eJournals Frühförderung interdisziplinär 26/2

Frühförderung interdisziplinär
1
0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
41
2007
262

Herausforderungen und Risiken in der frühen Bildungsvermittlung

41
2007
Lieselotte Ahnert
Bildungsprozesse in der frühen Kindheit sind eng mit der Denk- und Sprachentwicklung des Kindes, aber auch mit entwicklungsbedingten Besonderheiten der Emotions- und Verhaltensentwicklung verbunden und von daher auf Beziehungen angewiesen, die in der Auseinandersetzung des Kindes mit seiner Umwelt vermitteln. Sowohl in familiärer als auch öffentlicher Betreuung werden bildungsfördernde Beziehungsqualitäten der Zuwendung, Sicherheit, Stressreduktion, Assistenz und Explorationsunterstützung diskutiert und in Abhängigkeit vom Alter des Kindes untersucht. Während Sicherheitsaspekte und Merkmale der Stressreduktion in den Mutter-Kind-Beziehungen altersunabhängig relevant sind, gilt dies nicht für Erzieherinnen. Erzieherinnen-Kind- Beziehungen gründen sich vorrangig auf Assistenz und Explorationsunterstützung, die zudem auch noch geschlechtsspezifisch angeboten werden. Konsequenzen für den Schulstart werden diskutiert.
1_026_2007_2_0002
Herausforderungen und Risiken in der frühen Bildungsvermittlung LIESELOTTE AHNERT Zusammenfassung: Bildungsprozesse in der frühen Kindheit sind eng mit der Denk- und Sprachentwicklung des Kindes, aber auch mit entwicklungsbedingten Besonderheiten der Emotions- und Verhaltensentwicklung verbunden und von daher auf Beziehungen angewiesen, die in der Auseinandersetzung des Kindes mit seiner Umwelt vermitteln. Sowohl in familiärer als auch öffentlicher Betreuung werden bildungsfördernde Beziehungsqualitäten der Zuwendung, Sicherheit, Stressreduktion, Assistenz und Explorationsunterstützung diskutiert und in Abhängigkeit vom Alter des Kindes untersucht. Während Sicherheitsaspekte und Merkmale der Stressreduktion in den Mutter- Kind-Beziehungen altersunabhängig relevant sind, gilt dies nichtfür Erzieherinnen. Erzieherinnen-Kind- Beziehungen gründen sich vorrangig auf Assistenz und Explorationsunterstützung, die zudem auch noch geschlechtsspezifisch angeboten werden. Konsequenzen für den Schulstart werden diskutiert. Schlüsselwörter: Kindliche Entwicklung, Beziehung, Beziehungsqualität, Familie, Kindertageseinrichtung Challenges and Risks in Early Education Processes Summary: Early education processes are closely linked to child’s mental and language development as well as to emotional and behavioral adjustment. The very young thus need to rely on relationships with adults who mediate child’s challenge with the environment. In families and child care settings, qualities of child-adult relationships such as attention, security, stress reduction, assistance and support in exploration are seen as enhancing factors of education processes, and are examined with regard to child’s ages. Whereas security and stress reduction strategies are relevant for child-mother relationships throughout the preschool years, this is unclear for child-care provider relationships which are mostly based on assistance and support in exploration. They are differently provided for boys and girls, however. Consequences for early head start are discussed. Keywords: Child development, attachment, attachment quality, family, child care Frühförderung interdisziplinär, 26. Jg., S. 58 -65 (2007) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Obwohl das Kind sich durch eigenes Wahrnehmen und Denken seine Umwelt erschließt und damit den Bildungsprozess letztlich selbst betreibt und organisiert, gibt es keinen Zweifel, dass es dafür eine soziale Umgebung benötigt, die diese Auseinandersetzung trägt und durch Anregungen herausfordert. Versteht doch die moderne Pädagogik heute unter Bildung „die Anregung aller Kräfte eines Menschen, damit sie sich entfalten (…) und zur tätigen Aneignung der Welt und einer sich selbst bestimmenden Individualität führen“ (von Hentig 1996). Aktuelle Sozialisationstheorien gehen mittlerweile mehrheitlich davon aus, dass Kinder vor allem von Menschen lernen sowie in sozialen Interaktionen und durch emotionale Beziehungen zu ihnen. Deshalb erklären sie die frühen Sozialisations- und Bildungsprozesse in ihrer Abhängigkeit von Beziehungsprozessen. Im vorliegenden Beitrag sollen diese Prozesse im Spannungsfeld von familiärer und öffentlicher Betreuung des Kindes exemplarisch untersucht und dabei erörtert werden, welche Chancen und Risiken in diesen unterschiedlichen Sozialisationskontexten für die Bildbarkeit des Kindes bestehen und welche Maßnahmen sich daraus ableiten. 1. Beziehungsprozesse in ihrer Bedeutung für die frühe Bildung Schon in den 70er Jahren wurde mit Vygotski (1978) argumentiert, dass Bildungs- und Betreuungsangebote nur dann von Kindern wirk- FI 2/ 2007 Herausforderungen und Risiken in der frühen Bildungsvermittlung 59 lich wahrgenommen werden, wenn sie in funktionierende Beziehungsstrukturen eingebettet sind. Gemäß der Bindungstheorie (Bowlby 1969) kann dem Kind in einer solchen Beziehung das Gefühl vermittelt werden, eine aktiv handelnde und selbstwirksame Person zu sein. Ohne derartige Beziehungserfahrungen erleben die Kinder die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit eher als Misserfolg und sich selbst als unfähig, was sich negativ auf das Erkundungsverhalten sowie die kindliche Anstrengungs- und Leistungsbereitschaft auswirkt. Aktuelle Untersuchungen aus der Neuropsychologie (z.B. Spitzer 2005) haben darüber hinaus zu der Schlussfolgerung geführt, dass ohne vermittelnde Beziehungen Wissensstrukturen nur unpräzise entwickelt werden. Damit gehören Vorstellungen der Vergangenheit an, die eine anregende Umwelt vorrangig als Stimulationsgeber ansehen und dabei ausblenden, dass ihr Anregungsgehalt erst über soziale Vermittlung transportiert werden muss, um mentale Kompetenzen entstehen zu lassen. Die frühe Bildungsvermittlung ist danach in den Beziehungen verankert, die das Kind zunächst in seiner Familie entwickelt. Hierbei sind die sogenannten sicheren Bindungen entscheidend, die sich durch affektive warme und innige Beziehungen ausweisen und mit denen Eltern dem Kind emotionale Sicherheit gewähren und gleichzeitig sensitiv auf die Selbstentfaltungsbedürfnisse des Kindes eingehen. Dabei wird in der Regel emotional authentisch kommuniziert, sodass das Kind auch negative Emotionen artikulieren kann, die dann von den Eltern aufgefangen und emotional reguliert werden. Diese sicher gebundene Kinder entwickeln zunehmend ein eigenes brauchbares Stressmanagement, gelten als emotional balanciert, sozial zugänglich sowie intellektuell aufgeschlossen, haben Lust am Erkunden und sind offen für neue Erfahrungen (ausführlich in Ahnert 2004 a). Damit Eltern-Kind-Beziehungen jedoch auch im weiteren Verlauf der Kindheit diese bildungsfördernden Eigenschaften beibehalten, ist es nötig, das Konzept der emotionalen Sicherheit um Erziehungsprinzipien zu erweitern, die sich den entwickelnden Kompetenzen und Bedürfnissen des Kindes fortlaufend anpassen. Dazu gehören neben der (1) Aufrechterhaltung von Bindungssicherheit und liebevoller Zuwendung (2) die Achtung vor der Individualität und den zunehmenden Autonomiebestrebungen des Kindes, (3) Orientierung an verbindlichen Verhaltenserwartungen, (4) Bereitstellung vielfältiger Anregungs- und Fördermöglichkeiten sowie (5) die Ermutigung zur Partizipation an der gemeinsamen Lebensgestaltung (vgl. Tschöpe- Scheffler 2003). Kinder aus sogenannten unsicheren Bindungsbeziehungen sind dagegen auf die eigenen Bewältigungsmechanismen angewiesen, was nicht selten zu Überforderungen und emotionaler Unausgeglichenheit führt und die Bildungsbereitschaft eher sinken lässt. Wenn darüber hinaus das Elternverhalten verbindliche Orientierungen vermissen lässt, eine gemeinsame Lebensgestaltung nicht angestrebt wird und unmittelbare Anregungen ausbleiben, entwickeln diese unsicher gebundenen Kinder mit hoher Wahrscheinlichkeit auch unbefriedigende Bildungsbiografien. 2. Risiken durch mangelnde Vermittlung stimulierender Umwelteinflüsse Der Zusammenhang von Beziehungsgestaltung und Bildungsvermittlung wird derzeit insbesondere in der Debatte über die zunehmende Mediatisierung des kindlichen Alltags reflektiert, die auf Risiken aufmerksam macht, die vor allem durch unkontrolliertes Fernsehen für die mentale Entwicklung von Klein- und Vorschulkindern entstehen (Ahnert 2006 a). Amerikanische Mega-Studien haben dazu zeigen können, dass übermäßiges Fernsehen - vor allem in den ersten drei Lebensjahren - negative Folgen für die spätere Bildbarkeit des Kindes haben kann (vgl. Zimmerman & Christakis 2005). Kleinst-kinder mit ausgeprägtem Fernsehkonsum gehen danach ein hohes Risiko ein, mentale und sprachliche Defizite als Vorschulkinder aufzuweisen, neigen zur Inaktivität und scheinen an einer aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt weniger interessiert zu sein. Erklärt werden kann dies aus dem schnell wechselnden Informationsfluss medialer Angebote, die zumeist mit einer Fülle von Detailinformationen verbunden sind, die das Kind der ersten Lebensjahre nur unvollständig verarbeiten kann. Dies führt dann zu unangemessenen Vorstellungen über Begriffe und Ereignisse und lähmt zudem die Neugiermotivation. Kleinkinder brauchen jedoch eine Vermittlung, mit der das Informationsangebot selektiert und strukturiert wird, um es entwicklungsgerecht für die Informationsverarbeitung des Kindes eines bestimmten Alters zuzuführen. Bekannt sind dabei die für sichere Bindungsbeziehungen ebenfalls typischen dyadischen Interaktionsschleifen, mit denen das Kind schrittweise auf einen Sachverhalt und dessen Eigenschaften aufmerksam gemacht wird (Carpenter, Nagell & Tomasell, 1998) und auf diese Weise eine optimale Bildungsvermittlung erhält. Es verwundert deshalb nicht, dass sich mediale Angebote mit großem Erfolg derartige interaktive Techniken zunutze machen und für ausgewählte Alters- und Themenbereiche dabei exzellente Wirkungen in der Bildungsvermittlung erzielen (ausführlich Ahnert 2006 a). Die Familien sind heute jedoch angesprochen, das Medium Fernsehen als nur eine Möglichkeit der Bildungsvermittlung vorsichtig und selektiv einzusetzen und das Kind nicht vor dem Fernseher allein zu lassen. Ihnen muss es wichtig sein, die unmittelbare kindliche Auseinandersetzung mit der Umwelt anzuregen, ihr zu assistieren und sie zu unterstützen. Die in 32 Industriestaaten durchgeführte PISA-Studie hat überzeugend herausgestellt, dass die familiären Anregungsbedingungen auch noch in den späteren Phasen der Bildungsbiografien der Kinder von entscheidender Bedeutung sind (OECD, 2004). 3. Bildungsvermittlung in sozial benachteiligten Familien Von bestimmten Familienkonstellationen und -situationen wird allerdings angenommen, dass sie nur suboptimale Anregungsbedingungen bieten können. Dazu gehören Familien, die von nur einem Elternteil getragen (z. B. bei Alleinerziehenden) bzw. funktionstüchtig gehalten werden (z. B. bei schwerer Erkrankung eines Elternteils oder nach Elternverlust durch Tod) sowie schwierigen Lebensbedingungen, Konflikten (z. B. bei Scheidung) oder materiellen Ressourcenverknappungen (z. B. Armut) ausgesetzt sind. Vor allem zeigen Kinder in Armut signifikante intellektuelle Defizite und mehr Verhaltensprobleme als Vergleichskinder, die niemals Armut erfahren haben. Die NICHD-Studie (NICHD Early Child Care Research Network 2005) konnte dabei nachweisen, dass diese Probleme maßgeblich auf ein inadäquates Elternverhalten und das schlechte Beziehungsklima in der Familie zurückgeführt werden konnten. Detaillierte Vergleiche von Kindern, die Armut entweder nur im Alter von null bis drei Jahren oder erst im Alter von vier bis neun Jahren erfahren hatten, kamen zu dem Schluss, dass die späteren Erfahrungen von Armut sich gegenüber den früheren um ein Vielfaches ungünstiger auf die Kompetenzentwicklung auswirkten. Mit Armut werden damit nicht nur mangelhafte ökonomische Ressourcen, Gesundheitsbelastungen durch Ernährungs- und Wohnbedingungen, sondern eingeengte Erfahrungsmöglichkeiten durch soziale Ausgrenzung sowie Interaktionsmängel im familiären Beziehungsgefüge verbunden, die umso verheerender sind, je weniger sie den wachsenden Bedürfnissen und Kompetenzen des Kindes entsprechen. Ähnliche Risiken werden immer wieder auch für Eineltern-Familien diskutiert. Dies ist auch tatsächlich dann berechtigt, wenn diese Familien über keine oder nur eingeschränkte soziale Netze und Unterstützungssysteme verfügen und die Eltern-Kind-Be- 60 Lieselotte Ahnert FI 2/ 2007 ziehungen unsichere Bindungsmerkmale aufweisen. Dieses Risiko erhöht sich dann noch einmal um ein Vielfaches, wenn die Alleinerziehenden noch sehr jung sind, Autonomie und Identität noch nicht vollständig ausgeprägt und schon von daher kaum auf eine Elternschaft vorbereitet sind (ausführlich in Fegert & Ziegenhain 2003). 4. Unterschiedlichkeit in der Bildungsvermittlung in familiärer und öffentlicher Betreuung Liegt die Weichenstellung für die frühe Bildungsbereitschaft des Kindes damit in der Familie? Welchen Stellenwert kann öffentliche Betreuung dann noch einnehmen? Kann sie mit ihren Bildungsangeboten kompensatorisch dort wirken, wo optimale familiäre Anregungsbedingungen ausgeblieben sind? Das Wechselspiel zwischen familiärer und öffentlicher Betreuung stellt sich leider komplizierter dar, als es die Fragen suggerieren, da die Bildungsvermittlung im Rahmen einer öffentlichen Betreuung auf anderen Prozessen beruht, als sie aus der Eltern-Kind-Beziehung bekannt sind. 4. 1 Erzieherverhalten, Erzieherinnen- Kind-Beziehungen und Bildungsvermittlung In vielfältigen Studien ist aufgezeigt worden, dass Erzieherinnen-Kind-Beziehungen von den Qualitäts- und Funktionscharakteristiken abweichen, die aus der Eltern-Kind-Beziehung bekannt sind (Überblick in Ahnert et al. 2006). Richtig ist zwar, dass man in den Beziehungen eines Kindes zu seinen Erzieherinnen auch Eigenschaften aus dessen Mutter-Kind-Beziehung entdecken kann. Beispielsweise präsentieren Kinder aus sicheren Mutter-Kind-Bindungen ihre Gefühle offen und deutlicher als Kinder mit unsicheren primären Bindungserfahrungen (Ahnert, Gunnar, Lamb & Barthel 2004; Spangler & Grossmann, 1993). Sollte eine Erzieherin auf diese Kommunikationssignale Bezug nehmen, kann die entstehende Beziehung einen der Mutter- Kind-Beziehung ähnlichen Typus ausbilden. Da dieser Bezug jedoch nicht notwendigerweise hergestellt werden muss, wird auch offensichtlich, dass die Beziehungsqualität der Erzieherinnen-Kind-Beziehung maßgeblich durch die Erzieherinnen und deren Verhalten bestimmt wird. Tatsächlich zeigen Erzieherinnen-Kind- Beziehungen im Gegensatz zu den Mutter- Kind-Bindungen eine ganze Reihe von Besonderheiten. So hat eine Meta-Analyse an fast 3000 Erzieherinnen-Kind-Beziehungen aus 40 internationalen Studien gezeigt (Ahnert, Pinquart & Lamb 2006), … (a) … dass Erzieherinnen-Kind-Beziehungen auf einem Erzieherverhalten basieren, das eher im Kontrast zum mütterlichen Verhalten steht: Während sich unter den Bedingungen weitgehend ungeteilter Aufmerksamkeit das mütterliche Verhalten dyadisch ausrichten kann, muss die Erzieherin eine Gruppe regulieren, innerhalb derer sie dann auch individuelle Beziehungen entwickelt. Dies suggeriert einen völlig anderen Prozess des Beziehungsaufbaus und seiner Aufrechterhaltung zu einem einzelnen Kind. Erzieherinnen gewährleisten sicheren Bindungsbeziehungen, indem sie ihr Erzieherverhalten einerseits auf die gesamte Kindergruppe empathisch ausrichten, sich andererseits jedoch auch im richtigen Moment auf individuelle kindliche Probleme beziehen, die sie nach ihrer Bedeutsamkeit geschickt auswählen (ausführlich in Ahnert 2004 b). (b) … dass Beziehungsqualitäten von Erzieherinnen zu ihren Kindern durch die Dynamik in der Kindergruppe geprägt wird, die wiederum auf einer Binnenstrukturbildung beruht, die zunehmend durch das Alter und Geschlecht der Kinder entsteht. FI 2/ 2007 Herausforderungen und Risiken in der frühen Bildungsvermittlung 61 In eigener Forschung (Ahnert 2006 b) haben wir die Besonderheiten der Erzieherinnen- Kind-Beziehungen mit einem Fünf-Komponenten-Modell untersucht, das Booth und Mitarbeiter (Booth, Kelly, Spieker & Zuckerman 2003) aus den Arbeiten von Waters (1995) zur Beurteilung der Bindungsbeziehungen im Alltag des Kindes abgeleitet haben. Neben einem allgemeinen Index der Beziehungsqualität werden dabei fünf Qualitätskomponenten einer Bindungsbeziehung definiert: Zuwendung, Sicherheit, Stressreduktion, Assistenz und Explorationsunterstützung. Im Ergebnis umfangreicher Beobachtungen in Kindertagesstätten und in Anwendung dieses Modells hat sich herausgestellt, dass mit zunehmendem Alter (1 bis 6 Jahre) die Kinder unabhängiger von den unmittelbaren emotionsregulierenden Maßnahmen der Erzieherinnen werden. Von daher sind Sicherheitsaspekte und Merkmale der Stressreduktion in den Beziehungen der Erzieherinnen zu Vorschulkindern weniger geläufig als bei Kleinst- und Kleinkindern. Zuwendung, Assistenz und Explorationsunterstützung behalten dagegen einen hohen Stellenwert in der Erzieherin-Kind-Beziehung von der Kleinkindbis zur Vorschulzeit, auch wenn diese Beziehungsmerkmale dann dem Alter des Kindes angepasst werden müssen und sich deren Formen verändern. 4.2 Bildungsvermittlung während der ersten drei Jahre Im Kontrast zu den beziehungsbezogenen Bedürfnissen der Vorschulzeit zeichnen sich jedoch die ersten drei Lebensjahre des Kindes durch besondere Entwicklungsprozesse aus, die einer großen Dynamik unterliegen. Der Wandel von einer Frühphase (bis 18. Lebensmonat) in eine Spätphase (19. bis 36. Lebensmonat) setzt dabei spezifische Akzente für Betreuungspraxis, Beziehungsaufbau und Bildungsvermittlung (vgl. Ahnert 2005): Bekanntlich ist die Frühphase durch eine Hirn- und Intelligenzentwicklung gekennzeichnet, die auf einer zeitlich begrenzten und inhaltlich dosierten Informationsverarbeitung beruht. Auf der Basis prädisponierter kognitiver Strukturen konstruiert das Kind über vermittelnde Interaktionen mit wenigen Erwachsenen seine Lebenswirklichkeit in mentalen Konzepten. Die Sprachentwicklung in dieser Zeit steht ganz im Zeichen der phonetischen Diskriminierung des Sprachangebots, der nachahmenden Lautbildung sowie dem Erwerb dialogischer Strukturen, die ebenfalls in der Interaktion mit wenigen Erwachsenen erprobt und entwickelt werden. Die Frühphase ist darüber hinaus durch emotionale Verarbeitungsmechanismen charakterisiert, die davon abhängen, wie gut Emotionen in der Betreuung reguliert und Stressverarbeitung unterstützt werden und inwieweit eine Betreuungsperson als Sicherheitsbasis zur Verfügung steht. Im Hinblick auf die Bildbarkeit des Kindes in der Spätphase der ersten drei Lebensjahre spielt dagegen die Auseinandersetzung mit den eigenen intellektuellen Grenzen und den daraus resultierenden kognitiven Konflikten eine entscheidende Rolle. Über Kommunikationsmittel, mit denen das Kind lernt, wie man etwas berichtet, diskutiert und verhandelt, erhalten auch die Peer-Beziehungen eine bildungsrelevante Bedeutung. Wegen der anfänglich noch mangelhaften Sozialkompetenzen führen die ersten Peer-Kontakte jedoch vielfach zu Missverständnissen und Konflikten, die vermittelt werden müssen (siehe weiter unten). Unter Dreijährige brauchen in der Frühwie Spätphase ihrer Entwicklung eine überschaubare und vorhersehbare Betreuung, die sich weitgehend durch Kontinuität und Stabilität auszeichnet. Eine öffentliche Betreuung kann zwar durch mehrere Betreuungspersonen übernommen werden, muss sich jedoch durch wiederkehrende Betreuungsmerkmale ausweisen, die definierte Erziehungsziele enthalten und damit erzieherische Erfolge überprüfbar werden lassen. Für Kinder ist es von entscheidender Bedeutung, in welcher Art und 62 Lieselotte Ahnert FI 2/ 2007 Weise die Vermittlung von Bildung auf ihre Bedürfnisse und Kompetenzen Bezug nimmt. Eine kindgerechte Bildungsarbeit sollte deshalb eng an die altersbedingten Besonderheiten der Emotions- und Verhaltensentwicklung (und eben nicht nur der Denk- und Sprachentwicklung) des Kindes orientiert sein und sollte Funktionen der Stressreduktion, der Gewährung von Sicherheit und Zuwendung erfüllen, aber auch assistierend sein und der Explorationsunterstützung dienen. Gemäß den Entwicklungserfordernissen in der Früh- und Spätphase der ersten drei Lebensjahre sollte sich zudem die Betreuungspraxis von zunächst dyadisch orientierten zu sozial erweiterten Betreuungsmustern verändern. Dabei wird das Beziehungsnetz des Kindes zunächst auf einige neue Betreuungspersonen erweitert und später auf die Peers des Kindes ausgedehnt. Dazu braucht es aber auch Rahmenbedingungen, wie sie durch Betreuerschlüssel von 1 : 3 bis 1 : 4 für die Frühphase und 1 : 5 bis 1 : 10 für die Spätphase der ersten 3 Lebensjahre international empfohlen werden. Die Tagespflege kann wegen des dyadischen Bezugs in der Betreuung des Kindes und der geringeren Infektbelastung (in Kleinst-gruppen) dann sogar ein Vorteil für die Entwicklung von Kindern in der Frühphase sein - insbesondere wenn biologische Entwicklungsrisiken (Frühgeborene, abweichende Geburtsverläufe usw.) bestehen - während in der Spätphase der ersten drei Lebensjahre Kindertagesstätten gruppenbezogene Möglichkeiten besser erschließen und die besonderen Bildungsressourcen über die Peer- Kontakte einbeziehen können, welche die Basis für die spätere schulische Entwicklung bilden. 4. 3 Bildungsvermittlung in der Vorschulzeit Besonderheiten in der Bildungsvermittlung der Vorschulzeit ergeben sich vor allem durch die Peer-Interaktion, die als bedeutsame Entwicklungs- und Bildungsressource gilt. Die Peer-Interaktion schafft Möglichkeiten, um Techniken des sozialen Austauschs zu erproben und zu erlernen, wie soziale Angebote überprüft, Dialogstrukturen gegenseitigen Handelns aufgebaut, Regeln eingehalten und Kompromisse erarbeitet werden können. Vor allem sind es die Konflikte, die dem Kind die Diskrepanzen eigener Handlungsabsichten zu denen seiner Peers bewusst werden lassen und zum Aushandeln zwingen. Konflikte und Auseinandersetzungen müssen jedoch in diesem Alter noch vielfach durch die Erzieherinnen reguliert werden, damit sie nicht kontraproduktiv entgleisen. Dies ist vor allem dann angezeigt, wenn kindliche Temperamentsbesonderheiten die Gruppendynamik bestimmen, die mit einem ausgeprägt negativen Emotionsausdruck von Wut und/ oder Defiziten in der Emotionshemmung verbunden sind. Vorschulkinder können mit derartigen Konflikten nicht alleingelassen werden, sondern benötigen regelmäßig anwesende Erzieherinnen, die die Konfliktbereiche kennen und zielführend eingreifen können. Die derzeitige internationale Forschung weist jedoch insbesondere darauf hin, dass Kindergruppen in Substrukturen und Subkulturen zerfallen, die in der Regel durch das Geschlecht geprägt sind (z. B. Sebanc, Pierce, Cheatam & Gunnar 2003). Die Jungen-Gruppen zeichnen sich dabei durch hierarchische Strukturen mit erhöhten Aktivitäten und Dominanzverhalten aus, während Mädchen egalitäre Strukturen bilden, Aktivitätsniveaus besser regulieren können und prosozialer sind. Zweifelsohne vermindern diese Mädchen-Eigenschaften den Aufwand für eine Beziehungsgestaltung, vor allem wenn sie durch weibliche Erwachsene maßgeblich mitgestaltet werden, wie dies weltweit für die Mehrheit der Erzieherpersonen in der Frühpädagogik zutrifft. Es lässt sich deshalb nachweisen, dass Erzieherinnen-Mädchen-Beziehungen leichter herzustellen und ausgeprägter sind als Er- FI 2/ 2007 Herausforderungen und Risiken in der frühen Bildungsvermittlung 63 zieherinnen-Jungen-Beziehungen (Ahnert et al., 2006). In der frühpädagogischen Praxis möchte man selbstverständlich derartige geschlechtsstereotype Tendenzen nicht aufkommen lassen. Beispielsweise wurden in einer aktuellen Studie aus unserer eigenen Forschung 70 Erzieherinnen gebeten, drei Kinder aus ihrer Gruppe zu benennen, „zu denen sie sich besonders hingezogen fühlen“ (sog. Nahe Kinder) und drei Kinder (sog. Ferne Kinder), „die sie als Erzieherin ‚kaum in Anspruch‘ nehmen würden“. Im Ergebnis dieser Befragung wurden selbstverständlich keinerlei Geschlechtsunterschiede sichtbar. Die benannten Kinder wurden jedoch auch mit ihren Erzieherinnen beobachtet. Hierbei wurde nun mehr als deutlich, dass die Beziehungen der Mädchen zu der befragten Erzieherin durch generell bessere Beziehungsqualitäten beschrieben werden konnten (sowohl als Nahe wie auch Ferne Kinder) als die der Jungen. Mehr noch: Die sog. Fernen Mädchen wurden durch die externen Beobachter in ihrer Beziehungsqualität sogar noch weitaus besser eingeschätzt als die sog. Nahen Jungen der gleichen Erzieherin (Ahnert 2006 b). Da Assistenz und Explorationsunterstützung die maßgeblichen Komponenten der Erzieherinnen-Kind- Beziehung der Vorschulzeit sind, wird auch deutlich, dass sie in Erzieherinnen-Mädchen- Beziehungen besser ausgeprägt sind als in Erzieherinnen-Jungen-Beziehungen. Assistenz und Explorationsunterstützung sind zudem wichtige Prädiktoren für die Schulbewährung. Sind sie stark ausgeprägt, sagen sie die Lernbereitschaft des Kindes nach Schuleintritt voraus. Da sie jedoch in der Kindertagesstätte geschlechtsspezifisch eingesetzt werden, entstehen bereits unterschiedliche Bildungschancen für Jungen und Mädchen noch vor dem eigentlichen Schulstart. Es muss deshalb künftig darum gehen, diese Prozesse aufzubrechen, um Chancengleichheit von den Anfängen der Bildungskarriere an zu gewähren. 5. Kompensatorische Effekte in der Bildungsvermittlung durch öffentliche Betreuung Es ist immer wieder gezeigt worden, dass Kinder aus sozial schwachen Familien durch öffentliche Betreuungsangebote profitieren. Erzieherin-Kind-Beziehungen haben zwar wie die Mutter-Kind-Beziehung eine zuwendende und auch sicherheitsgebende Funktion, zeichnen sich jedoch vorrangig durch Assistenz und Impulsgebungen für die kindlichen Aktivitäten aus. Die Kinder sehen deshalb in ihren Erzieherinnen eher den Spielpartner und Unterstützer beim eigenen Wissenserwerb als einen Trostspender. Von daher sind die Beziehungskontexte in den Kindereinrichtungen kein Ersatz für Eltern-Kind-Bindungsbeziehungen, sondern Teil eines erweiterten Beziehungsnetzes, das sich in Wechselwirkung von familiären und institutionellen Sozialisationsbedingungen ausformt. Da auch bei guten Beziehungen zwischen Eltern und Erzieherinnen differente Betreuungs- und Beziehungsmuster bestehen bleiben, ist es wichtig, dass das familiäre Zeitbudget für das Zusammensein mit dem Kind nicht zu knapp gehalten wird, um die unterschiedlichen kindlichen Bedürfnisse zu befriedigen und dabei die vielfältigen Facetten der Entwicklungsförderung auszunutzen. Familiäre Außenbezüge, die mit großer Selbstverständlichkeit in die familiären Lebensmuster eingepasst werden, wirken nur dort bildungsfördernd, wo sie auch zielgerichtet eingesetzt werden. Im Bemühen um eine optimale Beziehungsgestaltung in öffentlichen Betreuungseinrichtungen eröffnet sich die Möglichkeit, mangelhafte familiäre Ressourcen kompensieren und familienexterne Startbedingungen für eine gesunde Bildungsentwicklung schaffen zu können. Literatur Ahnert, L. (2004 a). Bindung und Bonding: Konzepte früher Bindungsentwicklung. In L. Ahnert (Hrsg.). Frühe Bindung. Entstehung und Entwicklung (pp. 63 - 81). München: Reinhardt. 64 Lieselotte Ahnert FI 2/ 2007 Ahnert, L. (2004 b). Bindungsbeziehungen außerhalb der Familie: Tagesbetreuung und Erzieherinnen-Kind- Bindung. In L. Ahnert (Hrsg.). Frühe Bindung. Entstehung und Entwicklung (S. 256 - 277). München: Reinhardt. Ahnert, L. (2005). Entwicklungspsychologische Erfordernisse bei der Gestaltung von Betreuungs- und Bildungsangeboten im Kleinkind- und Vorschulalter. In Sachverständigenkommission 12. Kinder- und Jugendbericht (Hrsg.), Materialien zum 12. Kinder- und Jugendbericht: Band 1: Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern unter sechs Jahren (S. 9 - 54). München: DJI. Ahnert, L. (2006 a). Möglichkeiten und Grenzen der Nutzung audiovisueller Medien im Kindesalter: Einflüsse auf die kindliche Kompetenzentwicklung. In Theunert, H. (Hrsg.), Bilderwelten im Kopf: Interdisziplinäre Zugänge (S. 73 - 90). München: Kopaed. Ahnert, L. (2006 b). Gender-specific formation of children’s attachment relationships with care providers in preschool: Associations with later learning motivation. Paper given at the 19th ISSBD-Konferenz in Melbourne, 02-06/ 07/ 2006. Ahnert, L., Gunnar, M., Lamb, M. E., & Barthel, M. (2004). Transition to child care: Associations of infantmother attachment, infant negative emotion and cortisol elevations. Child Development, 75, 639 - 650. Ahnert, L., Pinquart, M., & Lamb, M. E. (2006). Security of children’s relationships with nonparental care providers: A meta-analysis. Child Development, 77, 664 - 679. Booth, C. L., Kelly, J. F., Spieker, S. J., & Zuckerman, T. G. (2003). Toddler’s attachment security to child care providers: The Safe and Secure Scale. Early Education & Development, 14, 83 - 100. Bowlby, J. (1969). Attachment and loss. Attachment (Vol. 1). London: Hogarth Press. (deutsch 1975: Bindung. München: Kindler.) Carpenter, M., Nagell, K., & Tomasello, M. (1998). Social cognition, joint attention, and communicative competence from 9 to 15 months of age. Monographs of the Society for Research in Child Development, 63, 176. Fegert, J. M. & Ziegenhain, U. (Hrsg.) (2003). Hilfen für Alleinerziehende. Die Lebenssituation von Einelternfamilien in Deutschland. Weinheim: Beltz. NICHD Early Child Care Research Network (2005). Duration and developmental timing of poverty and children’s cognitive and social development from birth through third grade. Child Development, 76, 795 - 810. OECD (Organization for Economic Cooperation and Development)(2004). Messages from Pisa 2000. OECD e-book from: http: / / pisa.oecd.org Sebanc, A. M., Pierce, S. L., Cheatam, C. L., & Gunnar, M. R. (2003). Gendered social worlds in preschool: Dominance, peer acceptance and assertive social skills in boys’ and girls’ peer groups. Social Development, 12, 91 - 106. Spangler, G., & Grossmann, K. E. (1993). Biobehavioral organization in securely and insecurely attached infants. Child Development, 64, 1439 - 1450. Spitzer, M. (2005). Fernsehen und Bildung. Nervenheilkunde, 8. Tschöpe-Scheffler, S. (2003). Elternkurse auf dem Prüfstand. Wie Erziehung wieder Freude macht. Opladen: Leske & Budrich. von Hentig, H. (1996). Bildung. München: Reinhardt Vygotski, L. S. (1978). Mind in society. Cambridge: Harvard University Press. Waters, E. (1995). The Attachment Q-Set (Version 3.0). Monographs of the Society for Research in Child Development, 60, 234 - 246. Zimmerman, F. J. & Christakis, D. A. (2005). Children’s television viewing and cognitive outcomes: A longitudinal analysis of national data. Archives of Pediatrics and Adolescent Medicine, 159, 619 - 625. Prof. Dr. Lieselotte Ahnert Universität Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Lehrstuhl für Entwicklungsförderung und Diagnostik Klosterstraße 79 b D-50931 Köln E-Mail: lieselotte.ahnert@uni-koeln.de FI 2/ 2007 Herausforderungen und Risiken in der frühen Bildungsvermittlung 65