eJournals Frühförderung interdisziplinär 26/3

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2007
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Die Montessori-Therapie

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Angela Matscheck
Die Montessori-Therapie ist eine Behandlung zur Eingliederungshilfe behinderter Kinder und Teil der Montessori-Heilpädagogik, die auf Erkenntnissen und Richtlinien der Ärztin Dr. Maria Montessori basiert. Sie wurde am Kinderzentrum München unter Theodor Hellbrügge entwickelt, unter Hubertus von Voß systematisiert und wird seit September 1994 berufsbegleitend gelehrt. Dort wurden ein Kindergarten und eine Schule gegründet, die als erste Montessori-Einrichtungen nichtbehinderte und behinderte Kinder gemeinsam pädagogisch förderten. Aus dieser praktischen Arbeit heraus entwickelte sich die Montessori-Einzel- und Kleingruppentherapie.
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Wer hat sie entwickelt? Die Montessori-Therapie ist eine Behandlung zur Eingliederungshilfe behinderter Kinder und Teil der Montessori-Heilpädagogik, die auf Erkenntnissen und Richtlinien der Ärztin Dr. Maria Montessori basiert. Sie wurde am Kinderzentrum München unter Theodor Hellbrügge entwickelt, unter Hubertus von Voß systematisiert und wird seit September 1994 berufsbegleitend gelehrt. Dort wurden ein Kindergarten und eine Schule gegründet, die als erste Montessori-Einrichtungen nichtbehinderte und behinderte Kinder gemeinsam pädagogisch förderten. Aus dieser praktischen Arbeit heraus entwickelte sich die Montessori-Einzel- und Kleingruppentherapie. Wie erklärt sich die Methode früher und heute? Der Leitspruch der Montessori-Therapie lautet: „Hilf mir, es selbst zu tun“. Diese Möglichkeit, etwas selbst tun zu können, muss hart erarbeitet werden. Die Kinder lernen durch Erfahrung und viele Wiederholungen. Das vorhandene international verbreitete didaktische Montessori-Material wurde adaptiert, sodass es von Kindern mit bestimmten Entwicklungsstörungen (z. B. blinde, geistig- oder körperbehinderte Kinder) besser be-griffen werden kann. Die Grundlagen der Montessori- Therapie sind heute neben der weltweit anerkannten und bekannten Montessori-Pädagogik die aktuellen Erkenntnisse aus der Neurophysiologie und Neuropsychologie und beinhalten aktuelles Wissen der Entwicklungsrehabilitation über die Auswirkungen von Behinderungen und/ oder von chronischen Krankheiten auf betroffene Personen und deren Familien und Bezugspersonen. Die Montessori-Therapie zeichnet sich durch einen ganzheitlichen Förderansatz und ihre strukturierte Arbeitsweise in vorbereiteter Umgebung mit wissenschaftlichem Entwicklungsmaterial aus. Das Kind wird in seiner Gesamtthematik innerhalb seines sozialen Umfeldes erfasst und seine unmittelbaren Bezugspersonen werden immer mit in die Therapie einbezogen. Sie sind in der Therapiestunde anwesend, um den wichtigen Therapietransfer in das häusliche Umfeld zu ermöglichen. Der Therapietransfer entsteht durch das Modellverhalten der/ des TherapeutIn, durch das Aufzeigen der in der Familie vorhandenen natürlichen Lernprozesse und Ressourcen und die Hilfe bei der Anwendung. Ebenfalls wichtig für den Therapietransfer ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Ärzten, Psychologen und/ oder Therapeuten anderer Fachrichtungen und anderer Personen aus dem Lebensumfeld des Patienten. Die Montessori-Therapie baut auf den Grundlagen der Montessori-Prinzipien auf. Dies sind die strukturierte „Vorbereitete Umgebung“ mit lebenspraktischen Übungen aus dem häuslichen Alltag. Montessori-Material beinhaltet zudem Sinnesmaterial zur Förderung jedes einzelnen Wahrnehmungsbereiches; Sprachmaterial zur Förderung des Sprachverständnisses, der aktiven Sprache und der Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben; Mathematikmaterial zum Be- Greifen von Mengen, mathematischen Dimensionen, mathematischen Vorgängen und der Kulturtechnik Rechnen; Kosmisches Material zum Verständnis von Zusammenhängen z. B. in der Geografie, Biologie, der Umwelt, im Kosmos und in den Weltreligionen; adap- Die Montessori-Therapie ANGELA MATSCHECK Frühförderung interdisziplinär, 26. Jg., S. 134 -138 (2007) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel tiertes, d. h. an den Bedürfnissen und Fähigkeiten der Patienten angepasstes Material und Zusatzmaterial auf der Basis von Montessori-Prinzipien, das Wiederholung und Vertiefung eines Lernzieles mit neu geweckter Motivation ermöglicht. Die Montessori-Therapie enthält spezielle und systemimmanente Lernprinzipien, die dem aktuellen Wissen der Psychologie und Sozialpädiatrie in Didaktik und Methodik entsprechen: • Eigener Arbeitsrhythmus und individuelles Lerntempo • Möglichkeiten der Wiederholungen eines Lernschrittes mittels Zusatzmaterialien • Freie Wahl und Orientierung an den körperlichen, emotionalen-sozialen und kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten • Bewegungsfreiräume und -anregungen • Bindungsmöglichkeit im sachlichen und sozialen Bereich • Ordnung in Raum, Material und Arbeitsweise • Isolation der Eigenschaften im Material • Isolation der Schwierigkeiten und damit systematischer Aufbau der neuropsychologischen Funktionen • Fehlerkontrolle durch das Material mit dem Effekt der „Sofortverstärkung“ • Indirekte Motivation durch den Aufforderungscharakter der einzelnen Übungen und dem Erfolgserlebnis Das Kind kommt in der Montessori-Therapie in eine für seine Entwicklung „Vorbereitete Umgebung“. Es findet dort eine fest definierte Raum- und Angebotsstruktur vor, die zur Selbsttätigkeit auffordert, Anregung und Schutz bietet und auch Grenzen aufzeigt. Fester Bestandteil dieser Umgebung ist das klassische Montessori-Material, adaptiertes Material und Zusatzmaterialien mit Aufforderungscharakter, um Lernschritte durch Wiederholung in unterschiedlichsten Übungsangeboten zu festigen. Diese Entwicklungsmaterialien haben die Aufgabe, das Kind zur Selbsttätigkeit anzuregen und das fortschreitende, sich zu entwickelnde Interesse zu wecken. Durch die integrierte Fehlerkontrolle kann das Kind sich unabhängig vom Erwachsenen selbst korrigieren. Das Beobachten des Kindes im Umgang mit den Materialien in der vorbereitenden Umgebung ist die Grundlage der montessoritherapeutischen Diagnostik. Die/ der TherapeutIn hat mit persönlicher und fachlicher Kompetenz die Aufgabe, die Montessori-Prinzipien und die „Vorbereitete Umgebung“ und die besonderen Bedürfnisse des behinderten und/ oder von Behinderung bedrohten Kindes mit seinen Bezugspersonen zu erkennen und anzupassen. Aus diesen Inhalten ergibt sich der individuelle Behandlungsplan des Kindes. Zur Therapie gehört auch die Dokumentation als Grundlage zu einer interdisziplinären Zusammenarbeit. Was soll die Montessori-Therapie bewirken? Aufgabe der Montessori-Therapie ist die Förderung der Gesamtentwicklung durch Anregung von sensomotorischen, kognitiven, sozialen und emotionalen Entwicklungsprozessen. Eine weitere Aufgabe ist es, eine drohende seelische und/ oder körperliche Behinderung zu verhüten, eine vorhandene Behinderung oder deren Folgen zu mildern und/ oder zu kompensieren und die Integration des Kindes in sein Lebensumfeld zu ermöglichen. Das Ziel ist eine möglichst weit gefasste, selbstbestimmte und selbstverantwortliche Bewältigung der täglichen Lebenssituation. Zunächst gilt es, zwischen einer Beratung/ Anleitung und einer fortlaufenden Therapie zu differenzieren. Die Beratung oder Anleitung ist meist zeitlich begrenzt. Sie umfasst themenzentrierte Hilfestellung zur Integration montessori-therapeutischer Prinzipien bei Säuglingen und Kleinstkindern, z. B. Förderung der Selbsttätigkeit und der Selbstständig- FI 3/ 2007 Die Montessori-Therapie 135 keit des Kindes, Sensibilisierung der Eltern für die individuellen Bedürfnisse des Kindes durch das Erlernen genauer Beobachtung, Anleitung und Fördermöglichkeiten zum gemeinsamen Spiel für zu Hause. Für eine fortlaufende Therapie wird ein Hilfebzw. Therapieplan mit klar definierten Förderzielen aufgrund der „Sensiblen Beobachtung“, der Bedürfnisse des Patienten und seiner nächsten Bezugspersonen und der interdisziplinären Teamgespräche aufeinander abgestimmt, kontrolliert und ggf. verändert. In ihm werden die individuellen Ziele der Therapie in den Bereichen Grob- und Feinmotorik, Perzeption, Aufmerksamkeit und Ausdauer, Sprachverständnis und expressiver Sprachgebrauch, Verhalten, soziale Kompetenz, emotionale Stabilität und Frustrationstoleranz, Regelverständnis und Integrationsfähigkeit, Kognition, Lern- und Arbeitsverhalten, Handlungsplanung und Kulturtechniken definiert. Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie und Förderung in den genannten Bereichen ist die Stärkung von übergeordneten Fähigkeiten wie: • Selbstvertrauen • Selbstwertgefühl • Selbstbewusstsein • Selbstverantwortung • Selbstachtung • Selbstständigkeit Ziel der Montessori-Therapie ist die Förderung der Gesamtpersönlichkeit des Kindes. Die individuellen Therapieziele stellen Schwerpunkte in einzelnen Funktionsbereichen (emotionaler, sozialer, kognitiver und motorischer Bereich) dar, werden jedoch immer im Rahmen einer ganzheitlichen Entwicklungsförderung gesehen. Die Umsetzbarkeit der Therapieinhalte in den Alltag des Kindes sind ein wesentlicher Bestandteil und das wichtigste Ziel der Montessori- Therapie (Förderung der Selbsttätigkeit, Gemeinschaftsfähigkeit und Kontaktfähigkeit). Worin besteht die Rolle/ Aufgabe des Kindes und der Eltern? Die Zusammenarbeit mit den Eltern und Bezugspersonen des Kindes sind ein integrierter wichtiger und unverzichtbarer Bestandteil der Montessori-Therapie. Die Anwesenheit der Eltern ist grundsätzlich erwünscht. Fragen, die während der Beobachtung einer Therapiestunde entstehen, können somit nach jeder Therapiestunde besprochen werden. Bei älteren Kindern, die alleine zur Therapie kommen, werden regelmäßige Elterngespräche angeboten. Die/ der TherapeutIn wiederum macht die Eltern auf die Leistungen, Erfolge und Fortschritte des Kindes aufmerksam und bespricht mit den Eltern die Umsetzung der Therapieinhalte und damit die Förderung der Fähigkeiten des Kindes im Alltag. Die kleinen Aufgaben, welche die Eltern dem Kind zu Hause übertragen, sollten klar und deutlich formuliert werden und vom Zeitaufwand und Schwierigkeitsgrad her gut zu schaffen sein. Das Kind soll die Erfahrung machen können, es selbst tun zu können. Die Eltern müssen sich darauf einstellen, dass in Zukunft alles etwas länger dauern kann. Mutter/ Vater werden nur dann gefordert zu helfen, wo das Kind alleine nicht mehr weiter kommt und ziehen sich sofort wieder zurück, wenn das Kind das Problem überwunden hat. Hat das Kind Spass und Freude an der Selbsttätigkeit entdeckt und entwickelt und kommt so zum Erfolg, verliert es die Angst vor neuen Erfahrungen, wird selbstständiger und kann Selbstbewusstsein entwickeln. Die Eltern sollen hierbei von Anfang an, beginnend bei der Selbsttätigkeit, ihr Kind mit verdientem Lob und Anerkennung begleiten. Damit sich eine therapeutische Beziehung zwischen dem Kind, seinen Eltern und der/ dem Montessori-TherapeutIn entwickeln kann, müssen auch einige Regeln eingehalten werden, wie z. B. pünktliches Erscheinen oder rechtzeitige Absage der Therapiestunde, Offenheit für Fragen, Unsicherheiten und Schwierigkei- 136 Angela Matscheck FI 3/ 2007 ten, regelmäßiges Überprüfen der Zielsetzung, der Motivation für die Therapie und das Vertrauen in die Therapie sowie die Bereitschaft, aktiv mitzuarbeiten. Für wen ist die Therapie bestimmt? Aufgrund der verschiedenen Arbeitsfelder ist die Patientengruppe sehr vielfältig und umfasst mehrfach und verschiedenartig behinderte und/ oder von körperlicher, geistiger und/ oder seelischer Behinderung bedrohte Säuglinge, Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Montessori-Therapie ist indiziert bei: • Bewegungsstörungen • Defiziten im Bereich der Körperwahrnehmung • Störungen der Feinmotorik • Sinnes- und Wahrnehmungsstörungen/ ausfällen • Teilleistungsschwächen/ -störungen • Verhaltensauffälligkeiten/ -störungen • Aufmerksamkeitsdefiziten mit oder ohne Hyperkinetischem Syndrom • Konzentrationsschwächen • Schulängsten/ -versagen • Verweigerungshaltungen • Sprachentwicklungsverzögerungen/ -störungen • Lese- und Rechtschreibschwäche Legasthenie • Rechenschwäche Dyskalkulie • Kognitivem Entwicklungsrückstand • Emotionaler, körperlicher und/ oder geistiger Entwicklungsverzögerung/ -störung • Kindern und Erwachsenen mit genetischen Syndromen und mit geistiger Behinderung • Kindern mit körperlicher, geistiger und seelischer Behinderung oder mit Bedrohung einer solchen Behinderung • Mehrfachbehinderten Kindern und Erwachsenen Kontraindikationen können sein: Mangelnde Mitarbeit der Eltern, andere medizinische und/ oder psychologische Prioritäten Wer wendet sie an und wie oft? Die Montessori-Therapie ist eine eigenständige Therapieform, die sich sehr gut mit anderen Therapien sinnvoll kombinieren lässt. Die/ der ausgebildete Montessori-TherapeutIn arbeitet in Einzelund/ oder Kleingruppentherapie meist 1 - 2 x wöchentlich selbstverantwortlich mit den oben genannten Zielgruppen interdisziplinär in einer Institution als Angestellte(r), in freier Mitarbeit oder auch selbstständig in eigener Praxis, als Fachdienst in Institutionen oder in Integrationsgruppen (Einzeltherapie in Zusammenarbeit mit den Eltern, Beobachtung und Lenkung der Gruppensituationen, Teamsitzungen mit allen Bezugspersonen der Einrichtung) oder in Regelgruppen bei Einzelintegration. In klinischer Behandlungsform, z. B. in der Klinik für Entwicklungsrehabilitation im Kinderzentrum München, kann die Therapie auch täglich stattfinden. Kontinuität und Dauer der Behandlungseinheit richten sich nach den individuellen Bedürfnissen der Patienten und deren Bezugspersonen. Eine Therapieeinheit kann in der Regel von 30 bis zu 120 Minuten dauern. Die Montessori-Therapie ist von den Ursprüngen her eine Entwicklungstherapie, d. h. sie begleitet über einen längeren Zeitraum die Entwicklung eines Kindes im Kontext seiner sozialen Umgebung. Form, Umfang und Inhalte der Montessori-Therapie sollten von ärztlicher und/ oder psychologischer Seite im Verlauf mit der/ dem TherapeutIn regelmäßig überprüft werden. Montessori-TherapeutInnen haben einen sozialpädagogischen oder lehrenden Grundberuf, wie z. B. ErzieherInnen, SozialpädagogInnen, LehrerInnen, PädagogInnen etc. Daran schließt sich die berufsbegleitende Montessori-Fortbildung, das Montessori-Diplom, an. Die Ausbildung dauert ca. 2 Jahre und umfasst acht Blöcke von jeweils 5 Tagen, zusätzlich sind noch 12 Pflichtseminare an Wochenenden zu besuchen. Diese Montessori- Kurse werden von verschiedenen Einrichtungen und Institutionen angeboten, die je nach FI 3/ 2007 Die Montessori-Therapie 137 Fortbildungsinhalten viel praktische Arbeit mit dem Material anbieten, was ich persönlich sehr wichtig finde. International anerkannt ist der AMI- Montessori-Diplom-Kurs. An diese Montessori-pädagogische Fortbildung schließt sich am besten nach einigen Jahren praktischer Tätigkeit mit Kindern die Montessori-therapeutische Fortbildung an. Sie findet in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Dr. von Voß, Frau Lore Anderlik und dem Montessori-Berufsverband in München und Puchheim statt. Dieser Kurs basiert auf einem Curriculum und dauert knapp zwei Jahre; die staatliche Anerkennung dieses Kurses wurde von Prof. v. Voß beantragt. Wo kann man mehr erfahren? Geschäftsstelle des Montessori-Berufsverbandes e.V. Frau Marion Krettner-Suttor Steinbach 2 84152 Mengkofen Tel.: (0 87 74) 13 42 Literatur Anderlik, Lore: Ein Weg für alle. Leben mit Montessori. Montessori-Therapie und -Heilpädagogik in der Praxis. Dortmund, modernes lernen, 2006, 4. Aufl. Auerbach, Dagmar: Montessori-Förderung spürbar gut. Nandalala Verlag, 88267 Vogt Milz, Ingeborg: Montessori-Pädagogik, neuropsychologisch verstanden und heilpädagogisch praktiziert. Dortmund, modernes lernen, 1999 Angela Matscheck Sonnenblumenstr. 1 D-81377 München 138 Angela Matscheck FI 3/ 2007