Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2007
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Die Rolle der ICF-CY in Sozialpädiatrischen Zentren
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2007
Martin Häußle
An Sozialpädiatrischen Zentren werden Kinder mit Entwicklungsauffälligkeiten, Behinderungen und chronischen Krankheiten interdisziplinär betreut. Die ICF-CY ist ein vielversprechendes Instrument zur interdisziplinären Verständigung in Sozialpädiatrischen Zentren. Speziell erleichtert die ICF-CY: die genaue Beschreibung der Lebenssituation bei komplexen Störungsbildern, die Definition von Zielsetzungen für entwicklungsfördernde Therapien und für Hilfsmittel und die Darstellung der Bedürfnisse von Kindern und ihren Familien gegenüber Kostenträgern. Dies wird an sieben Fallbeispielen veranschaulicht.
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Die Rolle der ICF-CY in Sozialpädiatrischen Zentren MARTIN HÄUßLER Zusammenfassung: An Sozialpädiatrischen Zentren werden Kinder mit Entwicklungsauffälligkeiten, Behinderungen und chronischen Krankheiten interdisziplinär betreut. Die ICF-CY ist ein vielversprechendes Instrument zur interdisziplinären Verständigung in Sozialpädiatrischen Zentren. Speziell erleichtert die ICF-CY: die genaue Beschreibung der Lebenssituation bei komplexen Störungsbildern, die Definition von Zielsetzungen für entwicklungsfördernde Therapien und für Hilfsmittel und die Darstellung der Bedürfnisse von Kindern und ihren Familien gegenüber Kostenträgern. Dies wird an sieben Fallbeispielen veranschaulicht. Schlüsselwörter: ICF-CY, Sozialpädiatrische Zentren The Impact of the ICF-CY on Centers for Social Pediatrics in Germany Summary: In Germany, Centers for Social Pediatrics offer multidisciplinary services for children with developmental disorders, disabilities and chronic diseases. The ICF-CY is a promising tool for communication between different professionals in Centers for Social Pediatrics. Especially, the ICF-CY facilitates: an exact description of the life conditions in complex disorders, the definition of goals of treatments and of goals of aids and the documentation of the needs of children and their families. This is illustrated by seven case histories. Keywords: ICF-CY, Centers for Social Pediatrics in Germany Frühförderung interdisziplinär, 26. Jg., S. 173 -180 (2007) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Die Betreuung von Kindern mit Entwicklungsauffälligkeiten und Behinderungen lebt sehr stark von der Vielfalt der beteiligten Berufsgruppen. Manchmal aber ist der Pluralismus der Konzepte in diesem Bereich derart verwirrend, dass man sich wie beim Turmbau zu Babel vorkommt: die Bauleute sprechen verschiedene Sprachen und das Bauwerk der Entwicklungsförderung droht zu scheitern. Mit der Verabschiedung der ICF ist der WHO etwas Erstaunliches gelungen: ein internationaler und berufsübergreifender Konsens über ein Begriffssystem für alle Bereiche der Gesundheit (WHO 2001, WHO 2006 a, WHO 2006 b). Die Begriffe, die die ICF definiert, sind zum Teil nichts Neues, neu ist aber der Konsens, der darüber erzielt wurde. Um diesen Konsens wurde lange und mühsam gerungen. Es ist daher verständlich, wenn sich auch die Umsetzung der ICF in die Praxis mühsam gestaltet. Häufig wird kritisiert, daß die ICF in der vorliegenden Form zu unhandlich, ja unbrauchbar sei. Dabei wird übersehen, daß die Komplexität dieses Instruments wohlbegründet ist: Man wollte den verschiedensten Lebenssituationen gerecht werden und eine sehr individualisierte Beschreibung des Gesundheitszustandes ermöglichen. Es ist nicht möglich, die ICF auf einfache Formeln zu verkürzen, ohne diese Komplexität zu verlieren. Ein anderer Irrtum ist, daß die ICF lediglich eine Liste von Kodierungen und Kategorien sei - ähnlich Hausnummern oder Schubladen. Dies mag sie für einige attraktiv machen, andere lehnen sie genau aus diesem Grund ab. Dabei werden die Chancen übersehen, die die ICF für die interdisziplinäre Verständigung der Fachleute und für die Verständigung mit Patienten und Eltern bietet. In diesem Beitrag möchte ich zunächst Grundsätze für die Nutzung der ICF-CY in Sozialpädiatrischen Zentren aus theoretischer Sicht darstellen. Danach möchte ich dies durch Fallbeispiele veranschaulichen. Dadurch sollen insbesondere die Grundbegriffe der ICF- CY deutlich werden, die ich aus der deutschen Übersetzung der ICF übernehme (WHO 2006 a), da sie in beiden Fassungen identisch sind. Hierbei wird die ICF ihre beiden Gesichter zeigen: ihren hohen Abstraktionsgrad einerseits und ihre Lebensnähe andererseits. 174 Martin Häußler FI 4/ 2007 Grundsätze für die Umsetzung der ICF-CY an Sozialpädiatrischen Zentren 1. Komplexe Störungsbilder An Sozialpädiatrischen Zentren werden Kinder mit komplexen Störungsbildern und multiplen Problemen betreut. Diese Störungen und Probleme müssen benannt werden können. Dazu werden Klassifikationen und diagnostische Systeme benötigt. Um dem einzelnen Kind gerecht zu werden, müssen diese umfassend und flexibel sein. Die ICF-CY bildet ein umfangreiches Begriffssystem und gestattet die Abbildung komplexer gesundheitsbezogener Lebenssituationen. 2. ICF im Vergleich zu anderen Klassifikationen Gegenüber bisherigen in der Sozialpädiatrie üblichen Klassifikationen wie z. B. der Mehrdimensionalen Bereichsdiagnostik (BAG SPZ 2003) oder dem Multiaxialen Klassifikationsschema (Remschmidt et al. 2002) hat die ICF- CY den Vorteil, dass sie auch Aktivitäten und die Teilhabe abbildet. Umweltfaktoren, wie sie die ICF beschreibt, sind mit den anderen Systemen nur teilweise zu erfassen. Außerdem erlaubt die ICF-CY Positivdefinitionen von Körperfunktionen und Aktivitäten sowie der Teilhabe. Dies ermöglicht eine Diagnostik von Ressourcen und nicht nur eine Diagnostik von Störungen. Aufgrund der Entstehung der ICF- CY (Übernahme der Grundstruktur der ICF für Erwachsene) ergibt sich der Nachteil, dass die ICF-CY Familienstrukturen schlecht abbildet. Die ICF-CY soll daher andere Klassifikationssysteme nicht ersetzen. 3. Heterogenität der Berufsgruppen und Institutionen In Sozialpädiatrischen Zentren arbeiten viele verschiedene Berufgruppen zusammen. Sozialpädiatrische Zentren haben vielfältige Schnittstellen zu anderen Institutionen (Frühförderstellen, niedergelassene Ärzte und Therapeuten, Jugendämter, Erziehungsberatungsstellen, Kliniken, Kostenträger, medizinischer Dienst der Krankenkassen usw.). In den verschiedenen Berufsgruppen und Institutionen werden unterschiedliche Begriffssysteme genutzt. Dadurch können in der täglichen Arbeit Missverständnisse auftreten sowohl innerhalb eines Sozialpädiatrischen Zentrums als auch an den Schnittstellen zu anderen Institutionen. Die ICF-CY kann hier eine gemeinsame Sprache für alle Beteiligten zur Verfügung stellen. 4. Kostenträger im Bereich der Sozialgesetzgebung Häufig ist es Aufgabe Sozialpädiatrischer Zentren, Bedürfnisse der betreuten Kinder und Familien gegenüber Kostenträgern deutlich zu machen. Hierfür kann die ICF-CY gut genutzt werden (soweit die Kostenträger die ICF-„Sprache“ verstehen). 5. Therapieziele und Behandlungspläne Die Begriffe der ICF lassen sich zur Definition von Therapiezielen für Kinder, die in einem SPZ betreut werden, und zur Aufstellung von Behandlungsplänen verwenden. Dabei sollten die verschiedenen Ebenen der ICF-CY berücksichtigt werden. Man sollte untersuchen, welche Störungen oder Ressourcen im Bereich der Körperstrukturen, Körperfunktionen, der Aktivitäten, der Partizipation und der Umweltfaktoren vorliegen und welche Behandlungsziele in diesen Bereichen angestrebt werden sollen. Zusätzlich ist auch die Evaluation von Therapieverläufen möglich. Auch Ziele der Hilfsmittelversorgung lassen sich mit der ICF-CY gut definieren. 6. Kodierung Eine umfassende Kodierung nach der ICF-CY ist im Alltag nicht realisierbar. Die Kodierungen sind nicht der wichtigste Teil der ICF- CY. Bisher leisten Sozialpädiatrische Zentren bereits einen erheblichen Aufwand an Do- FI 4/ 2007 Die Rolle der ICF-CY in Sozialpädiatrischen Zentren 175 kumentation (ICD10, Mehrdimensionale Bereichsdiagnostik Sozialpädiatrie usw.). Dieser Aufwand sollte sich mit der Anwendung der ICF-CY nicht erhöhen. 7. Schutz der Privatsphäre Mit Hilfe der ICF-CY kann man umfangreiches Datenmaterial über einzelne Patienten in übersichtlicher und leicht zugänglicher Form sammeln. Da die ICF-CY alle Lebensbereiche erfasst, können die dabei erhobenen Daten bis weit ins Privatleben der Kinder und Familien reichen. Bei der Arbeit mit der ICF-CY ist daher der Schutz der Privatsphäre dringlich. Dies gilt vor allem dann, wenn Kodierungen verwendet werden, die von EDV-Systemen leicht gespeichert werden können. Kasuistiken Fallbeispiel 1: Massive Beeinträchtigung der Teilhabe, nur zeitweilige Störung von Körperfunktionen Andrea (3 Jahre und 9 Monate) hat ein Opsoklonus-Myoklonus-Syndrom. Schubweise tritt eine massive Fallneigung auf (Ataxie), sodass Andrea kaum gehfähig ist. Sie kann in diesem Zustand auch den Kindergarten nicht besuchen. Zwischen den Schüben besteht nur ein ganz leichtes Händezittern. Die Gesamtentwicklung entspricht der unteren Altersnorm. Da die Behandlung dieser Erkrankung mit Steroidhormonen zu einer erhöhten Infektgefährdung führt, bleibt Andrea auch dann zu Hause, wenn im Kindergarten Infekte auftreten. Auf diese Weise findet sie zu den anderen Kindern kaum Kontakt. Deshalb wurde eine Einzelintegration beantragt nach Art. 11 Bayerisches Kinderbildungs- und betreuungsgesetz in Verbindung mit § 53 SGB XII. Der Integrationskraft gelang es, gemeinsame Spiele zu organisieren und Andrea mehr in die Kindergartengruppe einzubinden. Kommentar: Eine Störung von Körperfunktionen (Fallneigung) tritt bei Andrea nur zeitweilig auf und wird entsprechend behandelt. Ein Förderbedarf im herkömmlichen Sinn besteht nicht. Es liegt aber eine massive Beeinträchtigung der Teilhabe vor. In diesem Fall genügten zwei Grundbegriffe der ICF- CY, um eine sehr komplexe Lebenssituation zu beschreiben und geeignete Hilfen auf den Weg zu bringen. Fallbeispiel 2: Behandlung gestörter Körperfunktionen, kein Transfer, weiterbestehende Beeinträchtigung von Aktivitäten Bei Paul fällt seit den ersten Lebensjahren ein ungeschicktes Bewegungsverhalten auf. Dies äußert sich in der Grobmotorik, aber auch in der Feinmotorik. Die feinmotorischen Probleme führen z. B. zu sehr „unsauberem“ Essen. Paul erhält im Alter von 4 - 8 Jahren in einer Ergotherapiepraxis eine sensorische Integrationsbehandlung. Nach dem Besuch der Diagnose- und Förderklasse kann er in die Hauptschule wechseln und erreicht schließlich den mittleren Schulabschluss. Mit 16 Jahren wird er nochmals wegen eines Tics vorgestellt. Er zeigt weiterhin deutliche Schwierigkeiten vor allem bei feinmotorischen Aktivitäten. Z. B. hält er den Löffel beim Essen in starker Pronation (Innenrotation des Unterarms), und isst weiterhin ziemlich „unsauber“. Immer wieder wird er deswegen kritisiert oder gehänselt. Kommentar: Es liegt eine Störung von Körperfunktionen vor (Störung der Grob- und Feinmotorik). Diese hat eine Beeinträchtigung von Aktivitäten zur Folge (hier z. B. der Aktivität „Essen“). Die sensorische Integrationsbehandlung bezieht sich auf Körperfunktionen. Nach früheren Vorstellungen führt die erfolgreiche Behandlung von gestörten Körperfunktionen durch Transfer in den Alltag zu besseren Aktivitäten (Siehe Abb. 1 a). Dieser Transfer kam bei Paul nicht zustande. Er hat weiterhin eine Beeinträchtigung von Aktivitäten, bisweilen sogar eine Beeinträcha Körperfunktionen Aktivitäten Transfer b Körperfunktionen Aktivitäten Abbildung 1: Zusammenhang zwischen Körperfunktionen und Aktivitäten a) Nach früheren Vorstellungen führen Verbesserungen der Körperfunktionen durch „Transfer“ in den Alltag zu Verbesserungen der Aktivitäten. Zwischen Körperfunktionen und Aktivitäten besteht ein monokausaler Zusammenhang. b) Nach dem Grundmodell der ICF sind Körperfunktionen und Aktivitäten unterschiedliche Dimensionen des Gesundheitszustandes einer Person. Zwischen beiden gibt es eine lockere Beziehung, aber keinen direkten monokausalen Zusammenhang. 176 Martin Häußler FI 4/ 2007 tigung der Teilhabe (z. B. Essen in gesellschaftlichem Rahmen). Im Gegensatz zu ihrer Vorläuferversion, der ICIDH (WHO 1980), postuliert die ICF nur eine lockere Beziehung zwischen Körperfunktionen und Aktivitäten (Siehe Abb. 1 b). Eine Studie an 30 Vorschulkindern mit motorischen Störungen zeigte nur geringe Zusammenhänge zwischen motorischen Körperfunktionen und Aktivitäten (Case- Smith, 1995). Nach heutigen Vorstellungen sollte eine Behandlung gestörter motorischer Körperfunktionen ergänzt werden durch eine Aufgaben-orientierte Therapie auf der Ebene der Aktivitäten (Valvano 2004). Hierbei nutzt man motorische Lernvorgänge, indem man die entsprechenden Aktivitäten in einem sinnvollen Kontext übt. Dies erleichtert den Transfer in den Alltag (Shumway-Cook/ Woollacott 2007). Fallbeispiel 3: Gute Leistungsfähigkeit (capacity), beeinträchtigte Leistung (performance) Markus (5 Jahre) hat eine geistige Behinderung. Es besucht den Kindergarten der Lebenshilfe. Im Sozialpädiatrischen Zentrum fragt man die Mutter, ob er sich an- und ausziehen könne. Sie antwortet, das könne er schon, wenn man ihm genug Zeit lasse, man ihm die Kleider schön hinlege und ihn hin und wieder verbal unterstütze. Morgens aber, wenn der Bus der Lebenshilfe komme, sei keine Zeit. Markus neige dann zum Trödeln. Sie habe die morgendlichen Machtkämpfe satt und ziehe ihn dann einfach an. Kommentar: Die ICF-CY unterscheidet bei den Aktivitäten zwischen Leistungsfähigkeit (capacity) und Leistung (performance). Sie differenziert damit, ob Aktivitäten ausgeführt werden können und ob sie im Alltag auch tatsächlich ausgeführt werden. Markus zeigt in Bezug auf die Aktivität „Kleidung anziehen“ eine gute Leistungsfähigkeit, aber eine beeinträchtigte Leistung. Diese Situation kommt in der Arbeit mit Kindern mit Behinderungen häufig vor. Die ICF-CY stellt hier die Begriffe zur Verfügung, mit denen man die Situation beschreiben kann. Fallbeispiel 4: Konflikt unterschiedlicher Zielsetzungen - Erhaltung von Körperstrukturen oder Unterstützung von Aktivitäten Bei Laura (4 Jahre und 6 Monate) besteht eine spastische Diparese (beinbetonte Spastik). Sie kann nur mit großer Mühe mit viel Führung eine kurze Strecke in der Wohnung gehen und zeigt dabei ein Beugemuster (vermehrte Knie- und Hüftbeugung). Der Vater möchte für Laura einen Rollator beantragen. Mit dem Vorwärtsrollator kann Laura tatsächlich mit großer Mühe einige Schritte gehen und hat sichtlich Spaß dabei. Dabei wird aber das Beugemuster unterstützt. Einen Retrowalker (der ihr mehr Streckung ermöglichen würde) kann sie nicht kontrollieren. Für andere Gehhilfen, die mehr Unterstützung bieten, ist in der sehr engen Wohnung kein Platz. Nach Aufklärung des Vaters über die drohenden Kontrakturen (Verkürzungen) der Knie- und Hüftbeugemuskulatur wird schließlich ein Vorwärtsrollator verordnet. Bei der Entscheidung hilft die FI 4/ 2007 Die Rolle der ICF-CY in Sozialpädiatrischen Zentren 177 Überlegung, dass Laura den Rollator wahrscheinlich nicht sehr häufig nutzen wird. Kommentar: Bei Laura droht eine Verkürzung der Knie- und Hüftbeugemuskulatur, d. h. eine Schädigung (von Körperstrukturen). Der verordnete Rollator unterstützt dies leider, ermöglicht Laura aber eine Aktivität, die ihr ansonsten nicht zur Verfügung steht: eine selbstständige aufrechte Fortbewegung - wenigstens in sehr begrenztem Maße. Ein Umweltfaktor (sehr enge Wohnung) verhindert den Einsatz aufwendigerer Hilfen zur Fortbewegung. Bei Kindern mit Zerebralparesen strebt man einerseits an, kurz und mittelfristig Aktivitäten zu unterstützen und zu verbessern, andererseits langfristig Körperstrukturen (Muskeln und Sehnen, Hüfte, Wirbelsäule) zu erhalten. Konflikte zwischen diesen beiden Zielsetzungen sind nicht selten: Wenn man dem Kind Aktivitäten ermöglicht, können Körperstrukturen bedroht sein, oder wenn man Körperstrukturen erhalten möchte, geschieht dies manchmal auf Kosten von Aktivitäten. Mit den Begriffen der ICF-CY kann man den Konflikt gut beschreiben. Es fällt dann leichter, mit den Eltern zusammen eine Kompromisslösung zu finden. Fallbeispiel 5: Störung von Körperfunktionen, keine Beeinträchtigung der Aktivitäten und der Partizipation Bei Peter (5 Jahre) fällt im Kindergarten ein ungeschicktes Bewegungsverhalten auf. Z. B. ist es ihm kaum möglich, auf einem Bein zu hüpfen. Eine Mitarbeiterin des Kindergartens schlägt deswegen die Verordnung von Ergotherapie vor. Wegen seines freundlichen Wesens ist Peter bei allen Kindern beliebt und wird gerne zu Spielen dazugeholt. Auch bei Bewegungsspielen (z. B. Fangen) beteiligt er sich gerne, obwohl die anderen Kinder die Spiele besser können und er sehr oft „Letzter“ wird. Für ihn jedoch ist vor allem wichtig, dass er mitspielt. Kommentar: Es liegt eine Störung von Körperfunktionen vor (Grobmotorik). Die Aktivitäten und vor allem die Teilhabe sind aber nicht beeinträchtigt. Eine Therapie ist daher nicht nötig. Wichtige Ressourcen sind Peters gute „informelle soziale Beziehungen“ (Aktivität) und die ihn mit seinen Schwierigkeiten akzeptierenden „individuellen Einstellungen von Seinesgleichen“ (Umweltfaktor). Die ICF-CY erleichtert die Erkennung solcher Ressourcen. Ähnlich wie in den Fallbeispielen 2 und 4 hilft die ICF-CY auch hier, die Beobachtungen und Befunde zu ordnen und eine sinnvolle Entscheidung über die Betreuung zu treffen. Fallbeispiel 6: ICF und Hilfsmittelversorgung Josef (4 Jahre) hat eine geistige Behinderung bei guten motorischen Fähigkeiten. Er hat bisher keine Sprache erworben. Seit einiger Zeit besucht er den Kindergarten der Lebenshilfe. Er kann kaum mit Spielzeug umgehen. Auch im Kindergarten läuft er nur hin und her, bleibt nicht sitzen und muss auch beim Essen (Füttern) festgehalten werden. Es wurden verschiedene Fixiersysteme versucht, um ihn zum Sitzen zu bringen - leider erfolglos. Josef kann daher von den Angeboten im Kindergarten kaum profitieren. Die Mitarbeiter des Kindergartens beobachten aber, dass er sich oft in enge Lücken zwischen Möbelstücken zwängt und dort auch zur Ruhe kommt. Man leiht ihm daraufhin einen Therapiestuhl, wie er sonst für Kinder mit Bewegungsstörungen verwendet wird. Offensichtlich hilft ihm der enge Kontakt durch die Pelotten und Fixiersysteme, sodass er zur Ruhe findet. Josef kann auf diesem Stuhl sitzend zum Teil an den Angeboten im Kindergarten teilnehmen, auch in Ruhe essen. Leider wird der Therapiestuhl von der Krankenkasse auch im Widerspruchsverfahren abgelehnt. Die Begründung lautet, Therapiestühle seien nur für Kinder mit Bewegungsstörungen bestimmt, die nicht sitzen können. Abbildung 2: ICF-Blatt (Fallbeispiel 7) Grau unterlegt: ICF-Komponenten. In der zweiten Zeile wurden die Anliegen des Patienten eingetragen. Darunter wurden von den Fachleuten die passenden ICF-Einzelkategorien notiert. Behandlungsziele sind umrandet. Mediatoren (Einflussfaktoren) sind gestrichelt umrandet, Einflussmöglichkeiten durch Pfeile gekennzeichnet. Weitere Erläuterungen im Text. Copyright © Dr. Werner Steiner, Zürich (Modell) 178 Martin Häußler FI 4/ 2007 Kommentar: Der medizinische Dienst der Krankenkassen bemängelt häufig die sehr spärlichen Informationen über die Ziele von verordneten Hilfsmitteln. Bei vielen Kindern hat es sich bewährt, die ICF-Kategorien zu verwenden, um die Indikation und das Ziel einer Hilfsmittelversorgung zu untermauern. Damit lässt sich die Kommunikation und der Informationsfluss verbessern und das Genehmigungsverfahren beschleunigen. In diesem Fall sind folgende Aktivitäten Ziel der Versorgung: „d4153 In sitzender Position verbleiben“ und daraus folgend „d550 Essen“, „d560 Trinken“, „d750 Informelle soziale Beziehungen“, „d811 Spiel“, „d815 Vorschulerziehung“, „d110 - 135, d155 - 161 Lernen- und Wissensanwendung“. Leider verstand der Kostenträger in diesem Fall die ICF-Sprache nicht. Fallbeispiel 7: Definition von Behandlungszielen mit dem ICF-Blatt Emre (2 Jahre und 4 Monate) ist das einzige Kind einer jungen türkischen Familie. Die Mutter stellt ihn vor, weil er noch nicht spreche. Außerdem schlafe er nur mit ihr zusammen ein und schlafe schlecht durch. Er spiele auch kaum. Bei der Anamneseerhebung geht der Junge im Raum umher, fasst Spielzeuge an, beschäftigt sich aber nicht damit. Auch im gemeinsamen Spiel sind nur ganz kurze Spielsequenzen möglich. Der körperliche und der neurologische Befund sind unauffällig. Offensichtlich besteht eine schwere globale Entwicklungsstörung. Bei der medizinischen Abklärung (EEG, kraniale Kernspin- FI 4/ 2007 Die Rolle der ICF-CY in Sozialpädiatrischen Zentren 179 tomografie, Chromosomenanalyse, Diagnostik auf Fragiles-X-Syndrom, Hörprüfung, augenärztlicher Befund) ergibt sich kein pathologischer Befund. Kommentar: Für Emre wurde das ICF- Blatt ausgefüllt (Siehe Abb. 2). Das ICF-Blatt wurde in der Rehabilitationsmedizin entwickelt und erleichtert die Definition von Behandlungszielen innerhalb eines interdisziplinären Teams (Steiner et al. 2002; Ewert et al. 2005). Es kommt auch in der Ergotherapie zum Einsatz (Von Garnier 2006). Die Befunderhebung mit dem ICF-Blatt folgt dem top-down-Prinzip, wie es in der Ergotherapie definiert wurde (Weinstock-Zlotnick 2004). Bei Anwendung des top-down-Prinzips richtet sich die Befunderhebung nach den Anliegen des Patienten/ Clienten bzw. der Eltern. Auch die Behandlungsziele orientieren sich weitgehend daran. (Umgekehrt verhält es sich beim bottom-up-Prinzip: Hier legen die Fachleute fest, was untersucht wird und danach, was die Behandlungziele sind. Diese müssen dann den Eltern schmackhaft gemacht werden.) In die oberste Zeile des ICF-Blatts werden die medizinischen Daten von Emre eingetragen, darunter die Anliegen der Eltern (in der Ausdrucksweise der Eltern). Diese werden bereits den ICF-Komponenten zugeordnet. Danach übersetzen die Fachleute die Anliegen der Eltern in die ICF-Sprache. „Übersetzen“ bedeutet hier: Herausfinden der passenden ICF-Kategorien, Abwägen, welche Ziele realistisch sind, Setzen von Prioritäten und der Versuch, Zusammenhänge zu finden. Die ICF-Einzelkategorien werden in die untere Hälfte des ICF-Blatts eingetragen - sortiert nach den Komponenten der ICF. Behandlungsziele werden umrandet, mögliche Einflussfaktoren werden gestrichelt umrandet, Beziehungen durch Pfeile dargestellt. Bei Emre könnten die Schlafprobleme mit der Mutter-Kind-Beziehung zusammenhängen, möglicherweise auch mit dem kulturell geprägten Erziehungsverhalten und den Einstellungen der Eltern. Beides ist wahrscheinlich beeinflussbar. Das Erlernen von Sprache erscheint auf absehbare Zeit nicht realistisch, sodass man nach anderen Möglichkeiten der Kommunikation suchen muss. Auch das Erlernen von Gesten ist für Emre wahrscheinlich zu schwierig. Realistisch erscheint der Erwerb von präverbaler Vokalisation. Unterstützend könnte die Aufmerksamkeit für Stimmen gefördert werden. Einfache Spiele (z. B. einfaches Bauen) erscheinen möglich. Dafür muss man die Aufmerksamkeit fördern, man muß eine geeignete Sitzposition finden und geeignete Spielzeuge anbieten (Umweltfaktor). Längerfristig wird man nach einem geeigneten Kindergarten suchen. Emre kann dort Freunde finden und einfache Aufgaben erlernen. Außerdem wird man ihn an das selbstständige Essen heranführen. Auch hierfür benötigt Emre eine geeignete Sitzposition. Bei allen Maßnahmen wird man die Unterstützung durch die Eltern benötigen. Man sollte sich darüber im Klaren sein, dass der Junge sehr wahrscheinlich eine deutliche Einschränkung seiner kognitiven Fähigkeiten hat. Die Vorteile der Befunderhebung mit dem ICF-Blatt liegen auf der Hand: Alle wichtigen Befunde stehen auf einem Blatt. Nach dem Ausfüllen des Blatts durch das Team sollte jedes Teammitglied wissen, was es zu tun hat. Die Einbeziehung der Eltern ist gesichert. Diskussionen über die Behandlungsziele im Team finden auf einer sachlichen Ebene statt, weil die Therapiezielfindung durch die Anliegen der Eltern geleitet wird. Fazit: Pfingstwunder statt babylonische Sprachverwirrung Einige meiner Kommentare zu den dargestellten Fällen werden vielleicht Widerspruch herausfordern. In diesem Fall stellt die ICF- CY das Vokabular bereit, mit dem die Diskussion darüber geführt werden kann. Mein Hauptanliegen war die Darstellung der ICF- CY als gemeinsame Sprache in einem Bereich, der den interdisziplinären Dialog dringend benötigt. Bekanntermaßen „lebt“ eine Spra- 180 Martin Häußler FI 4/ 2007 che nur dann, wenn sie von einer kritischen Zahl von Menschen gesprochen und verstanden wird. Dies ist im Augenblick bei der ICF CY sicher nicht der Fall, was zum Teil auch aus den Kasuistiken deutlich wurde. Demnach ist eine Hauptaufgabe für die Zukunft die Schulung von Fachleuten, die mit Kindern mit Entwicklungsauffälligkeiten und Behinderungen arbeiten, damit sie die ICF-Sprache verstehen und nutzen können. Literatur Bundesarbeitsgemeinschaft Sozialpädiatrischer Zentren (2003): Mehrdimensionale Bereichsdiagnostik Sozialpädiatrie. Berlin Case-Smith, J. (1995): The relationships among sensorimotor components, fine motor skill, and functional performance in preschool children. American Journal of Occupational Therapy, 49, 645 - 652 Ewert, T., Geyh, S., Grill, E., Cieza, A., Zaisserer, S., Stucki, G. (2005): Die Anwendung der ICF in der Neurorehabilitation anhand des ICF-Modellblatts und der ICF Core-Sets. Neurologie & Rehabilitation, 4, 179 - 188 Remschmidt, H., Schmidt, M., Poustka, F. (2002): Multiaxiales Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 der WHO. 4. Aufl. Huber, Bern Shumway-Cook, A., Woollacott, M. H. (2007): Motor control. Translating research into clinical practice. Third edition. Lippincott Williams & Wilkins, Philadelphia Steiner, W. A., Ryser, L., Huber, E., Uebelhart, D., Aeschlimann, A., Stucki, G. (2002): Use of the ICF model as a clinical problem-solving tool in physical therapy and rehabilitation medicine. Physical Therapy, 82, 1098 - 1107 Valvano, J. (2004): Activity-focused motor interventions for children with neurological conditions. Physical and Occupational Therapy in Pediatrics, 24, 79 - 107 Von Garnier, K., Stamm, T. A., Ewert, T., Stucki, G. (2006): Anwendung der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) in der Ergotherapie. Ein Fallbeispiel. Ergoscience, 1, 7 - 13 Weinstock-Zlotnick, G., Hinojosa, J. (2004): Bottom-up or top-down evaluation: Is one better than the other? American Journal of Occupational Therapy, 58, 594 - 599 World Health Organization (1980): International classification of impairments, disabilities and handicaps: A manual of classification relating to the consequences of disease. WHO, Genf World Health Organization (2001): International classification of functioning, disability and health. WHO, Genf World Health Organization (2006 a): Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. DIMDI, Köln World Health Organization (2006 b): ICF CY. http: / / www 3.who.int/ icf/ onlinebrowser/ icf.cfm Dr. med. Martin Häußler Frühdiagnosezentrum Würzburg Sozialpädiatrisches Zentrum Josef-Schneider-Str. 2 D-97080 Würzburg
