eJournals Frühförderung interdisziplinär 26/1

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2007
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Die Heilpädagogische Übungsbehandlung

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2007
Dieter Gröschke
Begründet und entwickelt und in die Ausbildung pädagogischer Fachkräfte der Behindertenhilfe eingeführt haben das Konzept der Heilpädagogischen Übungsbehandlung (HPU) die Erzieherin und Heilpädagogin Clara Maria von Oy (geb. 1929) und der Theologe und Psychologe Alexander Sagi (1929 – 1993).
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Wer hat sie entwickelt? Begründet und entwickelt und in die Ausbildung pädagogischer Fachkräfte der Behindertenhilfe eingeführt haben das Konzept der Heilpädagogischen Übungsbehandlung (HPÜ) die Erzieherin und Heilpädagogin Clara Maria von Oy (geb. 1929) und der Theologe und Psychologe Alexander Sagi (1929 - 1993). Seit nunmehr mehr als 30 Jahren ist die HPÜ fester Bestandteil der Methodenausbildung in zahlreichen Ausbildungsstätten (Fachschulen und Fachhochschulen) für Erzieher, Heilerziehungspfleger und Heilpädagogen. Die erste Auflage des „Lehrbuchs der heilpädagogischen Übungsbehandlung - Hilfe für das behinderte und entwicklungsgestörte Kind“ erschien 1975 (Ravensburger Verlag), die inzwischen 14. Auflage erschien 2004 (Universitätsverlag Winter, Edition S). Clara Maria von Oy war nach beruflichen Tätigkeiten in der erzieherischen Praxis, der stationären Behindertenhilfe und in der Kinderklinik ab 1969 Dozentin am Heilpädagogischen Seminar in Freiburg, das 1971 mit Gründung der Katholischen Fachhochschule Freiburg in den Fachbereich Heilpädagogik überging, und ab 1979 Professorin für Heilpädagogik und Praxisberatung (1989 emeritiert). Alexander Sagi (geb. 1929 in Ungarn), katholischer Priester, studierte Psychologie und Medizin und arbeitete seit seiner Immigration nach Deutschland lange Jahre in der stationären Geistigbehindertenhilfe, leitete anschließend das Heilpädagogische Seminar in Freiburg und war dort bis zu seinem Tod im Fachbereich Heilpädagogik Professor für Heilpädagogik und Praxisberatung. Wie erklärt sich die Methode damals und heute? Die HPÜ versteht sich von Anfang an als pädagogisch ausgerichtetes Konzept für die Entwicklungsförderung und -begleitung von Kindern mit Entwicklungsstörungen und Behinderungen, vor allem für Kinder mit Formen einer geistigen Behinderung. Integraler Bestandteil dieses Förderkonzepts ist auch die konsequente Einbeziehung, Beratung und Anleitung der Eltern des entwicklungsauffälligen Kindes (Eltern- und Familienorientierung). In ihren pädagogischen und psychologischen Grundlagen orientiert sich die HPÜ an der normalen Entwicklung im frühen Kindesalter, wobei Sensomotorik, Grob- und Feinmotorik, Kognition, Sprache, Emotionalität und Motivation als die für die kindliche Entwicklung entscheidenden Funktionsbereiche gelten. Durch die konkreten Förderangebote im Rahmen der HPÜ werden zwar umschriebene Funktionsbereiche gezielt angeregt (vor allem Sensomotorik, Wahrnehmung und Handgeschicklichkeit), ausdrücklich betont wird jedoch stets der integrale, ganzheitliche Anspruch und Ansatz der Entwicklungsförderung. Als Konsequenz dieser ganzheitlichen Sicht der kindlichen Entwicklung und ihrer Anregung und Unterstützung steht deshalb das kindliche Spielen im Zentrum der Aufmerksamkeit, sowohl was die Diagnostik (durch Spielverhaltensdiagnostik) als auch die Förderung (durch „Übungsbehandlung“) betrifft. In seinen spielerischen Aktivitäten realisiert das Kind alle seine Funktionen und erworbenen Fähigkeiten in koordinierter und organisierter Form auf seinem jeweils höchsten erreichten Therapiekonzepte auf den Punkt gebracht Die Heilpädagogische Übungsbehandlung DIETER GRÖSCHKE Frühförderung interdisziplinär, 26. Jg., S. 33 -36 (2007) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Entwicklungsniveau; dabei gilt das kindliche Spiel zugleich als die dem Kind gemäße, seinem Entwicklungsstand entsprechende Form des Lernens und der Tätigkeit. Da in ihrer Entwicklung retardierte Kinder bei sorgfältiger Beobachtung ihres alltäglichen Verhaltens regelmäßig Beeinträchtigungen ihres Spielverhaltens erkennen lassen, verspricht man sich in der HPÜ von einer systematisch arrangierten Aktivierung, Rahmung und Unterstützung des kindlichen Spielverhaltens entscheidende Entwicklungsimpulse für die gesamte psychosoziale Persönlichkeitsentwicklung des Kindes in seiner Lebenswelt; das Kind soll „durch entwicklungsspezifische Spiel-Angebote im gemeinsamen Tun zur Selbsttätigkeit angeregt werden“ (von Oy u. Sagi 2004, 72). Das Programm der HPÜ lässt sich also auf die Formel bringen: „Das behinderte Kind muss also spielen lernen. Wir müssen ihm helfen, die ihm möglichen Entwicklungsschritte im Spiel zu vollziehen … So heißt das erste Richtziel: Das Kind soll spielend spielen lernen“ (ebd. 74, 77). Von Anfang an bis heute ist diese dezidiert spielpädagogische Fundierung ein zentrales Charakteristikum der HPÜ als pädagogisch-therapeutisches Förderkonzept. Für wen ist sie bestimmt? Wie bereits ausgeführt, und wie es der Untertitel des Lehrbuchs der HPÜ ausweist, versteht sich das Konzept als „Hilfe für das behinderte und entwicklungsgestörte Kind“, wobei alle Formen von kindlichen Entwicklungsauffälligkeiten und -behinderungen auf dem Hintergrund eines biopsychosozialen Bedingungsgefüges zum Indikationsbereich gehören. Da das Konzept auch basale Entwicklungsvoraussetzungen somatosensorischer Art systematisch berücksichtigt, ist es auch für sowohl körperlich wie geistig, also mehrfach behinderte Kinder gedacht. Auf der Grundlage ihrer spielentwicklungspsychologischen und -pädagogischen Fundierung eignet sich die HPÜ für retardierte Kinder mit einem Entwicklungsalter von etwa 4 bis 6 Jahren. Von seinem ethischen Anspruch her lässt die HPÜ kein Ausschließungskriterium „nach unten“ zu. Eine von Wertschätzung, Achtung und Aufmerksamkeit geprägte heilpädagogische Haltung ermöglicht eine Beziehung zum Kind, einen pädagogischen Bezug, der von keinen Fähigkeitsvoraussetzungen auf Seiten des Kindes abhängig sein darf. Was soll sie bewirken? Als pädagogisch intendiertes Förderkonzept zielt die HPÜ letztlich auf die Stärkung der kindlichen Persönlichkeit. Im Sinne seiner spielpädagogischen Fundierung soll das entwicklungsbeeinträchtigte Kind im Medium angeregter und spezifisch gestalteter Spielaktivitäten neue Erfahrungen mit sich, seinen Bezugspersonen als Spielpartnern und seiner dinglichen Umwelt machen, organisieren und konstruktiv verarbeiten, also spielend lernen. Die Autoren der HPÜ beziehen sich dabei auf die Tradition der Spielpädagogik, vor allem bei Fröbel (1782 - 1852) und Montessori (1870 - 1952) und wollen dadurch die Prinzipien „Spiel“ (als kindliche Selbsttätigkeit) und „Übung“ (als Förderimpuls) miteinander vermitteln; ein in der konkreten Förderpraxis immer wieder heikler Balanceakt im polaren Spannungsfeld zwischen „Defizitorientierung“ und „Ganzheitlichkeit“: „Wichtigste Voraussetzung ist die Auseinandersetzung des Heilpädagogen mit dem Charakter der HPÜ: Er liegt in der Spannung zwischen zielgerichteter Förderung und Spiel, also dem Spiel und der Übung“ (von Oy u. Sagi 2002, 115). In der förderpraktischen Umsetzung, zumindest in der Ausbildung der pädagogischen Fachkräfte, zeichnet sich das Konzept der HPÜ durch eine starke Systematisierung des methodischen Vorgehens aus. Auf der Basis einer sorgfältigen Entwicklungs- und Verhaltensdiagnostik (vor allem durch Spielbeobachtung) wird ein Übungsplan erstellt, der die ein- 34 Dieter Gröschke FI 1/ 2007 zelfallspezifischen Richt-, Nah- und Lernziele enthält sowie auch die Ziele und Formen der Zusammenarbeit mit den Eltern und sonstigen Bezugspersonen des Kindes. Im Behandlungsprozess werden fortlaufend Protokolle angefertigt, die die vorbereiteten Übungen und Materialien beschreiben sowie den Verlauf und die Auswertung der Fördereinheit umfassen. Für die Diagnostik, sowohl die Eingangswie auch die Prozessdiagnostik, gibt es einen ausführlichen Beobachtungsbogen; ebenso enthält das Lehrbuch der HPÜ ausführliche Übungsvorschläge für die jeweiligen „Übungen des Funktionsspiels, des Rollenspiels, des Konstruktionsspiels, des Regelspiels“ und zur Förderung der Sprachentwicklung; jeweils mit Angaben geeigneter Spiel- und Übungsmaterialien (auch Bilderbücher, Rhythmikmaterial, Musikinstrumente). Die Förderstunden sollen nach Möglichkeit regelmäßig wöchentlich über einen längeren Zeitraum zu Hause in der Wohnung des Kindes oder in der Frühförderstelle durchgeführt werden; zur Förderung sozial-interaktiver Kompetenzen des Kindes empfiehlt sich oft auch die Zusammenstellung einer Kleingruppe von Kindern mit ähnlichem Entwicklungsalter. Diese recht aufwendigen methodischen Durchführungsbedingungen der HPÜ gelten in erster Linie im Sinne des Lehrbuchs für die Ausbildung des pädagogischen Fachpersonals; in der professionellen Praxis der Frühförderung und bei entsprechender beruflicher Routine relativieren sie sich zwangsläufig. Worin besteht die Rolle/ Aufgabe des Kindes und der Eltern? Wie in anderen pädagogisch-therapeutischen Förderkonzepten wird auch in der HPÜ dem guten Kontakt zum Kind, einer von Wertschätzung und Achtung geprägten Beziehung mit dem Kind und einem gleichberechtigten kommunikativen Austausch eine für den langfristigen Behandlungserfolg ausschlaggebende Bedeutung zugemessen. Das Kind und die behandelnde Heilpädagogin sind füreinander gleichberechtigte Interaktions- und Spielpartner, auch wenn Letztere tendenziell die Rolle einer „Spielführerin“ übernimmt bzw. übernehmen muss. Die Eltern werden von Anfang an in der diagnostischen Phase und bei allen praktischen Fördereinheiten aktiv mit einbezogen; durch ihre teilnehmende Beobachtung und ihr aktives Mitspielen sollen sie in ihrer alltäglichen Erziehungskompetenz im Umgang mit ihrem behinderten Kind gestärkt, befähigt und ermächtigt werden. Als heilpädagogisches Konzept intendiert die HPÜ also auch die „Erziehung der Erzieher“ (Paul Moor). Die HPÜ übernimmt ein „kindbezogenes Mandat“ (Thurmair u. Naggl 2000), zugleich ist sie aber dem Prinzip der „Familienorientierung“, d. h. der Elternberatung und Zusammenarbeit mit der ganzen Familie verpflichtet. Wer wendet sie an? In der inzwischen mehr als 30-jährigen Tradition der HPÜ wird das Konzept vor allem in der Methodenausbildung pädagogischer Fachkräfte gelehrt und praktisch vermittelt (Erzieher, Heilerziehungspfleger, Sozial- und Heilpädagogen). Die HPÜ kann insgesamt als eines der zentralen heilpädagogischen Förderkonzepte für die Praxis der Behinderten- und Erziehungshilfe im vorschulischen Entwicklungszeitraum bezeichnet werden. Gelehrt wird sie nach wie vor an pädagogischen, vor allem heilpädagogischen Fachschulen, Fachakademien und Fachhochschulen. In der Praxis der Frühförderung sind es entsprechend diese pädagogischen Berufsgruppen, die ihre Arbeit am Konzept der HPÜ orientieren. Womit wird die Wirksamkeit bewiesen? Eine systematische Evaluation der HPÜ als Förderkonzept gibt es bisher nicht; es exis- FI 1/ 2007 Die Heilpädagogische Übungsbehandlung 35 tieren auch keine methodisch kontrollierten empirischen Wirksamkeitsnachweise. Im Hinblick auf eine evidenzbasierte Frühförderpraxis und das Erfordernis empirisch evaluierter Fördermethoden ist dies sicherlich ein Manko. Allerdings besteht die prinzipielle Schwierigkeit, breit angelegte pädagogische Förderkonzepte nach empirisch-statistischen Kriterien, wie etwa ihrer „Effektstärke“, zu untersuchen. In realen pädagogischen „Settings“ existiert eine Unzahl potenzieller Einflussfaktoren, die forschungsmethodisch kaum kontrolliert werden können; außerdem ist unklar, wie im Einzelfall pädagogischer Erfolg operationalisiert werden könnte. Die inzwischen mehr als drei Jahrzehnte währende Theorie und Praxis der HPÜ, die inzwischen 14 Auflagen des Lehrbuchs, haben sicherlich eine gewisse empirische Beweiskraft für die Sinnfälligkeit, Nützlichkeit und heilsame Wirksamkeit dieses pädagogisch-therapeutischen Förderkonzepts. Was sagen die Kritiker? Eine kritische Lektüre der Einführungskapitel des Lehrbuchs der HPÜ vom heutigen Stand muss zu dem Urteil kommen, dass einige Aussagen zum „Problem der geistigen Behinderung“ (Kap. 1), zu ihrer Entstehung (Kap. 2) sowie zum Verhältnis von geistiger Behinderung und „Wahrnehmungsstörung“ (Kap. 3), „Autismus“ (Kap. 4) und „Verhaltensstörung“ (Kap. 5) nicht mehr dem heutigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprechen; zumindest die Terminologie wirkt oft missverständlich und veraltet. Sie ist stellenweise Ausdruck einer inzwischen problematisierten paternalistischen Einstellung gegenüber behinderten Menschen. Die von C. M. von Oy gelegentlich angeregte Übertragung des Konzepts auf die heilpädagogische Arbeit mit erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung ist auf diesem Hintergrund sehr fragwürdig; seine spielpädagogische Fundierung ist dafür unangemessen. Leicht missverständlich kann die Bezeichnung des Konzepts als „Behandlung“ wirken, da ihr pädagogischer Ansatz ja gerade Interaktion, Kooperation und Kommunikation im gemeinsamen Spielen betont. Die Autoren wollten mit dieser Bezeichnung offensichtlich den systematischen Charakter der Förderung hervorheben, dass HPÜ mehr und anderes ist als bloße „Spielerei“. HPÜ als praktische (Heil-)Pädagogik ist erzieherische Einwirkung zum Zwecke der Selbsttätigkeit des Kindes. Da das Spiel ein Grundphänomen des Kinderlebens ist (vgl. Gröschke 1997), das wesenhaft unausschöpflich ist, und da die HPÜ grundlegend spielpädagogisch fundiert ist, bleibt sie auf Dauer aktuell, offen und anschlussfähig für andere spielorientierte Förderkonzepte für das frühe Kindesalter. Wo kann man mehr erfahren? Außer dem inzwischen klassischen Lehrbuch der HPÜ und den begleitenden „Werkheften zur HPÜ“ (von Oy: „Montessori-Material“, 1987; Biene: „Zusammenarbeit mit den Eltern“, 1988; Krimm-von-Fischer: „Rhythmik und Sprachanbahnung“, 1986) gibt es keine weiteren Publikationen zu diesem Konzept; allenfalls wird es in heilpädagogischen Lehrbüchern erwähnt. Literatur Gröschke, D. (1997). Praxiskonzepte der Heilpädagogik. München: Reinhardt UTB, 2. Aufl. Oy, C. M. von u. Sagi, A. (2002). Lehrbuch der heilpädagogischen Übungsbehandlung. Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, Edition S, 14. überarbeitete Aufl. Thurmair, M. u. Naggl, M. (2000). Praxis der Frühförderung. München: Reinhardt UTB. Prof. Dr. Dieter Gröschke Studiengang Heilpädagogik Katholische Fachhochschule Münster Piusallee 89 D-48147 Münster 36 Dieter Gröschke FI 1/ 2007