eJournals Frühförderung interdisziplinär 26/4

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2007
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Praktische Erfahrungen mit der Verwendung einer ICF-Checkliste für die Interdisziplinäre Frühförderung ("ICF-Checkliste IFF")

101
2007
Marijke Kaffka-Backmann
Liane Simon
Annette Grunwaldt
Durch die Erprobung der Praktikabilität in zwei Frühförderstellen konnte festgestellt werden, dass die „ICF-Checkliste IFF“ als disziplinenübergreifendes Klassifikationssystem im Rahmen der Komplexleistung Frühförderung für Kinder mit komplexen Entwicklungsproblemen hilfreich ist. Es setzt allerdings die Bereitschaft aller Beteiligten voraus, die eigenen fachspezifischen Erkenntnisse transparent zu machen, zur Diskussion zu stellen und in ein Ganzes zu integrieren.
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Praktische Erfahrungen mit der Verwendung einer ICF-Checkliste für die Interdisziplinäre Frühförderung („ICF-Checkliste IFF“) MARIJKE KAFFKA-BACKMANN, LIANE SIMON, ANNETTE GRUNWALDT Zusammenfassung: Durch die Erprobung der Praktikabilität in zwei Frühförderstellen konnte festgestellt werden, dass die „ICF-Checkliste IFF“ als disziplinenübergreifendes Klassifikationssystem im Rahmen der Komplexleistung Frühförderung für Kinder mit komplexen Entwicklungsproblemen hilfreich ist. Es setzt allerdings die Bereitschaft aller Beteiligten voraus, die eigenen fachspezifischen Erkenntnisse transparent zu machen, zur Diskussion zu stellen und in ein Ganzes zu integrieren. Schlüsselwörter: ICF-CY, Frühförderung, Praxiserprobung, Evaluation Practicing an IFC-CY Checklist in Early Intervention: Experiences and Evaluation Summary: The evaluation regarding to the practicability of the ICF-CY checklist in two Early Intervention Centres shows that it is a helpful classification system across multiple disciplines for children with complex development deficiencies. However it implies the involved persons’ cooperativeness in making transparent their specialised knowledge, discuss it and integrate it. Keywords: ICF-CY, early intervention, practice, evaluation Frühförderung interdisziplinär, 26. Jg., S. 167 -172 (2007) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Die Anforderungen in der interdisziplinären Frühförderarbeit sind vielfältig. Gleichzeitig sind die Informationen, die wir über ein Kind in seinem Umfeld sammeln, mindestens ebenso vielfältig. Unsere Fragestellung war immer wieder, wie wir diese unterschiedlichen fachrichtungs- und alltagsbezogenen Informationen einerseits bündeln können, ohne dabei wichtige Inhalte zu verlieren und dabei gleichzeitig die sich daraus ergebenden Interpretationen und Einschätzungen direkt in die Frühförderarbeit mit dem Kind, der Familie und anderer in Beziehung zu dem Kind stehenden Personen oder Institutionen einfließen lassen zu können. Entwicklung einer Checkliste auf der Basis der ICF Schon bei der ersten Beschäftigung mit der ICF wurde deutlich, dass das dort vertretene bio-psycho-soziale Modell eben diesen Anforderungen durch Sammlung ressourcen-, prozess- und beeinträchtigungsbezogener Informationen unterschiedlicher Fachrichtungen in einer gemeinsamen Sprache gerecht werden kann. Immer wieder werden bei uns kleine Kinder angemeldet, die im unteren Bereich ihrer Entwicklungsmöglichkeiten liegen, deren Eltern z. B. psychisch erkrankt sind und denen Frühförderung verwehrt wird, weil ein Defizit bei den Eltern zwar gesehen, eine Problemlage beim Kind aber nicht daraus abgeleitet wird. Ebenso haben wir Probleme, Bewilligungen für Kinder im ersten Lebensjahr, deren Eltern drogenabhängig sind, zu bekommen. Da kein Klassifikationssystem diese Problematik erfasst, ist das Kind weder krank noch behindert und entsprechend bekommt es keine Frühförderleistungen. Auf der anderen Seite sehen wir aber auch Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten, welche kausal als Erziehungsproblem gedeutet werden und sich schließlich z. B. als Sekundärsymptomatik einer nicht festgestellten Hörschädigung erweisen. Dies sind nur drei kurze, alltägliche Beispiele für fachlich einseitige, defizitorientierte und individualistische Zuordnungen. Die 168 Kaffka-Backmann, Simon, Grunwaldt FI 4/ 2007 Reduktion auf die medizinische Feststellung eines kindlichen Defizits ist fachlich heute ebenso wenig haltbar wie die rein pädagogische Feststellung eines Teilhabedefizits beim Kind ohne Kenntnis seiner körperlichen Ressourcen. Der Anspruch an die Erbringung der Komplexleistung Frühförderung muss hoch sein. Unsere Kinder bekommen gerade deshalb Frühförderung, weil sie komplexe Probleme bei oftmals versteckten Ressourcen haben. Diese Ressourcen aufzuspüren, zu aktivieren und in einen gelungenen, transdisziplinären Frühförderprozess zu integrieren ist unsere vornehmliche Aufgabe. Gerade bei der Vielfalt unseres Wissens wird dies nur durch eine umfassende Sichtweise der Situation des Frühförderkindes in seiner Familie gelingen. Die an der Frühförderung Beteiligten ermöglichen dies durch institutionalisiertes Einbringen ihrer unterschiedlichen fachlichen Ressourcen, durch gegenseitigen Respekt, Erkennen der eigenen Grenzen und durch die Integration der Erkenntnisse anderer, auch und insbesondere der Eltern, in das eigene fachliche Handeln. Die Idee, die ICF-CY speziell auf den Frühförderbereich (von der Geburt bis zur Einschulung) auszurichten, erwies sich bei der Sichtung schnell als sinnvoll. Einige Items sind für den frühen Bereich der Kindheit allerdings nicht anwendbar. Unsere Fragestellung war: Wie können wir zu einem ICF-basierten Förder- und Behandlungsplan kommen? So sichteten wir gemeinsam mit Olaf Kraus de Camargo und Jürgen Kühl die einzelnen Items, verglichen diese auch mit dem englischen Text und passten sie an unser Tätigkeitsfeld an. Nach dieser theoretischen Bearbeitung folgte im nächsten Schritt die praktische Überprüfung und wir luden Frühförderkinder mit ihren Eltern zu einer interdisziplinären, ICF-basierten und dokumentierten Verlaufsdiagnostik in unsere Frühförderstelle ein. Die Kinder waren uns schon bekannt. Entsprechend wurden die Diagnostik-Teams interdisziplinär zusammengestellt mit Fachkräften aus den Bereichen Frühförderin/ Heilpädagogin, Frühförderin/ Physiotherapeutin, Frühförderin/ Ergotherapeutin und Frühförderin/ Psychologin sowie einem Sozialpädiater. Die Diagnostik wurde videounterstützt durchgeführt. Als nächster Schritt mussten nun die gewonnenen Erkenntnisse in die „ICF-Checkliste IFF“ einfließen. Dies erfolgte im Team. So gingen wir nach und nach gemeinsam die Items der bei Kraus de Camargo (in diesem Heft) beschriebenen ICF-Checkliste durch und erhielten schließlich überraschende, aber auch bestätigende Ergebnisse zur weiteren Vorgehensweise der Frühförderung (Förder- und Behandlungsplan) der Kinder. Letztlich wurde mit den Eltern der Förder- und Behandlungsplan abgestimmt, überprüft und verbindlich vereinbart. Uns war es gelungen, in systematischer Weise die unterschiedlichen ärztlichen, pädagogischen, therapeutischen und administrativen Erkenntnisse in ein Ganzes zu integrieren. Praxisbeispiel Karl (Name geändert) ist zum Zeitpunkt der Interdisziplinären Diagnostik 6 Jahre alt. Er lebt allein mit seiner Mutter. Karl besucht seit 2 Jahren den Kindergarten. Vor einem Jahr wechselte er dort in eine Gruppe mit 16 Kindern im Alter von 3 - 6 Jahren. Eine Einzelintegration im Kindergarten findet seit 2 Jahren auf Betreiben der Mutter statt. Gleichzeitig erhält er Ergotherapie, zeitweise Sprachförderung in einer Sprachheilambulanz. Es finden regelmäßig Hilfeplangespräche mit dem als Kostenträger der Maßnahme zuständigen Jugendamt statt. Die ärztliche Diagnose lautet: Entwicklungsverzögerung mit Verhaltensauffälligkeiten, sprachliche Defizite, Verdacht auf ADHS. Hierzu hat ihn der zuständige Kinderarzt an ein SPZ überwiesen, die Mutter hat diese Möglichkeit für ihr Kind aber nicht wahrgenommen. FI 4/ 2007 Praktische Erfahrungen mit der ICF-Checkliste 169 Die zuständige Frühförderin (Dipl-Sozialpädagogin) beschreibt Karl folgendermaßen: „Karl ist ein freundlicher aufgeschlossener Junge. In der Kindertagesstätte ist er akzeptiert und hat feste Spielkameraden. Er lacht gern und erzählt phantasiereich. Dabei vermischen sich Realität und Traumwelt. Wenn etwas nicht seinen Vorstellungen entspricht, braust er schnell und unangemessen auf. Dabei kommt es zu körperlichen und recht aggressiven Auseinandersetzungen mit Kindern und Erwachsenen. Seine Frustrationstoleranz ist niedrig. Aufgrund starken Kariesbefalls wurden ihm die oberen Schneidezähne gezogen. Er nässt zurzeit wieder nachts ein. Insgesamt zeigen sich seine Probleme eher im sozial-emotionalen Bereich. Unterschiedliche Wertemuster zwischen Kindergarten und häuslicher Situation verunsichern Karl zusätzlich. Aus seinem häuslichen Erfahrungsbereich scheinen ihm Verbindlichkeit, zuverlässige Strukturen und Annahme seiner Person zu fehlen. Im Bereich der Kognition zeigt er altersentsprechende Fähigkeiten. Beim Spielverhalten sind stereotype Spielaktionen zu beobachten. Andere Kinder oder neue Regeln irritieren ihn und machen ihn zunächst handlungsunfähig. Oft wird er dann laut und handgreiflich. Gern nimmt er an Aktivitäten und Bastelangeboten teil und zeigt exploratives Interesse. Karl kann sich lange mit einer Sache beschäftigen, wobei er den Eindruck erweckt, mehr Zeit zum Überlegen als zum Handeln zu benötigen. In einer Kleingruppe bis zu 5 Kindern zeigt er altersentsprechende Ausdauer und Konzentration.“ Die behandelnde Ergotherapeutin berichtet unter anderem: „Karl hat große Schwierigkeiten, Regeln und Grenzen zu akzeptieren. Er zeigt bei Misserfolgen eine geringe Frustrationstoleranz und richtet dann seine Wut an die beteiligten Mitmenschen. In diesen Wutausbrüchen empfindet er scheinbar wenig Grenzen. Dann tritt er oder schlägt. Ebenso zerstört oder beschädigt er Gegenstände. In solchen Momenten erlebe ich Karl völlig verzweifelt und ohne Lösungsstrategien. Die Mutter verhält sich in ihren Äußerungen und Maßregelungen oft nicht eindeutig. Aus meiner Sicht bestehen Interaktionsschwierigkeiten zwischen Mutter und Kind. Die Mutter schildert mir immer wieder Unruhe und provokantes Verhalten von Karl im Alltag. In der Behandlung ist Karl leicht ablenkbar. Er benötigt immer wieder Struktur von außen, um eine Handlung zu Ende zu bringen. Karl ist bewegungsfreudig. Durch einen hypotonen Grundtonus benötigt er Bewegungsreize, um seinen Körper ausreichend wahrnehmen zu können. Kompensatorische Muskelgrundspannung erreicht er kurzfristig über den Zehenspitzengang. Der geringe Muskeltonus wirkt sich auch auf die Sprache negativ aus in Form von Ausspracheschwierigkeiten. Im graphomotorischen Bereich zeigen sich Unsicherheiten durch mangelnde Schulter- Arm-Hand-Beweglichkeit sowie Auge- Hand-Koordinationsschwierigkeiten.“ Es wurde ein Termin in der Frühförderstelle vereinbart, an dem Karl zusätzlich ärztlich und psychologisch untersucht wurde. Insgesamt überraschte Karl hier durch den deutlichen Unterschied in seiner Bereitschaft mitzumachen: bei der Untersuchung der körperlichen Fähigkeiten zeigte er oft Vermeidungsverhalten, da ihm viele Aufgaben schwer fielen (geringe Frustrationstoleranz) und die Strukturen für ihn nicht erkennbar waren. Bei der Untersuchung der kognitiven Fähigkeiten zeigte sich, dass Karl ein klares Gegenüber braucht, um seine Aufmerksamkeit fokussieren zu können. Er war gut motivierbar und anzuspornen. Besonders gut ist Karls abstraktes Denkvermögen, Schwierigkeiten hat er in der Kategorienbildung. 170 Kaffka-Backmann, Simon, Grunwaldt FI 4/ 2007 Weiterhin wurde deutlich, dass die Beziehung zwischen Karl und seiner Mutter gestört ist, sowohl in der Interaktion als auch auf der Gefühlsebene, die Mutter verhält sich sehr ambivalent und Karl erwartet keine Unterstützung von ihr. Im Kontakt zur Mutter und in der Veränderung der häuslichen Situation sollte ein Schwerpunkt der weiteren Förderung liegen. Auch Karls nächtliches Einnässen wurde als in diesen Zusammenhang gehörend eingeschätzt. Die anschließende gemeinsame Diskussion ergab folgende Ressourcen und Förderziele nach der ICF-Checkliste: Ressourcen: Förderziele: Im Bereich Aktivität und Partizipation: D160: Aufmerksamkeit fokussieren D175: Probleme lösen D143: Kindliche Konzeptbildung und Kategorisierung D7: Interpersonale Interaktionen Im Bereich Körperfunktionen: B140: Aufmerksamkeit B147: Psychomotorische Funktionen B180: Selbstwahrnehmung und Zeitwahrnehmung Im Bereich Kontext- und Umweltfaktoren: E410: Einstellungen der Eltern E575: Andere soziale Unterstützung Für den Förderplan wurde festgelegt, dass weiterhin Einzelintegration im Kindergarten mit dem Schwerpunkt Elternarbeit sowie Ergotherapie erforderlich sei, eine Erziehungsberatung lehnte die Mutter ab. Es wurde eine soziale Trainingsgruppe für Kinder durch einen externen Anbieter zusätzlich vorgeschlagen und auch angenommen. Der Leistungsträger der Maßnahme wurde darüber im Hilfeplangespräch informiert. Insgesamt wurde die Einschätzung der Frühförderin und der Ergotherapeutin bestätigt. Die Frage nach seinen kognitiven Fähigkeiten führte dazu, eine seiner Ressourcen zu erkennen. Die ICF-Checkliste wurde geschätzt als Strukturierungshilfe und beschleunigte den Entscheidungsprozess bezügl. der Förderschwerpunkte. Evaluation der „ICF-Checkliste IFF“ Nach dieser praktischen Erprobung wurden erneut Korrekturen an der ICF-Checkliste/ IFF vorgenommen. Im folgenden Schritt erhielten alle Fachkräfte der beiden Frühförderstellen die ICF-IFF-Checkliste mit der Bitte, diese für die Kinder, die sie derzeit betreuen, auszufüllen. Hier ging es um die Praktikabilität im laufenden Frühförderalltag und um eine fachliche Auswertung. Nachdem die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Frühförderstellen erste Erfahrungen sammeln konnten, wurden sie in einer anonymen Befragung zu folgenden Punkten um ihre Meinung gebeten: Karls Neugier, D 121: zielgerichtete sensorische Exploration seine guten kognitiven Fähigkeiten, B 117: Intelligenz sein Interesse an anderen Kindern, D 750: Beziehungen zu Gleichaltrigen seine Phantasie. B 126: Funktionen von Temperament und Persönlichkeit Eine weitere Ressource ist, dass die Mutter mittlerweile, wenn auch diffus, eingestehen kann, „dass mit Karl etwas ist“. E 410: Einstellungen der Eltern Beurteilung 1 2 3 4 5 ∑ (sehr (gar Nennun- Frage gut) nicht) gen 1. Die einzelnen Items waren 1 8 13 4 0 26 für mich verständlich 2. Die ICF-Checkliste konnte 4 8 11 3 0 26 ich gut ausfüllen 3. Die benötigte Zeit war für 3 11 7 3 0 24 mich angemessen 4. Die Ergebnisse sind für die 3 4 11 5 1 24 eigene Arbeit relevant 5. Es ergaben sich neue 0 13 9 2 2 26 Erkenntnisse 6. Ich halte die ICF-IFF-Checkliste 4 7 6 9 0 26 für hilfreich für die eigene Arbeit 7. Ich halte die ICF-IFF-Checkliste 5 14 7 0 0 26 für hilfreich im Austausch mit anderen Fachdisziplinen 8. Die Checkliste gibt Argumen- 3 15 8 0 0 tationshilfen für Beginn/ Fortführung/ Beendigung der Maßnahme Tabelle: Beurteilung der ICF-FF-Checkliste durch Frühförderinnen N = 26 (nicht alle Fragen durchgehend beantwortet, absolut) FI 4/ 2007 Praktische Erfahrungen mit der ICF-Checkliste 171 1. Die einzelnen Items waren für mich verständlich 2. Die ICF-Checkliste konnte ich gut ausfüllen 3. Die benötigte Zeit war für mich angemessen 4. Die Ergebnisse sind für die eigene Arbeit relevant 5. Es ergaben sich neue Erkenntnisse 6. Ich halte die ICF-IFF-Checkliste für hilfreich für die eigene Arbeit 7. Ich halte die ICF-IFF-Checkliste für hilfreich im Austausch mit anderen Fachdisziplinen 8. Die Checkliste gibt Argumentationshilfen für Beginn/ Fortführung/ Beendigung der Maßnahme Von 50 mit der ICF beschäftigten Frühförderinnen bewerteten 26 diese Fragen auf einer Skala von 1 (sehr gut) bis 5 (gar nicht). Die Ergebnisse zeigt die folgende Tabelle. Während der Entwicklung der ICF-IFF- Checkliste wurde in Gesprächen deutlich, dass den in der Frühförderung tätigen Fachkräften die in der ICF „neuen“ Teile, nämlich Partizipation und Kontextfaktoren, längst vertraut sind. Allerdings ist hier auch die ressourcenorientierte Betrachtung der Kontextfaktoren beim Ausfüllen der Checkliste zum Teil hinderlich, da die benötigte Unterstützung der Familie manches Mal nicht in dieser Deutlichkeit festgehalten wurde. Die ICF-Checkliste wurde mit den Eltern besprochen und auch dies führte zu Hemmungen hinsichtlich der Bestätigung eines Unterstützungsbedarfes im Bereich der Kontextfaktoren. Es bleibt die Frage, ob Fachkräfte insbesondere der Pädagogik-Disziplin in ausreichendem Maß ihre Sichtweisen erklären und vertreten. In diesem Sinn wäre die Checkliste möglicherweise ein Schulungsmittel zur Interdisziplinären Zusammenarbeit, auch wenn die Fragen, ob sich neue Erkenntnisse ergaben (5), und nach der Ergebnisrelevanz für die eigene Arbeit (4) zum Teil eher verneint wurden. Nachfragen zum Ausfüllen der Checkliste gab es überwiegend zu den ersten Teilen, Körperfunktionen und Körperstrukturen. Diese Nachfragen waren hauptsächlich Verständnisfragen und Fragen zu der Befähigung, als Frühförderin/ Frühförderer diese zu beantworten. Die ICF-Checkliste als nicht standardisierte und individuell zu beurteilende Diskussionsgrundlage erfordert ein Umdenken hinsichtlich der Fragen: Wer ist für was zuständig? Wer darf und kann was beurteilen? Und: Was ist damit gemeint? So hat z. B. die Frage nach dem Bewusstsein B110 für Fachkräfte der Pädagogik eine andere Bedeutung als für Fachkräfte der Medizin. Das sehen wir auch als Begründung für die Ergebnisse der Fragen 1 und 2. Durchgängig eher positiv wurden die beiden letzten Fragen beantwortet und hier sehen wir auch den größten Nutzen der Checkliste: Es besteht die Möglichkeit, eine Diskussion in disziplinenübergreifender Sprache zu führen. Der interdisziplinäre Austausch kann dadurch unterstützt werden, allerdings nur, wenn alle Beteiligten daran und an einer kooperativen Haltung interessiert sind. Für die Beantragung bei Kostenträgern ist es hilfreich, dass nun eine Behinderung oder eine drohende Behinderung sinnvollerweise auch mithilfe der Kontextfaktoren sowie Aktivität und Partizipation begründet werden kann. Die „ICF-Checkliste IFF“ wird überwiegend als hilfreich für den interdisziplinären Austausch und die Begründung zur Fortführung oder Beendigung einer Maßnahme eingeschätzt. Damit bekommt sie aus unserer Sicht einen großen Stellenwert bei der derzeitigen Entstehung von Interdisziplinären Frühförderstellen für die zukünftige Arbeit. Sie kann dazu beitragen, disziplinenübergreifend in die Diskussion zu kommen. Das erfordert sowohl eine sorgfältige fachspezifische Überprüfung des Kindes jeder an der Checkliste beteiligten Fachkraft mit den ihrer Disziplin entsprechenden Diagnostikverfahren und dann auch die Bereitschaft, die daraus entstandenen Empfehlungen in einen größeren fachübergreifenden Zusammenhang zu stellen. Dies wiederum kann einerseits nur mit einem bestimmten Maß an beruflichem Selbstbewusstsein gelingen und andererseits mit dem Interesse aller an der Förderung von Transdisziplinarität. Hier liegen aus unserer Sicht die größten Chancen und die größten Risiken der Checkliste dicht beieinander. Das gilt auch für die Kooperation mit den Eltern. Eventuell vorhandene Ressentiments unter Fachleuten sind hier hinderlich. Eine im stillen Kämmerlein ausgefüllte „ICF-Checkliste IFF“ durch eine einzige Person halten wir für ebenfalls nicht sinnvoll. Es wird mit der „ICF-Checkliste IFF“ noch einmal eine bekannte Tatsache hervorgehoben: Sinnvolle, hilfreiche und effiziente Frühförderung kann nur gemeinsam gelingen und nicht gegeneinander. Dazu kann eine gemeinsame Sprache beitragen. Marijke Kaffka-Backmann Frühförderstelle der Marli GmbH Lübeck Sophienstraße 19-21 D-23560 Lübeck Liane Simon Leiterin Frühförderung und Beratungsstelle für Integration Diakonisches Werk Niendorf Niendorfer Straße 38 D-22848 Norderstedt Annette Grunwaldt Frühförderung und Beratungsstelle für Integration Niendorfer Straße 38 D-22848 Norderstedt 172 Kaffka-Backmann, Simon, Grunwaldt FI 4/ 2007