eJournals Frühförderung interdisziplinär 26/2

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2007
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Erziehung und Bildung in der frühesten Kindheit

41
2007
Hans-Joachim Laewen
Dieter Lenzen hat Bildung ein deutsches Container-Wort genannt. Ebenso wie Erziehung muss der Begriff über Arbeitsdefinitionen für die Frühpädagogik handhabbar gemacht werden. Solche Arbeitsbegriffe sind im Rahmen eines Bundesmodellprojekts entwickelt worden und bilden die Grundlage für ein frühpädagogisches Konzept, das ebenso wie ähnliche Entwürfe aus der jüngsten Zeit zu einem tief greifenden Wandel der pädagogischen Arbeit in Kindertageseinrichtungen beiträgt. Interessen und Themen der Kinder rücken in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, während gesellschaftliche Qualifizierungserwartungen über explizit formulierte Erziehungsziele präsent bleiben. Bildungserfolge können dabei unter zwei unterschiedlichen Perspektiven gefasst werden.
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Erziehung und Bildung in der frühesten Kindheit HANS-JOACHIM LAEWEN Zusammenfassung: Dieter Lenzen hat Bildung ein deutsches Container-Wort genannt. Ebenso wie Erziehung muss der Begriff über Arbeitsdefinitionen für die Frühpädagogik handhabbar gemacht werden. Solche Arbeitsbegriffe sind im Rahmen eines Bundesmodellprojekts entwickelt worden und bilden die Grundlage für ein frühpädagogisches Konzept, das ebenso wie ähnliche Entwürfe aus der jüngsten Zeit zu einem tief greifenden Wandel der pädagogischen Arbeit in Kindertageseinrichtungen beiträgt. Interessen und Themen der Kinder rücken in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, während gesellschaftliche Qualifizierungserwartungen über explizit formulierte Erziehungsziele präsent bleiben. Bildungserfolge können dabei unter zwei unterschiedlichen Perspektiven gefasst werden. Schlüsselwörter: Erziehung, Bildung, Frühpädagogik, Kindertageseinrichtung Education and “Enculturation” in Early Childhood Summary: “Bildung” is “a german container-word“, as Dieter Lenzen put it, and has hardly a correspondent word in the english language. It may be understood best as the cultural aspects of educational processes. In the educational sciences dealing with the very early years “education” as well as „Bildung“ have to be definde by working definitions, as we did in a german national project. These working definitions may lead - as well as other similar concepts developed in the last few years - to a fundamental change in the practice of educational work in child day care institutions. The interests and themes of the children themselves are in the centre of educational efforts; society’s expectations on the results of early education are nevertheless present. The outcome of educational processes must thereby be conceptualized in different perspectives. Keywords: Early education, very early years, child day care Frühförderung interdisziplinär, 26. Jg., S. 51 -57 (2007) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Originalarbeiten Erziehung und Bildung sind zentrale Kategorien der deutschsprachigen Pädagogik. Ungeachtet seiner hohen Bedeutung in der pädagogischen - seit einigen Jahren auch in der politischen - Diskussion ist insbesondere Bildung ein Begriff, dessen inhaltliche Bestimmung im Laufe seiner historischen Entwicklung unterschiedlich ausfiel und der auch in seiner modernen Fassung seit W. v. Humboldt bis heute noch keine konsensfähige Ausdeutung erfahren hat (vgl. hierzu u. a. Lenzen 1997; Tenorth 1997; Benner/ Brüggen 2004). Für Kinder im Vorschulalter hat der Bildungsbegriff dabei kaum Anwendung gefunden. Lediglich die vom Deutschen Bildungsrat Anfang der 70er Jahre des vorangegangenen Jahrhunderts vorgeschlagene Zuordnung des Kindergartens zum Bildungsbereich schloss zumindest die Gruppe der 3 - 6-Jährigen ein. In Hinblick auf unter dreijährige Kinder wird - sofern sie in der Bundesrepublik überhaupt Gegenstand vorschulpädagogischer Erörterungen waren und sind - in Anlehnung an den anglo-amerikanischen Sprachgebrauch vorzugsweise von Entwicklung und Entwicklungsförderung, jedoch kaum von Bildung und Erziehung gesprochen (u. a. Beller 1983). Im Rahmen des Projekts „Zum Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen“ 1 (Laewen/ Andres 2002 a, 2002 b) ist ein Arbeitsbegriff von Bildung entwickelt worden, der als Grundlage für vorschulpädagogische Handlungskonzepte dienen kann und zugleich Bestimmungen für den Erziehungsbegriff enthält. Darin werden zentrale Elemente des Bildungsbegriffs bewahrt (vgl. Tenorth 1997, S. 975) und zugleich für den Gebrauch im Vorschulbereich handhabbar gemacht, ohne dass der Anspruch erhoben würde, damit den 200-jährigen Streit um den Bedeutungshorizont des Begriffs beenden zu wollen. Bildung ist in dieser Fassung als Eigenanteil des Kindes an seiner Entwicklung gefasst und wird als Konstruktion eines Welt- und Selbstbildes auf der Grundlage der Erfahrungen des Kindes verstanden. Dieses „mitlaufende Welt- (und Selbst-) Modell“ basiert auf den Erfahrungen des Kindes, deren Deutung und Bewertung es dient, wobei es zugleich durch jede neue (kompatible) Erfahrung Modifizierungen erfährt. Dieser konstruierenden Aktivität des Kindes kann in unserem Konzept Erziehung in zwei Formen gegenüber treten: als indirekte Kommunikation zwischen Erwachsenen und Kind durch die Gestaltung der Umwelt im weitesten Sinne, die dann für die Weltkonstruktionen des Kindes zur Verfügung steht und als direkte Kommunikation. Beide Formen zeichnen sich als pädagogische u. a. dadurch aus, dass sie einer an explizit formulierten Erziehungszielen orientierten Gestaltung bedürfen. Wenn der sich entwickelnde Mensch, wie Ludwig Liegle das mit Verweis auf Pestalozzi ausgedrückt hat, dreierlei ist: Werk der Natur, Werk der Gesellschaft und Werk seiner selbst (Liegle 1999, S. 202), dann würde in unserem Verstehen Bildung das Werk des Kindes an sich selbst bezeichnen, während Entwicklung darüber hinaus das Werk der Natur und Erziehung als Werk der Gesellschaft einschlösse, also der umfassendere Begriff wäre. Wenn das Werk der Natur an dieser Stelle außer Betracht bleibt, bietet die deutsche Sprache mit ihrer Unterscheidung von Bildung und Erziehung eine Möglichkeit der Differenzierung an, die einerseits - anders als der Entwicklungsbegriff - die Position des Kindes als Subjekt seiner Bildungsprozesse hervorhebt und Erziehung als die zentrale Aufgabe der älteren Generation gegenüber der jüngeren festhält. Damit ist zugleich eine grundlegende Bestimmung der Beziehung zwischen den beiden Kategorien gegeben: Bildung kann nicht gesteuert werden im Sinne eines kausalen Programms, Erziehung kann Bildung nur herausfordern, ihre Prozesse unterstützen, ihnen Themen zumuten und die Themen der Kindes beantworten. Anders ausgedrückt: Kinder sind durch Erziehung nicht programmierbar, sondern in Bezug auf Kontexte sich selbst programmierende Systeme, wenn man über die Verkürzungen dieser technischen Sprache einmal hinwegsieht. Es existieren offenbar keine zwangsläufigen Kausalbeziehungen zwischen Erziehung und Bildung, und damit müssen auch die empirisch gefundenen Zusammenhänge zwischen der Entwicklung von Kindern und fördernden Maßnahmen als das betrachtet werden, was sie tatsächlich auch sind: als Wahrscheinlichkeiten für das Eintreten bestimmter Entwicklungen, jedoch nicht als in jedem Einzelfall sicher zu erwartendes Ergebnis. Die Bildungsprozesse von Kindern hängen in ihrer Qualität und Reichweite vom Wechselspiel der Welt- und Selbstkonstruktionsprozesse der Kinder, dem Handeln verschiedener Erwachsener, zumindest der Eltern, ggf. der Erzieherinnen in Kindertageseinrichtungen und anderer Menschen, denen das Kind begegnet, sowie von den Kontexten dieser Interaktionen in einer im Einzelfall kaum vorhersehbaren Weise ab. Über eine Vielzahl von Kindern gesehen erhöhen zwar bestimmte Formen des Erziehungshandelns von Erwachsenen gegenüber Kindern die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von als günstig angesehenen Entwicklungen oder im engeren Sinn von sozial geschätzten Bildungsprozessen. Alles deutet jedoch darauf hin, dass Entwicklungsprozesse von Kindern vom Zusammenspiel verschiedener Faktoren abhängen, das nicht leicht zu beeinflussen ist. 52 Hans-Joachim Laewen FI 2/ 2007 Wird Bildung als Konstruktionsleistung des Kindes verstanden, so muss Erziehung auf entsprechende Arrangements achten, damit das Kind sowohl seine Ressourcen in vollem Umfang ausschöpfen als auch das verfügbare kulturelle Niveau integrieren kann. Bildung - als Welt- und Selbstkonstruktion des Kindes auf der Grundlage von sinnlicher Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung verstanden - hebt die Subjektposition des sich bildenden Kindes hervor und bezieht sich auf Prozesse, die von Geburt an stattfinden. Der Begriff ist neutral gegenüber spezifischen Inhalten angelegt, die jedoch über den Komplementärbegriff der Erziehung notwendig zum Gegenstand pädagogischer Arbeit werden. Erziehung muss sich ihrer Ziele vergewissern, sie formulieren und auf ihre Zukunftsfähigkeit und Legitimierbarkeit prüfen. Sie mutet ihre Ziele dem Kind als Themen zu und behält sie zugleich bei der Beantwortung der Themen der Kinder im Auge. Erziehung als konkrete Tätigkeit unterstützt Bildungsprozesse der Kinder und fordert sie heraus. In dieser allgemeinen Form können Bildung und Erziehung auch jenseits spezifischer Altersgrenzen gefasst werden. Bildung als Konstruktion von Welt- und Selbstentwürfen und ihre Formulierung Bildung wäre unter dieser Perspektive Sache des Kindes, seine eigene und nur ihm zugehörige Bewegung zur Aneignung der Welt. Aneignung der Welt ist dabei zu verstehen als die Konstruktion einer Welt in Kopf und Körper, einer zweiten Realitätsebene, die subjektive Welt- und Selbstentwürfe enthält. Anders ausgedrückt: Jedes Kind bemüht sich mit allen seinen Kräften darum, sich ein „Bild von der Welt“ und von sich selbst zu machen, zu konstruieren. Dieses „Bild von der Welt“ ist zunächst immer ein wenig eigenartig, für Erwachsene oft nicht so leicht nachvollziehbar, wird aber in der Kommunikation des Kindes mit den Erwachsenen prinzipiell zugänglich. In seiner Kommunikation formuliert das Kind seinen Welt- und Selbstentwurf und entwickelt ihn „im Gespräch“ mit anderen - Erwachsenen, später zunehmend auch Kindern - zugleich weiter. Dem Kind eng vertrauten Erwachsenen gelingt es durch ein intuitives Erfassen dessen, was das Kind meint, es zu verstehen und seine subjektiven Entwürfe zu bestätigen und zugleich zu verändern. Wie reich oder eingeschränkt dieses „Gespräch“ über die Beschaffenheit der Welt und die eigene Identität des Kindes sein kann, hängt sowohl von den Möglichkeiten des Kindes ab, seinen Weltentwurf zu formulieren, als auch davon, welche Ausdrucksformen von „den Anderen“ angeboten, akzeptiert und verstanden werden. Bildung wäre dann also ein zunächst subjektiver und immer vorläufiger Selbst- und Weltentwurf, der weiter entwickelt wird, indem er einerseits formuliert und mitgeteilt, andererseits verstanden und aufgegriffen wird. Die Qualität von Bildung könnte dann danach beurteilt werden, wie differenziert und inhaltlich reich diese Formulierungen ausfallen, wenn sie an dem, was in einer Kultur als Ausdrucksformen verfügbar ist, gemessen werden. Diese eher auf bedarfsorientierte Erwartungen konzentrierte Sicht ist in Politik und Wirtschaft gebräuchlich, enthält jedoch nur den normativen Aspekt, der sich als Vorstellung vom (aus-)gebildeten Menschen seinen Ausdruck verschafft. Bildungsnormen und ihre Grenzen Wenngleich alle Konstruktionsprozesse, die auf die Aneignung von Welt zielen, als Bildungsprozesse gelten müssen, gleichgültig, ob sie in komplexe oder einfache Welt- und Selbstentwürfe münden, ob sie differenzierte Ausdrucksformen finden oder sich vielleicht eher mühsam artikulieren, so können diese dennoch zumindest in zweifacher Weise nach ihrer Qualität beurteilt werden: zum einen danach, inwieweit sie gesellschaftlichen Erwartungen entsprechen, zum anderen, ob sie ei- FI 2/ 2007 Erziehung und Bildung in der frühesten Kindheit 53 Ebene 4 Altersgemäß entwickelte Sprachfähigkeit Ebene 3 Kommunikationsbereit- Geeignete schaft und -möglichkeiten psychosoziale Strukturen Ebene 2 Kognitiver Ausrei- Entwicklungsstand chende Verarbeitungsmöglichkeiten Ebene 1 Intaktes Hörvermögen Intakte sprachverarbeitende motorische Strukturen Tabelle: Ebenen der Einwirkung auf die Sprachfähigkeit eines Kindes 54 Hans-Joachim Laewen FI 2/ 2007 nen höchstmöglichen Grad der Ausformung repräsentieren, gemessen an den Ressourcen, die dem Kind zur Verfügung stehen. Beide Perspektiven beziehen sich dabei auf die Ergebnisse von Prozessen, die ihrerseits von zwei Bedingungen beeinflusst werden, die Bildungsprozesse sowohl ermöglichen als ihnen auch Grenzen setzen. Die eine Seite wird durch physiologische Parameter bestimmt, Talente, die das Kind mitbringt, und die Intaktheit seiner physiologischen Funktionen. Die andere Seite stellt die Qualität der Umwelt dar, mit der es das Kind zu tun bekommt: die Kultur, in die es hineingeboren wird, im engeren Sinne seine Familie, aber auch die Kindertagesstätte, die das Kind besucht. Die Art und Weise, wie hier auf die Formulierungen der Welt- und Selbstentwürfe des Kindes reagiert wird und wie differenziert dort die Herausforderungen zu ihrer Konstruktion ausfallen, beeinflusst die Komplexität und Angemessenheit der Muster, auf die das Kind für seine weiteren Entwürfe zurückgreifen kann. Als Illustration dieses Sachverhalts am Beispiel der Sprachentwicklung mag eine Darstellung von Michaelis und Niemann dienen (1999), die ein vierstufiges Modell anbieten, das die verschiedenen Ebenen beschreibt, die auf die Sprachfähigkeit eines Kindes einwirken. Die Ebene 4 in diesem Modell, die Sprachkompetenz des Kindes, hängt von den ersten drei Ebenen ab: Von der Leistungsfähigkeit seiner physiologischen Struktur, von der Differenziertheit und Leistungsfähigkeit des jeweils erreichten Welt- und Selbstentwurfes und schließlich von der sozialen Umwelt und ihren Potenzialen. Erst aus der Wechselwirkung dieser Komponenten resultieren die realen Bildungschancen eines Kindes. Von guten Bildungschancen kann deshalb mit Blick auf die Umwelt des Kindes nur dann die Rede sein, wenn sie Bedingungen bereit hält, die eine höchstmögliche Entfaltung der vom Kind „mitgebrachten“ Talente ermöglicht und herausfordert. Bildungsprozesse können dabei von beiden Seiten her Einschränkungen erfahren. Die physiologischen Ressourcen können im weiteren oder engeren Rahmen verfügbar und entweder durch Anlage oder durch Beschädigungen im intrauterinen Bereich, während der Geburt oder durch Krankheiten oder Unfälle beeinträchtigt sein. Auf der anderen Seite kann die Umwelt des Kindes die Welt und ihre Sprachen in unterschiedlichem Umfang und in FI 2/ 2007 Erziehung und Bildung in der frühesten Kindheit 55 mehr oder weniger differenzierter Qualität zur Verfügung stehen. Beide Seiten - die mitgebrachten Talente und Möglichkeiten der Kinder und ihre soziale Umwelt - stehen in einer wechselseitigen Beziehung zueinander, aus der schließlich die realen Bildungsverläufe von Kindern resultieren. Kommt es zu Risikolagen, die im Ergebnis die Bildungsprozesse von Kindern eng begrenzen oder einschränken, so sind immer beide Einflussfaktoren zu beachten, wenn der Entwicklung entgegengewirkt werden soll. Klaus Wedell weist auf die Konsequenzen hin, die aus dieser Feststellung zu ziehen sind: „Einer der wichtigsten Punkte in diesem Zusammenhang ist, dass es keine absoluten Maßstäbe für die Einschätzung einer Behinderung oder für das Fehlen entwicklungsförderlicher Bedingungen gibt, die als Determinanten von ,Entwicklungsrisiken‘ betrachtet werden können. In keiner Situation kann das Ergebnis der Wechselwirkung zwischen Kind und Umweltfaktoren vorausgesagt werden.“ (Wedell 1996, S. 51). Ausnahmen davon können allenfalls bei sehr starken Behinderungen oder extrem ungünstigen Umweltbedingungen auftreten, die es praktisch unmöglich machen können, einer nachteiligen Entwicklung erfolgreich gegenzusteuern. Dennoch bliebe auch in diesen Fällen ein zentrales Prinzip, Bildungsprozesse nach ihrem Erfolg zu beurteilen, gültig: Aus der Perspektive von Bildung als eigenartigem, vom Kind formulierten Welt- und Selbstentwurf, kann auch dann von gelungener Bildung gesprochen werden, wenn die physiologischen Grenzen eng gezogen sind, aber der Spielraum in großem Umfang ausgeschöpft wurde. Die Erfahrung zeigt, dass auch schwer behinderte Kinder von den Personen ihres engsten Vertrauens verstanden werden und damit im Rahmen ihrer Möglichkeiten ihren Welt- und Selbstentwurf formulieren können. Eine solche Perspektive auf das Kind und seine Umweltbedingungen ist die Grundlage für einen der wichtigsten pädagogischen Grundsätze, der in unserem Land - wie die Ergebnisse der PISA-Studie im Vergleich mit anderen Ländern zeigen - nicht immer berücksichtigt wird: Kein Kind, behindert oder nicht, talentiert oder nicht, darf aufgegeben und von Bildungsangeboten ausgeschlossen werden, eben weil das komplexe Wechselverhältnis zwischen „Anlage und Umwelt“ auch in schwierigen Lagen durch eine geeignete pädagogische Gestaltung der Umwelt des Kindes erhebliche günstige und auch unerwartete Effekte erlaubt. Bildung, Erziehung und gesellschaftliche Kosten Wedell weist in seinem Aufsatz darauf hin, dass in solchen Zusammenhängen und mit Blick auf die Notwendigkeit oder Sinnhaftigkeit eines Ausschöpfens von Fördermöglichkeiten auch immer wirtschaftliche Überlegungen mitspielen. In heutigen Tagen könnte man meinen, dass sie inzwischen zu ausschließlichen Kriterien zu werden drohen. Demgegenüber wird hier mit Nachdruck die These vertreten, dass die Rationalität ökonomischen Handelns zwar ernst zu nehmen ist, aber kulturelle Entwicklungen und ihre Ergebnisse in unerhörtem Umfang preisgegeben werden müssten, sollte sie die einzige bleiben, die noch zählt. Dabei würden selbst unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten andere Strategien sinnvoll sein, wenn nicht allein die Kosten-Nutzen-Rechnungen der jeweiligen Jahresbudgets betrachtet werden, sondern - auch und gerade wenn andere Entscheidungsgründe nicht mehr gelten sollen - auch Fragestellungen des mittel- und langfristigen Nutzens. Sowie über den Tellerrand alljährlicher Haushaltsbudgets hinausgeblickt wird, gewinnt eine solche Rechnung eine ganz andere Gestalt. Für jeden früh in geeignete pädagogische Konzepte investierten Dollar - so kann bei amerikanischen Autoren nachgelesen werden - gewinnt die Gesellschaft sieben Dollar, u. a. durch die Einsparung späterer Folgekosten wie etwa die Finanzierung von Verbrechensbekämpfung oder den Unterhalt von Sonderschulen etc. Das Sozialdepartment der Stadt Zürich ist in einer solchen Untersuchung zu dem Schluss gekommen, das jeder Franken, der in das Kindertagesbetreuungssystem der Stadt investiert wird, der Schweiz drei bis vier Franken an Folgekosten erspart, die auftreten, wenn eine solche Investition unterbleibt (Sozialdepartment der Stadt Zürich 2001). Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch eine bundesdeutsche Studie (Bock-Famulla 2002). Als Schlussfolgerung wäre festzuhalten, dass die komplexe Wechselwirkung zwischen den vom Kind mitgebrachten Ressourcen und den Merkmalen seiner Umwelt es Pädagogen verbietet, ein Kind wegen ungünstiger Konstellationen in der einen oder anderen Hinsicht aufzugeben, und dass sich die Investitionen in frühe Fördersysteme allemal auch finanziell zu amortisieren scheinen, wenn über den Tag hinaus gedacht wird. Warten auf bessere Zeiten? Seit der gründlichen Untersuchung von Wolfgang Tietze und seiner Gruppe an der Freien Universität Berlin wissen wir, dass auch unter vergleichbar guten (oder eben schlechten) Rahmenbedingungen die Qualität der pädagogischen Arbeit in Kindertageseinrichtungen stark variieren kann (Tietze et al. 1998). Das weist darauf hin, dass bis zu dem Tag, an dem sich eine politische Mehrheit findet, die den vorhandenen gesellschaftlichen Reichtum zugunsten einer Aufwertung der öffentlichen Vorschulerziehung umschichtet, auch innerhalb der jetzt vorhandenen Möglichkeiten noch viel getan werden kann, um wenigstens die vorhandenen Möglichkeiten ausschöpfen zu können. Eine dieser Möglichkeiten sehen wir in einer Orientierung der pädagogischen Arbeit in den Kindertageseinrichtungen an Bildungsentwürfen, wie sie zur Zeit in verschiedenen Projekten bereits erprobt werden. Unser eigenes frühpädagogisches Konzept 2 (Andres/ Laewen 2005) gehört ebenso dazu wie das am Deutschen Jugendinstitut (Leu 2002) durchgeführte Projekt zur Erprobung des Konzepts der „Lerngeschichten“ von Margret Carr (2001) oder die Projekte, die Gerd Schäfer von der Universität Köln in Thüringen und in NRW (Schäfer/ Strätz [Hrsg.] 2005) durchgeführt hat. Auch das Konzept der Early Excellence Centres in Großbritannien ließe sich dazu rechnen (u. a. Whalley 2001, Hebenstreit-Müller/ Kühnel 2005). Es zeigt sich, dass Ziele und Grundlagen der pädagogischen Arbeit in mancher Hinsicht neu formuliert werden müssen, wie etwa in Hinblick auf eine Systematisierung des Bemühens, die „Themen der Kinder“ zu identifizieren und für die erzieherische Arbeit fruchtbar zu machen. Dazu gehört auch die Dokumentation der eigenen Arbeit, denn es geht nicht länger nur darum, das Richtige zu tun, sondern auch darum, das, was getan wird, zu formulieren und für andere verständlich darzustellen. Es ist eine neue Aufmerksamkeit für und Konzentration auf diese „Themen der Kinder“, die in der Praxis zu einer deutlichen Neuorientierung der pädagogischen Arbeit führen und unabhängig vom Reichtum der individuellen Ressourcen der Kinder zu grundlegend veränderten Strategien des pädagogischen Handelns führen. Es geht nicht länger um die Vorstellung, Kindern etwas beibringen zu müssen, damit sie normierten Erwartungen entsprechen können, sondern darum, an den individuellen Konstruktionsprozessen der Kinder anzusetzen und ihnen zu helfen, diese Prozesse auf höchst möglichem Niveau zu gestalten. Die Formulierung von Erziehungszielen und ihre Konkretisierung für die pädagogische Arbeit helfen in unserem Konzept dabei, das kulturell Wünschenswerte nicht aus den Augen zu verlieren. Im Zentrum steht jedoch das Bewusstsein davon, dass die Subjektposition des Kindes in Bezug auf seine Bildungsprozesse nicht hintergehbar ist. Die Orientierung der Arbeit an den Interessen und Themen der Kinder, die auch dann im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, wenn Brücken zu für wichtig erachteten Themen geschlagen werden, öffnet möglicherweise einen auf die individuellen Ressourcen eines 56 Hans-Joachim Laewen FI 2/ 2007 Kindes bezogenen und zugleich in Hinblick auf Erziehungsziele belastbaren und effizienten Zugang für die Frühpädagogik. Insgesamt bietet ein solches Vorgehen die Möglichkeit, die Umwelt von Kindern und die Interaktion mit ihnen so zu strukturieren, dass ihre Welt- und Selbstentwürfe auf möglichst hohem Niveau realisiert und erweitert werden können. Sie dient damit in erster Linie der - günstigen - Beeinflussung der sozialen Seite der zusammenwirkenden Faktoren von Talenten und Umwelt. Die andere Seite - die physiologischen Ressourcen der Kinder und der Stand ihrer Kompetenzen - müssen jedoch in gleicher Weise im Auge behalten werden, um nicht zu systematischen Über- oder Unterforderungen beizutragen, die in jeweils unterschiedlicher Weise in gleichem Maße verhängnisvoll sind. Einerseits, weil sie die Bildungsarbeit der Kinder unterminieren, andererseits, weil sie leicht Normvorstellungen über die Ergebnisse dieser Arbeit zur Grundlage von Urteilen über Kinder werden lassen, die gleichwohl ihre Ressourcen in umfassender Weise ausgeschöpft haben. Anmerkungen 1 Das Projekt wurde von 1997 bis 2000 von infans durchgeführt und durch das BMFSFJ sowie die zuständigen Ministerien der Bundesländer Brandenburg, Sachsen und Schleswig-Holstein gefördert. 2 Die Konzeptentwicklung wurde 2001 vom Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg (MBJS) gefördert. Seine Erprobung und Weiterentwicklung wurde in den Jahren 2002 bis 2005 in 68 Kindertageseinrichtungen in Brandenburg und Baden-Württemberg durchgeführt und vom MBJS, den Landeswohlfahrtsverbänden Baden und Württemberg-Hohenzollern (heute zusammengelegt zum KVJS) sowie den Städten Böblingen, Freiburg, Heilbronn, Konstanz, Rastatt, Ulm und Stuttgart gefördert. Literatur Andres, B./ Laewen, H.-J.: Elementare Bildung. Handlungskonzepte und Instrumente. Band 2. In: Pesch, L. (Hrsg.) (2005): Elementare Bildung. Berlin Beller, E.K./ Stahnke, M./ Laewen H.-J. (1983): Das Berliner Krippenprojekt: eine empirische Untersuchung. Zeitschrift für Pädagogik 29, 407 - 416 Benner, D./ Brüggen, F.: Bildung/ Bildsamkeit. In: Benner, D., Oelkers, J. (Hrsg.) (2004): Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Weinheim/ Basel Bock-Famulla, K. (2002). Volkswirtschaftlicher Ertrag von Kindertagesstätten. Gutachten im Auftrag der M.-Träger-Stiftung. Unveröff. Abschlussbericht. Bielefeld. Carr, M. 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In: Münchmeier, R., Otto, H.-U., Rabe-Kleberg, U. (Hrsg.) (2002): Bildung und Lebenskompetenz - Kinder und Jugendhilfe vor neuen Aufgaben. Opladen, 49 - 56 Michaelis, R./ Niemann, G. (1999): Entwicklungsneurologie und Neuropädiatrie. Thieme Verlag, S. 43 Schäfer, G. E./ Strätz, R.(2005): Beobachtung und Dokumentation in der Praxis - Arbeitshilfen zur professionellen Bildungsarbeit in Kindertageseinrichtungen nach der Bildungsvereinbarung NRW. München/ Kronach Schweinhart, L. J./ Weikart, D. P. (1997): The High/ Scope Preschool Curriculum Comparison Study Through Age 23. Early Childhood Research Quarterly, 12, 2, 117 - 143 Sozialdepartment der Stadt Zürich (2001): Kindertagesstätten zahlen sich aus. Edition Sozialpolitik Nr. 5 a. Zürich Tenorth, H.-E. (1997): „Bildung“- Thematisierungsformen und Bedeutung in der Erziehungswissenschaft, Zeitschrift für Pädagogik, 6 , 969 - 984. Tietze, W. (Hrsg.) (1998): Wie gut sind unsere Kindergärten? Eine Untersuchung zur pädagogischen Qualität in deutschen Kindergärten. Neuwied/ Kriftel/ Berlin Wedell, K.: Kompensatorische Wechselwirkungen - Ein Modell zur Vulnerabilität und Unverletzbarkeit von Kindern mit besonderem Förderbedarf. In: Peterander, F. & Speck, O. (Hrsg.) (1996): Frühförderung in Europa. Reinhardt Verlag Whalley, M. (2001): Involving Parents in their Children’s Leraning. Paul Chapman Publishing. London Hans-Joachim Laewen infans - Institut für angewandte Sozialisationsforschung e.V. Havelberger Str. 13 D-10559 Berlin FI 2/ 2007 Erziehung und Bildung in der frühesten Kindheit 57