Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2007
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Therapiekonzepte auf den Punkt gebracht
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2007
Klaus Sarimski
Wer hat das Konzept der Verhaltenstherapie entwickelt? Verhaltenstherapeutische Behandlungsverfahren basieren auf grundlegenden Lerngesetzen, wie sie in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts als klassische Konditionierung von Pavlov in der damaligen Sowjetunion und als operante Konditionierung von B. F. Skinner in den USA experimentell erforscht wurden. Diese Lerngesetze werden alltagsnah umgesetzt, um problematisches Verhalten von Kindern (und Erwachsenen) zu verändern bzw. ihr Verhaltensrepertoire um neue Fähigkeiten zu erweitern. Zu den ersten Einzelfallberichten, die zu Kindern mit Entwicklungsretardierung in den Jahren zwischen 1950 – 1970 publiziert wurden, gehörten Arbeiten zur systematischen Verstärkung kooperativen Verhaltens, zur Reduzierung von Wutanfällen, zum Aufbau lebenspraktischer Fertigkeiten (selbstständiger Toilettengang, An- und Ausziehen, selbstständiges Essen) sowie zum Aufbau sprachlicher Fähigkeiten.
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Verhaltenstherapie KLAUS SARIMSKI Frühförderung interdisziplinär, 26. Jg., S. 181 -183 (2007) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Therapiekonzepte auf den Punkt gebracht Wer hat das Konzept der Verhaltenstherapie entwickelt? Verhaltenstherapeutische Behandlungsverfahren basieren auf grundlegenden Lerngesetzen, wie sie in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts als klassische Konditionierung von Pavlov in der damaligen Sowjetunion und als operante Konditionierung von B. F. Skinner in den USA experimentell erforscht wurden. Diese Lerngesetze werden alltagsnah umgesetzt, um problematisches Verhalten von Kindern (und Erwachsenen) zu verändern bzw. ihr Verhaltensrepertoire um neue Fähigkeiten zu erweitern. Zu den ersten Einzelfallberichten, die zu Kindern mit Entwicklungsretardierung in den Jahren zwischen 1950 - 1970 publiziert wurden, gehörten Arbeiten zur systematischen Verstärkung kooperativen Verhaltens, zur Reduzierung von Wutanfällen, zum Aufbau lebenspraktischer Fertigkeiten (selbstständiger Toilettengang, An- und Ausziehen, selbstständiges Essen) sowie zum Aufbau sprachlicher Fähigkeiten. Wie erklärt sich die Methode damals und heute? Behandlungsbedürftige Störungen unterscheiden sich in ihrer Symptomatik. Bei einem Teil der Störungen (z. B. aggressives Verhalten, zwanghaftes Verhalten, Enuresis) geht es um die Veränderung von Verhaltenshäufigkeiten, bei anderen darum, dass wichtige Verhaltensweisen nicht beherrscht werden und aufgebaut werden müssen. In beiden Fällen werden die Störungen in Verhaltensbegriffen definiert (Verhaltensdefizit, z. B. unzureichende Selbststeuerung, Verhaltensüberschuss, z. B. impulsives Angreifen anderer Kinder) und die Verhaltensweisen selbst als erlernt und kontextabhängig angesehen, also auch durch spezifische Maßnahmen der Verhaltensförderung oder -reduzierung (z. B. positive Verstärkung, Prompting, Fading, Verhaltensverkettung) veränderbar. Traditionelle Vertreter der Verhaltenstherapie vertraten auch die Ansicht, dass eine mentale Retardierung nicht durch eine biologische Ursache bestimmt werde, sondern auf ein beschränktes Verhaltensrepertoire des Kindes zurückzuführen sei, das das Kind im Laufe seiner Lerngeschichte in der Interaktion mit seiner Umwelt herausgebildet hat. Diagnostischer Focus waren daher auch nicht die Biografie des Kindes oder seine kognitive Leistungsfähigkeit, sondern sehr unmittelbar die für die Ausbildung von Verhalten „kritischen“ Beziehungen zwischen Kind und Umwelt. In sorgfältigen funktionalen Verhaltensanalysen wurden positiv oder negativ verstärkende Bedingungen (z. B. soziale Aufmerksamkeit oder die Möglichkeit, unangenehmen Anforderungen zu entgehen) in ihrem Einfluss auf das Verhalten untersucht. Von Anfang an handelte es sich um eine Therapierichtung, die jedem Individuum ein großes Potenzial an Lernmöglichkeiten zuerkannte und daher für die Arbeit mit behinderten Kindern sehr anregend war. So wurden z. B. für Ess- oder Schlafstörungen, Einnässen und Einkoten, oppositionelle oder aggressive Verhaltensweisen, sozial-ängstliche, zwanghafte, stereotype oder selbstverletzende Verhaltensweisen, aber auch kommunika- 182 Klaus Sarimski FI 4/ 2007 tive Kompetenzen wirksame Behandlungskonzepte erarbeitet. Mit der kognitiven Wende in den 80er Jahren bezogen die Therapien stärker innere Verarbeitungs- und Steuerungsprozesse ein und strebten Veränderungen von Selbstanweisungen, Alltagswahrnehmungen oder sozial-kognitiven Kompetenzen an. Parallel dazu wurden vermehrt die auslösenden Bedingungen für auffallendes Verhalten analysiert und der Therapieansatz auf eine Modifikation der Situationsbedingungen, unter denen es auftritt, und den Aufbau von adaptiven Kompetenzen zur Bewältigung von kritischen Situationen erweitert. Für wen ist sie bestimmt und was soll sie bewirken? Die Verhaltenstherapie findet Anwendung bei Kindern mit unterschiedlichen Behinderungen. Therapieziele sind die Veränderung der Häufigkeit von belastenden Verhaltensstörungen in der Interaktion mit der Umwelt und der Aufbau von Kompetenzen zur Situationsbewältigung (z. B. lebenspraktische Fertigkeiten, kommunikative Fähigkeiten). Die Maßnahmen beziehen sich immer auf die unmittelbare Alltagssituation des Kindes. Sie haben nicht allein die Reduzierung von Symptomen zum Ziel, sondern eine generelle Verbesserung der Entwicklungsbedingungen des Kindes (Stärkung der Kompetenz der Kinder, Förderung ihrer Kommunikation mit der Umwelt und sozialen Partizipation, Verbesserung der familiären Beziehung und der Erziehungskompetenz der Eltern). Insofern sind sie ressourcen- und kompetenzorientiert. Worin besteht die Rolle des Kindes und die Aufgabe der Eltern? Das Kind wird als individueller Akteur mit Hilfebedürfnissen in der Interaktion mit der Umwelt, in der Verwirklichung seiner kommunikativen Absichten und in der Partizipation an sozialen Situationen gesehen. Die Aufgabe der Eltern besteht in der Anpassung an die spezifischen Bedürfnisse des Kindes durch eine entwicklungsförderliche Gestaltung der Umwelt und systematische Unterstützung seiner sozial-adaptiven Kompetenzen. Therapieziele (Verhaltensänderung, Verhaltensaufbau) werden in partnerschaftlicher Kooperation mit ihnen gemeinsam ausgewählt und auf den Familienalltag und die familiäre Belastung abgestimmt. Wer wendet sie an? Psychologen, Psychotherapeuten, Sonder-, Sozial- und Heilpädagogen mit entsprechender Zusatzausbildung als Kinder- und Jugendpsychotherapeuten. Womit wird sie bewiesen? Zu den Charakteristika der Verhaltenstherapie gehört der Anspruch, die Praktikabilität und Wirksamkeit jedes individuellen Therapieplans durch Erhebung von Grundraten und laufender Veränderungsmessung zu evaluieren. Eine heute kaum noch übersehbare Zahl wissenschaftlicher Studien belegt zudem die Reduzierung auffälliger Verhaltensweisen und den erfolgreichen Verhaltensaufbau bei Kindern mit unterschiedlichen Behinderungen und in unterschiedlichem Alter. Dabei handelt es sich in den meisten Fällen um methodisch sorgfältige geplante Einzelfallanalysen. In letzter Zeit wurden auch in systematischer Weise die Zufriedenheit von Eltern und Pädagogen mit den Interventionen sowie positive Wirkungen auf die Lebensqualität der Familie evaluiert. Was sagen die Kritiker? Traditionellen verhaltenstherapeutischen Konzepten wurde vorgeworfen, dass die erzielten Veränderungen nicht dauerhaft seien, nicht auf andere Alltagsbereiche als die Therapiesituation generalisieren und die Gefahr einer Symptomverschiebung bestehe. Besondere FI 4/ 2007 Verhaltenstherapie 183 Kritik erfuhr die Verwendung von Strafreizen zur Reduzierung problematischer Verhaltensweisen (Time-out, Überkorrektur, Anwendung einzelner aversiver Stimuli zur Kontrolle z. B. von selbstgefährdenden Verhaltensweisen). Generell wurde insbesondere von pädagogischer Seite ein mechanistisches Menschenbild und direktives, nicht auf die Bedürfnisse des einzelnen Kindes abgestimmtes Vorgehen kritisiert. Manche Kritiker scheinen die Weiterentwicklungen der Verhaltenstherapie zu einem umfassenden ressourcen- und kompetenzorientierten Konzept positiver Verhaltensunterstützung dabei nicht wahrzunehmen. Wo kann man mehr erfahren? Verhaltenstherapie im Kindesalter wird von einer Reihe von selbstständigen oder an universitäre Einrichtungen angebundenen Ausbildungsstätten gelehrt. Entsprechende Informationen erhält man bei den zuständigen Psychotherapeutenkammern der einzelnen Bundesländer oder der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DGVT). Literatur Hoppe, F. & Reichert, J. (2004): Verhaltenstherapie in der Frühförderung. Hogrefe, Göttingen Lauth, G., Brack, U. & Linderkamp. F. (2001): Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen. Beltz PVU, Weinheim (überarbeitete und erweiterte Neuauflage in Vorbereitung) Sarimski, K. & Steinhausen, H.-Chr. (im Druck): Störungen bei geistiger Behinderung. Leitfaden der Kinder- und Jugendpsychotherapie und Ratgeber für Eltern, Erzieher und Lehrer. Hogrefe, Göttingen Prof. Dr. rer. nat. Klaus Sarimski Pädagogische Hochschule Heidelberg Postf. 10 42 40 D-69032 Heidelberg E-Mail: sarimski@ph-heidelberg.de
