eJournals Frühförderung interdisziplinär 27/1

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2008
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Therapiekonzepte auf den Punkt gebracht

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2008
Monika Aly
Wer hat das Konzept entwickelt? Das Konzept basiert auf den Erfahrungen, Forschungen und Schriften der ungarischen Kinderärztin Emmi Pikler (1902 - 1984). Nach dem Studium und der fachärztlichen Ausbildung bei Clemens von Pirquet in Wien arbeitete sie zunächst als Familienärztin in Budapest. 1946 bis 1979 leitete sie dort das von ihr gegründete Säuglings- und Kinderheim Lóczy, das heute in der Tradition Piklers von der Kinder-psychologin Anna Tardos geführt wird. Es ist inzwischen zu einer wichtigen Institution für Forschungen zur Kindesentwicklung und für entsprechende Weiterbildungen geworden. Pikler erkannte in den Dreißigerjahren den Wert der autonomen Bewegungsentwicklung für die Persönlichkeitsentfaltung des Kindes. Sie begann Untersuchungen zur körperlichen und kognitiven Entwicklung. Die Ergebnisse publizierte sie sowohl in wissenschaftlicher als auch in populärer Form. Insbesondere erkannte sie die Schäden, die von einer Forcierung ("Förderung") der kindlichen Entwicklung verursacht werden können, und die individuelle, auch in der Herausbildung einzelner Fähigkeiten sehr unterschiedliche Geschwindigkeit gesunder Kinder. In diesem Kontext erarbeitete sie zusammen mit der Kinderärztin Judith Falk eine spezielle Beobachtungsdiagnostik zur Bewertung des Entwicklungsverlaufs. Diese Beobachtung findet stets in einer möglichst alltäglichen, von Dritten unbeeinflussten Spiel- und Bewegungssituation statt.
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Therapiekonzepte auf den Punkt gebracht Wer hat das Konzept entwickelt? Das Konzept basiert auf den Erfahrungen, Forschungen und Schriften der ungarischen Kinderärztin Emmi Pikler (1902 - 1984). Nach dem Studium und der fachärztlichen Ausbildung bei Clemens von Pirquet in Wien arbeitete sie zunächst als Familienärztin in Budapest. 1946 bis 1979 leitete sie dort das von ihr gegründete Säuglings- und Kinderheim Lóczy, das heute in der Tradition Piklers von der Kinderpsychologin Anna Tardos geführt wird. Es ist inzwischen zu einer wichtigen Institution für Forschungen zur Kindesentwicklung und für entsprechende Weiterbildungen geworden. Pikler erkannte in den Dreißigerjahren den Wert der autonomen Bewegungsentwicklung für die Persönlichkeitsentfaltung des Kindes. Sie begann Untersuchungen zur körperlichen und kognitiven Entwicklung. Die Ergebnisse publizierte sie sowohl in wissenschaftlicher als auch in populärer Form. Insbesondere erkannte sie die Schäden, die von einer Forcierung („Förderung“) der kindlichen Entwicklung verursacht werden können, und die individuelle, auch in der Herausbildung einzelner Fähigkeiten sehr unterschiedliche Geschwindigkeit gesunder Kinder. In diesem Kontext erarbeitete sie zusammen mit der Kinderärztin Judith Falk eine spezielle Beobachtungsdiagnostik zur Bewertung des Entwicklungsverlaufs. Diese Beobachtung findet stets in einer möglichst alltäglichen, von Dritten unbeeinflussten Spiel- und Bewegungssituation statt. Wie erklärt sich die Methode früher und heute? Zu den Prinzipien des Pikler-Konzepts gehört der Respekt vor dem jeweils individuellen Entwicklungsrhythmus des Kindes, vor seiner Autonomie und Eigeninitiative. Eine tragfähige, warmherzige und achtsame Beziehung vonseiten des Erwachsenen gibt dem Kind Sicherheit und bildet die Grundlage seiner Entwicklung. Vertrautheit, die Kooperation mit dem Erwachsenen, die Zwiegespräche, und damit auch die kognitiven Fähigkeiten, entstehen nicht dadurch, dass das Kind „bespielt“ wird, sondern in der täglichen Pflege beim Füttern, Wickeln und Baden. Nach Pikler kommt es für die Bewertung der Entwicklungsfortschritte nicht auf die „Meilensteine“ an. Es geht um die Qualität der Bewegung, nicht um das schnelle Erreichen des Drehens, Sitzens, Stehens oder Laufens. Die Diagnostik nach Pikler konzentriert sich auf die Frage, wie ein Kind von einem Entwicklungsschritt zum nächsten gelangt, wie es diesen vorbereitet und wie viele Variationen es ausprobiert. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen also die weithin zu gering beachteten außerordentlich vielfältigen Übergangsbewegungen zwischen den einzelnen Stufen. Für diese Übergangsbewegungen hat Pikler eine Terminologie entwickelt, mit deren Hilfe jede kleinste, für den ungeübten Beobachter kaum sichtbare Zwischenstufe der körperlichen Entwicklung beschrieben und diagnostisch ausgewertet werden kann. Daraus ergeben sich gegebenenfalls genaue Ansatzpunkte für therapeutische Hilfen. Dabei kommt es nicht darauf an, wann ein Ent- Das Pikler-Konzept MONIKA ALY Frühförderung interdisziplinär, 27. Jg., S. 33 - 36 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel wicklungsschritt erreicht wird, sondern wie, in welcher Abfolge und welcher Sicherheit. Motiviert wird das Kind durch eine angemessene und je nach der Entwicklungsstufe begrenzte Umgebung und durch sorgfältig ausgewählte Spielgegenstände. Ursprünglich war das Pikler-Konzept für sich normal entwickelnde Kinder gedacht. Monika Aly (Berlin) hat sie zusammen mit Anna Tardos (Budapest) so ausgebaut, dass sie sowohl für die Diagnostik als auch für die Therapie entwicklungsverzögerter und behinderter Kinder mit sehr gutem Erfolg angewandt werden kann. Für wen ist das Konzept bestimmt? Die Grundsätze Piklers sind prinzipiell für die Entwicklung aller Säuglinge und Kleinkinder hilfreich. Sie schützen die Kinder vor Überforderung und davor, dass Eltern (oder Krippenerzieher) wichtige Dinge übersehen. Für die meisten Eltern, die sich Sorgen über eine nicht normgerechte Entwicklung ihres Kindes machen, bietet das Konzept Piklers gute Möglichkeiten, diese Sorgen entwicklungsdiagnostisch zu objektivieren. In der weit überwiegenden Zahl erweisen sie sich als unbegründet, in Einzelfällen als berechtigt. Auf diese Weise können Fehldiagnosen und überflüssige therapeutische Interventionen verhindert und den Eltern unbegründete Ängste genommen werden. Für Kinder mit Entwicklungsstörungen, die auf therapeutische Interventionen empfindlich reagieren, bietet die Pikler-Methode eine gute Basis, um ihre eingeschränkten Möglichkeiten optimal zu entfalten, beziehungsweise eine Behinderung optimal zu kompensieren. Das gilt besonders für frühgeborene Kinder sowie für Kinder mit Down-Syndrom, Wahrnehmungsstörungen oder anderen kognitiven Beeinträchtigungen. Darüber hinaus hilft das Pikler-Konzept Kindern mit manifesten Bewegungsstörungen und auch solchen, die entwicklungsverzögert, langsam oder unsicher sind. Was soll es bewirken? Arbeitet man mit Kindern mit einer Entwicklungsverzögerung, einer geistigen oder körperlichen Behinderung nach dem Pikler-Konzept, wird man feststellen, dass gerade solchen Kindern ein höheres Maß an Aufmerksamkeit, Abwarten und das Verstehen ihrer noch so kleinen Entwicklungsschritte zugute kommt. Das bedeutet, auf fördernde Stimulationen, auf spezielle Lernprogramme, in der Regel auch auf Hilfsmittel zu verzichten. Stattdessen erweist sich eine entsprechend eingerichtete Umgebung - eine Auswahl von Spielmaterial, einen nach besonderen Gesichtspunkten ausgewählten Platz zum Bewegen - sowie aufmerksame und ruhige Zuwendung als die wichtigste Hilfe. Das Kind soll optimale Bedingungen dafür haben, dass es eine Bewegung oder eine Spieltätigkeit so lange ausprobieren kann, bis es sich von selbst etwas Neues zutraut. In aller Regel braucht ein Kind mit Entwicklungsstörungen eine erheblich längere Zeit, als ihm normalerweise zugestanden wird. Aber auf diese Weise können auch behinderte Kinder selbsttätig werden und auch frühzeitig ihre Fähigkeiten und Grenzen erfahren. Selbstverständlich gibt es behinderte Kinder, die einer therapeutischen Unterstützung bedürfen. Diese muss auf die Erreichung des individuell nächsten Entwicklungsschritts gerichtet sein und kann sich eben deshalb nicht auf dem vermeintlich sicheren Boden einer Methode bewegen. Bei einem Kind mit Down-Syndrom sehen die therapeutischen Konsequenzen ganz anders aus als bei einem Kind mit spastischer Diparese. Das Kind mit Down-Syndrom braucht Zeit und Ruhe und eine anregende, der Entwicklung entsprechende, vorbereitete Umgebung. Stimulierende Bewegungsförderung wirkt auf ein solches Kind hemmend. Sie unterdrückt die zentrale Fähigkeit des Kindes, aus sich heraus, ohne Anregung durch den Erwachsenen, sein Bewegungsrepertoire kennenzulernen und selbstständig anzuwenden. Demgegenüber bedarf ein Kind mit Diparese eindeutig phy- 34 Monika Aly FI 1/ 2008 siotherapeuter Hilfe. Dazu gehören funktionelle Bewegungsangebote, gegebenenfalls Hilfsmittel zur Erreichung von Zielen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt im kognitiven Horizont des Kindes liegen. Patienten mit den beispielhaft genannten Entwicklungsproblemen durchlaufen nicht unbedingt alle Entwicklungsstufen nach Pikler und erreichen sie auch mit Hilfe therapeutischer Interventionen nicht. Bestimmte Stufen beispielsweise müssen bei Kindern mit Cerebralparese mit therapeutischen Hilfen kompensiert werden. Es ist wichtig, dass die therapeutischen Überlegungen an das konkret geäußerte Interesse des Kindes anknüpfen und dessen Eigenaktivität unterstützen. Nur wenn das Kind Interesse entwickelt, also zwischen den Forderungen aus der Umwelt und sich selbst eine Verbindung herstellt, kann es im eigentlichen Sinne lernen und das Gelernte integrieren. Entwicklungsverzögerte und behinderte Kinder brauchen einen besonders genau abgestimmten Rahmen, um lernen zu können. Das Wissen darum, wann ein Kind abwartend begleitet werden kann und wann eine gezielte Intervention nötig ist, betrachte ich als spezielle Kompetenz von Pikler-Therapeuten. Worin besteht die Rolle/ Aufgabe des Kindes und der Eltern? Im Vordergrund steht die Stärkung der Kompetenz des Kindes und seiner Eltern. Die Eltern werden angeregt, die Fähigkeiten und die Übergänge zum nächsten Entwicklungsschritt ihres Kindes zu erkennen. Das gilt auch für Kommunikationsversuche des Kindes: Wie äußert schon der kleinste Säugling seine Bedürfnisse nach Schlafen, Essen oder Kontakt? Wie können Eltern frühzeitig diese Äußerungen unterscheiden lernen? Wie können sie die Kooperationsversuche des Kindes beim Wickeln, Anziehen oder Füttern rechtzeitig erkennen und stärken? Falls therapeutische Sitzungen erforderlich sind, können die Eltern dabei zuschauend lernen, welche Umgebungsgestaltung für die Eigenaktivität des kleinen Kindes vorteilhaft ist, sowohl für seine Spieltätigkeit als auch für seine Bewegungsbestrebungen. Eltern, Therapeuten und Erzieher sollten das Kind in erster Linie dazu anregen, selbständig etwas auszuprobieren und mögliche Lösungen zu finden. Sie schaffen eine angemessene Umgebung, in der das Kind sicher und ungestört ist und die seinem jeweiligen Entwicklungsstand entspricht. Es wird ihm nicht geholfen, zu seinem nächsten Schritt zu gelangen. Das Kind lernt dadurch, dass Aktionen von ihm abhängig sind und es dafür verantwortlich ist. Auch von körperlich behinderten Kindern wird erwartet, dass sie nach ihren Möglichkeiten eigenaktiv werden - gegebenenfalls mittels kompensatorischer Hilfen. Wer wendet es an? Physiotherapeuten, Heilpädagogen, Logopäden, die mit den Pikler-Prinzipien vertraut sind und entsprechende Seminare absolviert haben. In diesem Jahr beginnend, wird eine berufsbegleitende dreijährige Ausbildung zum Pikler-Pädagogen für Kleinkind-Pädagogen und Therapeuten in Wien, München und Berlin beginnen. Seit einigen Jahren gibt es immer mehr Eltern-Kind-Gruppen und Spielraum-Gruppen in Deutschland, die nach Pikler arbeiten. Immer mehr Therapeuten integrieren diese Grundsätze in ihre therapeutische Arbeit mit Kindern. Womit wird die Wirksamkeit bewiesen? Im Pikler-Institut in Budapest werden seit Jahrzehnten neben anderem auch Studien durchgeführt, die sich mit der Aufmerksamkeitsfähigkeit kleiner Kinder während ihrer Spieltätigkeiten beschäftigen. Die Mitarbeiterinnen haben die Zusammenhänge zwischen Eigeninitiative und Persönlichkeitsentwicklung erforscht und zum Teil im Buch „Laßt mir Zeit“ dokumentiert: Kinder, die sich in ihrer Bewegungsentwicklung nach ihrem eigenen Zeitmaß entwickeln konnten, sind sich FI 1/ 2008 Das Pikler-Konzept 35 ihrer selbst sicherer und verfügen - über ein gutes Körpergefühl hinaus - über mehr Eigenverantwortlichkeit im Vergleich zu anderen Kindern, die schnell Hilfe erwarten. Die Wirksamkeit dieses - des nicht nur pädagogischen, sondern auch therapeutischen - Ansatzes zeigt sich besonders bei Kindern mit besonderen Bedürfnissen. Die Autonomie dieser Kinder wird durch die Ermöglichung der Eigenaktivität gestärkt. Eltern berichten, dass sie durch das Beobachten ihres Kindes mehr Wissen erfahren, Sicherheit gewinnen und selbst Veränderung erkennen können, was sie zufriedener macht. Was sagen Kritiker? Die Therapiestunden werden als rein „spielerisch“ angesehen. Dem pädagogisch-therapeutischen Ansatz wird vorgeworfen, das Kind werde nicht genügend gefordert, abwarten reiche nicht aus, man verlöre wertvolle Zeit. Manche Eltern zeigen sich anfangs sehr verunsichert, haben Angst, Zeit zu verlieren, vertrauen den Händen der Therapeuten mehr als den Impulsen ihres Kindes. Eltern werden von Verwandten und Freunden mit Fragen unter Druck gesetzt und müssen große Mühe aufwenden, die Vorbereitungen des jeweils nächsten Entwicklungsschrittes abzuwarten. Ärzte erwarten zu schnell Ergebnisse, sowohl vom Kind wie vom Therapeuten. Das Erreichen der „Meilensteine“ der Bewegungsentwicklung wie das Drehen, Sitzen, Stehen und Gehen, werden als wichtiger angesehen als der Gewinn von Eigeninitiative und Sicherheit. Wo kann man mehr erfahren? National: Pikler Gesellschaft Berlin e.V. www.pikler.de pikler.ev@t-online.de International: Pikler Institut Budapest: Anna Tardos pikler@t-online.hu www.pikler.hu Association Frankreich: Miriam Rasse Pikler.rasse@wanadoo.fr www.aipl.org Association Emmi Pikler-Lóczy Schweiz: Raymonde Caffari rcaffari@bluewin.ch Literatur Aly, M. (2005): Das kompensatorische Therapiekonzept der Infantilen Cerebralparese nach A. Ferrari. In: Physiotherapie in der Pädiatrie. Stuttgart: Thieme Verlag Aly, M. (2004): Beobachtende Entwicklungsdiagnosik. Vortrag in Budapest Aly, M., Aly, G., Tumler, M. (2003): Kopfkorrektur. Ein behindertes Kind zwischen Therapie und Alltag. Düsseldorf: Verlag selbstbestimmtes Leben Aly, M. (2003): Eigeninitiative und Kompensation - Diagnostik und Therapie der Cerebralparese. In: Kinder mit cerebralen Bewegungsstörungen. Düsseldorf: Verlag selbstbestimmtes Leben Aly, M. (2002): Mein Kind im ersten Lebensjahr. Frühgeborene, entwicklungsverzögert, behindert oder einfach anders? Ein Ratgeber für Eltern. Heidelberg: Springer-Verlag Aly, M. (2000): Verzögerte Entwicklung - Überlegungen zur therapeutischen Begleitung und Behandlung von Kindern mit leichten Entwicklungsstörungen. In: Lüpke, H. v./ Voß, R. (Hrsg.) Entwicklung im Netzwerk. Systemisches Denken und professionsübergreifendes Handeln in der Entwicklungsförderung. Neuwied: Luchterhand Aly, M. (1999): Gedanken zur Bewegungsentwicklung und zur Krankengymnastik beim Kind mit Down- Syndrom im ersten Lebensjahr. In: Krankengymnastik Jg 51, Nr. 8. München. Richard Pflaum Verlag Kálló, E., Balog, G. (2003): Von den Anfängen des freien Spiels. Schriftenreihe der Pikler Gesellschaft, Berlin. Pikler, E. (1998): Friedliche Babys - zufriedene Mütter. Freiburg: Herder Pikler, E. (1997): Laßt mir Zeit. Die selbständige Bewegungsentwicklung des Kindes bis zum freien Gehen. München: Richard Pflaum Pikler, E., Tardos, A. (1997): Miteinander vertraut werden. Freiburg: Herder v. Allwörden, M., Wiese, M. (2004): Vorbereitete Umgebung für Babys und kleine Kinder. Schriftenreihe der Pikler Gesellschaft, Berlin Monika Aly Bobath-Therapeutin, Systemische Beraterin Pikler Gesellschaft Berlin e.V. Schwäbische Str. 7 D-10781 Berlin E-Mail: pikler.ev@t-online.de 36 Monika Aly FI 1/ 2008