bedeutsamen Stellenwert zu erhalten. Erwartete Wirkungen Diejenigen Träger von Einrichtungen, die eine Zertifizierung als „Qualitätsnachweis“ in Erwägung ziehen, lassen sich sowohl von innengerichteten als auch von außengerichteten Kalkülen leiten. Im Hinblick auf die Innenverhältnisse in ihrer Einrichtung erhoffen sie sich, • dass fachliche und verfahrensorientierte Standards definiert und in Geltung gesetzt werden, • dass auf diese Weise qualitative Standards und Anforderungen überprüfbar und damit für alle Mitarbeiter verbindlich gemacht werden und • dass durch die Regelmäßigkeit der Auditierung und der Notwendigkeit der Erneuerung von Zertifikaten das Bewusstsein für Qualitätskriterien und Qualitätsstandards wach gehalten wird, also der vom Zertifizierungsverfahren ausgehende Druck die Qualitätsnormen relativ kontinuierlich in Geltung hält. Nach außen, auf die Umwelt der Einrichtung gerichtet, erwartet die Befürworter von einer Zertifizierung, • dass angesichts der Unübersichtlichkeit bei den Einrichtungen und ihren Angeboten Transparenz und Sicherheit für die Bezugsgruppen der jeweiligen Einrichtung geschaffen wird, • dass die Einrichtung Wettbewerbsfähigkeit signalisiert und die eigene Marktposition gegenüber ihren Konkurrenten verbessert, • dass durch eine „freiwillige Selbstkontrolle“ die autonomen Handlungsspielräume der freien Träger gegenüber dem Staat verteidigt wer- Stichwort 38 Stichwort FI 1/ 2007 den und dass durch die Präsentation einer „Qualitätsgarantie“ die Legitimationsschwelle zum Eingriff staatlicher Institutionen hochgehalten wird. Kritik an Zertifizierung In der Qualitätsmanagementdiskussion in der Sozialen Arbeit sind deutliche Zweifel hinsichtlich der Realisierbarkeit der erhofften Wirkungen geäußert worden. Thesenartig lässt sich die Skepsis folgendermaßen zusammenfassen: • Es besteht das Risiko, dass der Verweis auf verbindliche Checklisten, Formulare oder Verfahrensanordnungen, die zum Gegenstand von Zertifizierungen gemacht werden, eher zu einer Verschiebung des Qualitätsthemas auf eine Ebene der Formalisierung führt, wodurch der eigentliche Sinn eines lebendigen Qualitätsmanagements, nämlich die aktive Reflexion der eigenen Arbeit, faktisch unterlaufen wird. • Es ist die Gefahr zu erkennen, dass sich das „Produkt Zertifikat“ gegenüber dem Prozess einer kontinuierlichen Qualitätsentwicklung verselbstständigt und zum zentralen Bezugspunkt für die Organisationsmitglieder wird. Das Zertifikat erhält einen eigenen Wert an sich: Das Zertifikat wird nicht mehr als (letztlich sekundärer) Ausfluss eines Prozesses der Qualitätsentwicklung betrachtet, sondern das Zertifikat steht im Mittelpunkt des Interesses und wird im Bewusstsein der Akteure zum primären Interessengegenstand. Mit Zertifizierung sickert allmählich ein Denken ein, das in Spannung steht zu einem Verständnis von Qualitätsentwicklung als kontinuierlichem und reflexivem Prozess. • Das durch das Zertifikat in Geltung gesetzte Symbol suggeriert ein höheres Maß an Transparenz und Sicherheit, das aber faktisch nicht eingelöst werden kann. Denn erst wenn sich ein Interessent intensiver mit den Grundlagen für die Zuerkennung eines Gütesiegels vertraut macht, zwischen Einrichtungen vergleicht und möglicherweise Differenzierungen zwischen Einrichtungen feststellt, gelangt der Interessent zu einem bewussteren Nutzerverhalten. Wenn ein Interessent dazu in der Lage wäre, dann könnte er auch ohne eine Zertifizierung zu den Informationen gelangen, die ihm einen besseren Vergleich ermöglichen. Der Mehrnutzen des Gütesiegels erschließt sich nicht. • Die differenzierende Wirkung von Zertifikaten im „Qualitätswettbewerb“ ist zur Zeit nicht abzusehen: Weder wird in den meisten Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit ein Zertifikat von den Bezugsgruppen als ein in der Regel erwartetes Gütesiegel angesehen noch vermag das Zertifikat in transparenter Weise zu unterscheiden zwischen guten und schlechten Einrichtungen. Neben diesen Zweifeln an der Realisierbarkeit der mit einem Qualitätszertifikat verbundenen Erwartungen werden weitere grundlegende Kritikpunkte an der Zertifizierungsstrategie geltend gemacht: so u. a. der Hinweis auf die damit verbundenen Kosten, die Überforderung von Organisationen bei der Überprüfung der Komplexität von Qualität, die bürokratisierenden Wirkungen von mit einer Zertifizierung einhergehenden Standardisierung des fachlichen Handelns, die Erzeugung eines falschen Scheins von vermeintlich interessenunabhängiger, „objektiver“ Qualität. Von den Kritikern einer Zertifizierung werden Verfahren einer reflexiven, jeweils fachlich auf das Arbeitsfeld ausgerichteten und an die Bedingungen in der Organisation angepassten Qualitätsentwicklung in der Sozialen Arbeit vorgeschlagen. Strukturierte Qualitätsentwicklung soll damit zum Bestandteil einer Realisierung des Leitbildes „lernfähige Organisation“ werden. Von einer Zertifizierung werden Effekte befürchtet, die einer Ausrichtung an diesem Leitbild entgegenstehen. Literatur Merchel, Joachim: Zertifizierung und Qualitätssiegel: Risiken für den Prozess der Qualitätsentwicklung in der Sozialen Arbeit. In: Peterander, F./ Speck, O. (Hrsg.), Qualitätsmanagement in sozialen Einrichtungen. 2. Auflage. München Basel (Reinhardt) 2004, S. 44 - 63 Merchel, Joachim: Organisationsgestaltung in der Sozialen Arbeit. Weinheim/ München (Juventa) 2005 Prof. Dr. Joachim Merchel Fachhochschule Münster Fachbereich Sozialwesen Hüfferstr. 27 D-48149 Münster