Frühförderung interdisziplinär
1
0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
71
2007
263
Stichwort: Verhaltensphänotyp
71
2007
Lange Zeit zeigten viele Praktiker in der Förderung von lern- oder geistig behinderten Kindern wenig Interesse an der Frage, welche Ursache die Behinderung des Kindes jeweils habe. In den letzten Jahren hat sich dies – auch im Bereich der Frühförderung –verändert.
1_026_2007_003_0139
FI 3/ 2007 139 Verhaltensphänotyp Lange Zeit zeigten viele Praktiker in der Förderung von lern- oder geistigbehinderten Kindern wenig Interesse an der Frage, welche Ursache die Behinderung des Kindes jeweils habe. In den letzten Jahren hat sich dies - auch im Bereich der Frühförderung - verändert. Sie fragen häufiger als früher nach Erfahrungen zu spezifischen Entwicklungs- und Verhaltensmerkmalen bei Kindern mit genetisch bedingter Behinderung. Bei derzeit 15 - 20 Syndromen lassen sich tatsächlich solche Merkmale eines „Verhaltensphänotypen“ angeben. Verhaltensphänotypen sind definiert als Entwicklungs- und Verhaltensmerkmale, die bei Kindern und Jugendlichen mit einem bestimmten genetischen Syndrom häufiger oder in stärkerer Ausprägung vorkommen als bei Kindern und Jugendlichen mit einer geistigen Behinderung anderer Ursache. Im Rahmen der Verbesserung der humangenetischen Untersuchungsmöglichkeiten zur Aufklärung der Ursachen von Behinderungen ist die Diagnosestellung nicht mehr allein - wie in früheren Jahren - auf die Beurteilung von körperlichen Entwicklungsbesonderheiten angewiesen, sondern zunehmend häufiger über molekulargenetische Analysen möglich. Durch die verbesserte Diagnostik sind auch viele Untersuchungen zu Entwicklungs- und Verhaltensmerkmalen der so identifizierten Kinder angeregt worden. Valide Aussagen über Merkmale des Verhaltensphänotyps setzen allerdings voraus, dass eine hinreichend große Zahl von Kindern mit einem Syndrom untersucht wurde, standardisierte Untersuchungsinstrumente (Fragebögen, Testverfahren) verwendet und ein Vergleich mit einer sorgfältig parallelisierten Gruppe gleichen Behinderungsgrades (anderer Ursache) durchgeführt wurde. Empirische Untersuchungen, die diese Kriterien erfüllen, liegen mittlerweile z. B. vor zu Kindern mit: Fragilem- X-Syndrom, Down-Syndrom, Prader-Willi-Syndrom, Williams-Beuren-Syndrom, Cornelia-de- Lange-Syndrom, Rett-Syndrom, Cri-du-Chat-Syndrom. Allerdings handelt es sich in den seltensten Fällen um Entwicklungs- und Verhaltensmerkmale, die speziell nur bei einer Gruppe von Kindern auftreten. Kinder mit genetischen Syndromen haben aufgrund ihrer Lernbeeinträchtigung viele Gemeinsamkeiten. Einige Merkmale sind allerdings bei bestimmten Gruppen besonders ausgeprägt oder häufig zu beobachten. Man spricht dabei von partieller Spezifität. Das Wissen um Verhaltensphänotypen ist für den Bereich der Frühförderung von Bedeutung. Es trägt dazu bei, die Diagnosemitteilung und Erstberatung von neu mit einer Diagnose konfrontierten Eltern zu verbessern. Allzu oft empfinden diese die ersten Botschaften über Lebenserwartung, Grad der Behinderung oder Schwere der künftigen Entwicklungs- und Verhaltensstörungen, die sie von Ärzten erhalten, als beängstigend, niederschmetternd und weitaus negativer, als sie ihr Kind später selbst erleben. Ein anschauliches, klares Bild von den Entwicklungsmöglichkeiten gibt ihnen Hoffnung und sensibilisiert sie für die spezifischen Hilfebedürfnisse, die bei Kindern mit dem entsprechenden Syndrom bekannt sind. Beides stellt einen wichtigen Schritt auf ihrem Weg dar, mit der Behinderung des Kindes umgehen zu lernen. Zweitens kann das Wissen um syndromspezifische Gemeinsamkeiten manchmal die Eltern von Schuldgefühlen entlasten, wenn sie mit schwierigen Verhaltensweisen konfrontiert sind. Das gilt z. B. für Eltern von Jungen mit Fragilem-X-Syndrom, denen nicht selten erzieherische Unfähigkeit vorgeworfen wird; mit Klärung der Diagnose wird aber deutlich, dass ihre Kinder im Alltag ausgeprägte, biologisch bedingte Probleme der Selbstregulation haben, die für alle Beteiligten eine besondere Herausforderung darstellen. Drittens erleichtert die Kenntnis von syndromspezifischen Entwicklungs- und Verhaltensmerkmalen das Verständnis, bei welchen Anforderungen das Kind in besonderer Weise auf die Unterstützung des Erwachsenen bzw. Anpassungen in der Umgebung angewiesen ist. Ein solches Wissen kann sehr wirksam dazu beitragen, belastenden Verhaltensproblemen entgegenzuwirken durch die Förderung von auf das jeweilige Fähigkeitsprofil abgestimmten kompensatorischen Strategien und so die soziale Integration erleichtern. Allerdings ist die Verwendung des Wissens um Verhaltensphänotypen in der Beratung nicht ohne Risiko. Wenn schwerwiegende Verhaltensauffälligkeiten als Merkmale mitgeteilt werden müssen, kann dies die Angst der Eltern vor der Zukunft verstärken. Zweitens kann der Eindruck einer allein genetisch-biologischen Determinierung des Entwicklungsweges und der Verhaltensanpassung des Kindes entstehen. Dies ist mit dem Konzept der Verhaltensphänotypen keinesfalls intendiert. Vielmehr muss in der Beratung immer darauf hingewiesen werden, dass es eine beträchtliche inter- und individuelle Variabilität von Entwicklungsmerkmalen bei Kindern mit dem gleichen Syndrom gibt und die Kinder nicht in ihrer gesamten Interaktion Stichwort Frühförderung interdisziplinär, 26. Jg., S. 139 -140 (2007) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 140 Stichwort/ Kurz berichtet FI 3/ 2007 mit der Umwelt durch ihre genetische Anlage geprägt sind, wohl aber eine Disposition zu bestimmten Verhaltensweisen besteht. Syndromspezifische Anlagen sind nur eine unter vielen verschiedenen Bedingungen, die zur sozialen und emotionalen Entwicklung von Kindern mit Behinderung beitragen. In der Praxis gilt es, syndromspezifische Dispositionen in ein bio-psycho-soziales Bedingungsmodell auffälliger Verhaltensweisen bei Kindern mit (geistiger) Behinderung zu integrieren, bei dem der Hilfebedarf des Kindes als Ausdruck von Defiziten in der Entwicklung von sozial-kognitiven Kompetenzen und Fähigkeiten der emotionalen Selbstregulation sowie als Folge der sozialen Erfahrungen des Kindes in der Interaktion mit seinen Eltern, Erziehern und anderen Kindern verstanden wird. Informationen über den Verhaltensphänotyp verschiedener Syndrome können am besten über Kontakte zu Selbsthilfegruppen erfragt werden, in denen sich Eltern von Kindern mit bestimmten Syndromen zusammengeschlossen haben. Sie sind gerade bei sehr seltenen Syndromen die „Experten“. Eine Monografie (Sarimski, 2003) stellt das pädagogisch-psychologische Wissen zu den häufigsten Syndromen zusammen. In der „Society for the Study of Behavioral Development“ (SSBD) haben sich internationale Fachleute aus verschiedenen Berufsgruppen zusammengeschlossen zum fachlichen Austausch und zur Organisation von Fachtagungen. Literatur Sarimski, K. (2003). Entwicklungspsychologie genetischer Syndrome. 3. überarb. u. erw. Auflage. Hogrefe, Göttingen Prof. Dr. rer. nat. Klaus Sarimski Pädagogische Hochschule Heidelberg Postf. 10 42 40 D-69032 Heidelberg Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme (BMFSFJ) Mit dem Bundesprogramm „Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme“ soll der Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern wirksam vorgebeugt werden. Ziel ist es, Risiken für Kinder möglichst frühzeitig zu erkennen und die Erziehungskompetenz ihrer Eltern zu verbessern. Im Fokus des Programms stehen vor allem Kinder bis zu etwa drei Jahren sowie Schwangere und junge Mütter und Väter in belastenden Lebenslagen. Um die Zielgruppe wirkungsvoll zu erreichen und fachlich kompetent lückenlos begleiten zu können, müssen Gesundheitssystem und Kinder- und Jugendhilfe eng miteinander verzahnt werden. Der Bund stellt für das Programm zehn Millionen Euro bereit. Die Umsetzung des Programms erfolgt in enger Abstimmung mit den Ländern und den Kommunen. In verschiedenen Regionen Deutschlands existieren bereits einzelne lokal begrenzte Projekte und Modelle zur Unterstützung der Entwicklung und zu einem besseren Schutz in der frühen Kindheit. Um an deren Erfahrungen anzuknüpfen, hat das Deutsche Jugendinstitut im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend einige gemeinsam mit den Ländern ausgewählte Projekte in einer Kurzevaluation hinsichtlich ihrer Stärken und Schwächen und offener Fragen untersucht. Auf Grundlage dieser Ergebnisse erfolgt die gezielte Förderung von Modellprojekten sowie deren wissenschaftlicher Begleitung und Wirkungsevaluation. Modellvorhaben gestartet Der Bund fördert zunächst eine Pilotstudie zu dem für das laufende Jahr geplanten Gemeinschaftsprojekt „Guter Start ins Kinderleben“, das von den Ländern Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland- Pfalz und Thüringen mit dem Ziel entwickelt wird, die vorhandenen Angebote der Jugend- und Gesundheitshilfe systematisch miteinander zu vernetzen. (In den beiden bayerischen Standorten sind auch die regionalen Frühförderstellen in das Projekt mit einbezogen. Anm. d. Red.) Ein weiteres wichtiges Modellprojekt startete Anfang November 2006 in Niedersachsen, weitere Länder sind an der Teilnahme interessiert. „Pro Kind“ setzt auf die Prävention schon während der Schwangerschaft und in den ersten Lebensjahren. Erstgebärende Schwangere, die sich in einer sozialen Problemlage befinden, die minderjährig Kurz berichtet
