Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2008
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Spielend gut gebunden
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2008
Astrid Lenz
Wolfgang Wörster
Entwickelt eine Gesellschaft tiefe Verwerfungen und Risse, dann können uns Auswirkungen auf der Seite der empfindlichsten Systeme, der Kinder, nicht verwundern. Ist das Bekannte nicht mehr der sichere Boden, auf dem Erwachsene ihr Leben aufbauen können, kann auch von Sicherheit für Kinder und deren Entwicklung nicht mehr gesprochen werden. Die bekannten Fälle von Vernachlässigung und Misshandlung mit Todesfolge stellen Extrempunkte dieser Entwicklung dar. Dass Kindheit in dieser Republik eine riskante Angelegenheit ist, kann mittlerweile als Allgemeinplatz gelten. Welche Bedeutung hat diese Entwicklung für Frühförderung, einen am System Familie orientierten Unterstützungskontext?
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Frühförderung interdisziplinär, 27. Jg., S. 79 - 86 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Spielend gut gebunden Ein Projekt zur Förderung der elterlichen Feinfühligkeit im Zusammenleben mit Kindern Astrid Lenz, WoLfgAng Wörster Zusammenfassung: Entwickelt eine Gesellschaft tiefe Verwerfungen und Risse, dann können uns Auswirkungen auf der Seite der empfindlichsten Systeme, der Kinder, nicht verwundern. Ist das Bekannte nicht mehr der sichere Boden, auf dem Erwachsene ihr Leben aufbauen können, kann auch von Sicherheit für Kinder und deren Entwicklung nicht mehr gesprochen werden. Die bekannten Fälle von Vernachlässigung und Misshandlung mit Todesfolge stellen Extrempunkte dieser Entwicklung dar. Dass Kindheit in dieser Republik eine riskante Angelegenheit ist, kann mittlerweile als Allgemeinplatz gelten. Welche Bedeutung hat diese Entwicklung für Frühförderung, einen am System Familie orientierten Unterstützungskontext? Schlüsselwörter: Familie, Kindheit, gesellschaftliche Risiken, Bindung, Spiel “Bonding in play” - A Project to Enhance Sensitivity of Parents in Living with Children Summary: If a society is undertaking a profound social shifting and disruptions, we can’t be surprised about effects concerning the most sensitive system, the children. If the personal experiences are no longer the securing base adults can build their life on, we can no longer talk about security for children and for their development. The best known cases of child maltreatment and neglect resulting in death are representing extremes in this process. That childhood is a risky affair in this republic is almost universally valid today. How relevant is this tendency for an early-intervention-program, a supporting context which is orientated towards the system “Family”? Keywords: Family, childhood, risk conditions, bonding, play Zerbrechliche Kindheit In den letzten Jahren haben wir im Rahmen unserer Frühförderarbeit einen Zuwachs an Kindern zu verzeichnen, deren Problemlage den Kriterien der sogenannten „neuen Morbidität“ entspricht (vgl. Schlack, 2004). Diese Gesundheitslage von Kindern hat zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine Brisanz erlangt, die qualitativ als ein gesamtgesellschaftliches Problem zu bezeichnen ist. Prozesse der Verarmung sind konstituierend für die sich darstellende Problemlage von Kindern (vgl. hierzu Kalinowski, 2007). Diese betrifft auch die Beziehungen von Eltern und Kindern.Was macht Kinder auffällig bzw. krank und welche Unterstützungsmaßnahmen sind für Familien im Kontext von Frühförderung angemessen und hilfreich (vgl. exempl. Laucht, 2005; Paulsen & Reeg 2007)? Wir sind der Auffassung, dass präventive und an Ressourcen orientierte Interventionsstrategien wirkungsvoll sein können (vgl. Holodinski et al. 2007). Zugleich überschätzen wir die Wirkung vor dem Hintergrund der sich uns darstellenden gesellschaftlichen Lage nicht. Unser Projekt zur „Unterstützung elterlicher Feinfühligkeit“ resultierte aus Anfragen von Kindertagesstätten, ein Angebot für Eltern von Kindern unterhalb des vierten Lebensjahres anzubieten. Folgend möchten wir einen Überblick der fachlichen Bezugspunkte und eigenen Erfahrungen im Zusammenhang unseres Projektes geben. Aspekte der frühen Ontogenese Erziehung ist in erster Linie ein vielschichtiges Beziehungsgeschehen. Sollen Eltern be- 80 Astrid Lenz, Wolfgang Wörster FI 2/ 2008 zogen auf dieses Geschehen unterstützt werden, dann müssen ihnen die bedeutsamen Wissensbestände und zugleich charakteristischen Erfahrungen zugänglich gemacht werden. Der Zugang zur Gefühlswelt der Kinder erscheint uns in diesem Prozess der entscheidende Schlüssel für den Fähigkeitsraum zu sein, der mit elterlicher Feinfühligkeit umschrieben werden kann. Kindesentwicklung ist eingebunden in die widersprüchliche und konstruktive Einheit sozialer und individueller Realität. Diese ist ein Gewebe, das aus den Fäden der sozialen Praxis gewirkt wird. Die Kettfäden dieses Prozesses sind die Emotionen, die selbst wiederum Resultate des Wirkprozesses sind. Die Emotionen selbst sind Bestandteil von Kultur und stehen im Kontext einer „Kultur der Gefühle“ (vgl. insbes. Stern, 1979; Stern, 1991; Bower, 1978; Brazelton, 1997). Alle Beziehungen des Kleinkindes zu seiner Umwelt und zu sich selbst sind in den ersten Lebensjahren führend über die Eltern vermittelt. Die grundlegenden Neubildungen werden aus diesem Beziehungsprozess geschöpft. Dies gilt auch für Störungen. Benachteiligung und Gefährdung von Kindern entstehen in den unmittelbaren sozialen Beziehungen des Alltags, die für Kinder die führende Rolle spielen. Dabei sind es eher die unscheinbaren Bedingungen des Alltäglichen, die Kinder stetig destabilisierten. Exemplarisch stehen stellvertretend Mangel von Kontinuität und Stabilität in der emotionalen Zuwendung und Beziehung bzw. die fehlende Einbindung in das Alltagsgeschehen. Wenn der Kern der Kindesentwicklung in den positiv-stabilen interpersonellen Strukturen liegt, dann müssen wir unseren Blick auf den Kontext und die Beteiligten lenken, wenn wir angemessene Unterstützungsansätze entwickeln wollen. Unsere Frage ist: Was hat sich im Leben Erwachsener so verändert, dass sensitiv geteilte Alltagshandlungen, die Grundlage der frühen und stabilen intrapsychischen Emotionsregulation, nicht mehr im ausreichenden Maße Bestandteil des alltäglichen Lebens mit Kindern sind? Tiefgreifende Veränderungen des Lebens Erwachsener und des Kontextes „Familie“ Im Leben Erwachsener vollziehen sich gegenwärtig dramatische Veränderungen. Sie werden einerseits als Pluralisierung der Lebenswelten und Individualisierung der Lebensläufe beschrieben. Andererseits geht diese Veränderung mit einer umfassenden Standardisierung der gewandelten Lebensbedingungen einher (vgl. Sennet, 2000). Erwachsene sind gezwungen, ein höchstes Maß an Flexibilität nicht nur bezogen auf berufliche Perspektiven zu entwickeln. Auch die traditionellen Rückzugsbereiche, wie Partnerschaft oder Familie, sind betroffen. Der aktuell adäquate Sozialcharakter des Erwachsenen beinhaltet den Wechsel, die Beweglichkeit, das Wegwerfen und die Offenheit für Neues. Mit den damit korrespondierenden Brüchen in der Erwachsenenwelt sind die Entwicklungsbedingungen von Kindern verknüpft. Die Brüche in den Biografien Erwachsener sind u. a. durch Entfremdung zur bestehenden Arbeitstätigkeit, Existenzangst und psychische Instabilität gekennzeichnet. Diese betreffen nicht mehr nur die Personengruppen, die wir traditionell als Risikogruppen beschreiben. Es betrifft aktuell vor allem zunehmend die sogenannte Mittelschicht. Die Lebens- und Arbeitsbiografien in der postfordistischen Epoche gestalten sich unkalkulierbar. Erwachsene berichten von dem ausgeprägten Gefühl, das eigene Leben nicht mehr steuern zu können (vgl. Grimm, 2007). Fremdes Leben Dieses Erleben der eigenen Unwirksamkeit führt schrittweise zur Korrosion der Selbst- FI 2/ 2008 Spielend gut gebunden 81 wahrnehmung und schlägt sich nieder in der Entstehung einer tiefen Fremdheit sich selbst und anderen gegenüber. Es deutet einiges darauf hin, dass diese Fremdheit ein wesentliches Moment eines Zersetzungsprozesses ist. Dieser ist nicht auf den Bereich der Erwerbsarbeit reduziert, sondern erfasst alle Bereiche des Lebens (vgl. Jaeggi, 2004). Ist die Grundfigur von Entwicklung "Aneignung‘‘, der multidimensionale und facettenreiche Prozess der Sinngebung, dann ist Entfremdung die negative Seite. Diese findet ihren Niederschlag in „unverständlichen“, dem Erwachsenen als „fremd“ erscheinenden Weisen des Verhaltens und der Regulation auf der Seite der Kinder. Kinder als Fremdlinge Dies kann dazu führen, dass für Eltern selbst elementare Signale eines Kindes wie Hunger, Durst, Angst, Trauer oder Unwohlsein ebenso als etwas völlig Unverständliches erscheinen wie die eigene Reaktion darauf. Zur Befriedigung von Signalen nach Geborgenheit und Gemeinsamkeit wird auf standardisierte Angebote der "Freizeitindustrie‘‘ wie Vergnügungsparks und Fast-Food-Restaurationen zurückgegriffen. Die Individualität von Beziehungen verschwindet hinter absatzoptimierten Waren- und Dienstleistungsklischees. Zugleich therapeutisieren und pädagogisieren Erwachsene den Alltag von Kindern. Spielräume schwinden, Kriterien von Nützlichkeit, orientiert an vermuteten Anforderungen der Arbeitswelt, kolonialisieren bereits das Spiel der Kinder und besetzen einen wichtigen Entwicklungsraum. Widersprüchliche und an Vermarktung orientierte Ratgeberliteratur, Therapieangebote und Trainingsmaßnahmen verstärken die Verunsicherung der Eltern. Die Beschreibung und Wahrnehmung von Kindern wird durch pathologische Perspektiven geleitet. Aspekte der spezifischen Lernbedingungen Erwachsener Im Rahmen unserer Konzeptbildung drängte sich der Eindruck auf, dass ein grundlegender Aspekt in den uns bekannten Programmen zur Förderung des Erziehungsverhaltens zumindest nicht explizit thematisiert wird. Es handelt sich um die Besonderheit des Lernens Erwachsener. Worin besteht diese Besonderheit? Was das Lernen Erwachsener anbetrifft, so ist dieses nicht dem kindlichen Lernen gleichzusetzen. Erwachsene lernen unter anderen Bedingungen und aus anderen Motiven. Für Erwachsene bedeutet Lernen vor allem Umlernen. Was bedeutet aber Umlernen, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede, welche Übergänge zu elementaren Neulernprozessen sind zu berücksichtigen? Unter welchen Umständen sind Erwachsene überhaupt zum Umlernen bereit? Mit den Besonderheiten des Lernens Erwachsener geht es nicht um einen besonderen Lernbegriff. Menschliches Lernen als Aneignung ist nicht auf bestimmte Altersstufen begrenzt, sondern durchgängiges Prinzip. Die Besonderheit des Lernens Erwachsener muss hauptsächlich in den charakteristischen Lebensumständen Erwachsener gesucht werden. Das erfordert, insbesondere das Verhältnis des Lernens zur Erwerbsarbeit und zur Nicht- Erwerbstätigkeit als der den Alltag konstruierenden Tätigkeit Erwachsener zu untersuchen. Dieser Umstand verweist auf zwei Fragerichtungen: 1. nach der Richtung der Motivhierarchien Erwachsener 2. nach der Richtung der gesellschaftlichhistorischen Bezüge Soll sich ein primäres Motiv entwickeln können, so muss ein Gefühl von Lebensbedeutsamkeit für den Erwachsenen entstehen. Lebensbedeutsamkeit lässt sich nicht vorschreiben, sie kann auch nicht übergeben werden oder Bestandteil eines Plans sein. Lebensbe- 82 Astrid Lenz, Wolfgang Wörster FI 2/ 2008 deutsamkeit kann sich generell nur durch die Entwicklung eines bewussten Verhältnisses zu einem Menschen oder zu einem Gegenstand handelnd entwickeln. Das heißt in unserem Kontext, die eigenen Handlungen als Mutter oder Vater im Verhältnis zu den kindlichen reflektieren, einzuordnen, zu bewerten, zu revidieren oder völlig neu zu gestalten. Zusammengefasst: Die Bedingungen der Lebensführung Erwachsener sind einerseits entscheidend für die Spielräume im Erziehungsverhalten. Andererseits sind diese auch entscheidend für die Entwicklung von Motivhierarchien, wenn es um organisierte Prozesse des (Um-)Lernens geht. Die Bedingungen des zunehmenden Verlustes von Selbstbestimmung und Handlungsfähigkeit sind die für uns entscheidenden Rahmenbedingungen der Erziehung von Kindern. Kulturpessimistisch betrachtet stellt sich eine recht ausweglose Situation dar. Andererseits ist festzuhalten, dass die realen Bedingungen nicht mechanistisch betrachtet werden dürfen. Für unser Vorgehen, auch hinsichtlich des Aspektes der „professionellen Selbstwirksamkeit“, ist die realistische Einordnung der Wirkungsmöglichkeiten im Sinne einer Nicht-Überschätzung im Verhältnis zum fragilen Lebensalltag der Familien wichtig. Die Entwicklung elterlicher Selbstwirksamkeit als Unterstützungsperspektive von Frühförderung Der Habitus Eltern ist ein im sozialen Austausch erworbenes Referenzsystem. Er ist andererseits aber auch in Anbindung an dieses ein kreatives Prinzip mit Handlungsspielraum. Dies ist der eine Aspekt, der auf die prinzipiellen offenen Möglichkeiten von Veränderung weist. Der andere Aspekt ist, dass Krisen und Widerstände geradezu der Treibstoff für Veränderung sein können. Entscheidend sind demnach nicht die Probleme, sondern der Entwurf einer Perspektive, um die Vielfalt von Lösungsformen und Lösungswegen der Eltern zu erweitern. Einen Möglichkeitsraum als Gegenhorizont aufzuspannen, das ist das Ziel. Ausgesprochen hilfreich erscheint uns das Konzept der salutogenetischen Perspektive. Antonovsky fragt in seinem Konzept der Salutogenese nicht danach, warum jemand krank wird, sondern wie es einem Menschen gelingt, gesund und selbstwirksam zu bleiben (vgl. Lorenz, 2005). Eine zentrale Kategorie des Konzeptes „Salutogenese“ ist die der „Kohärenz“. Das Kohärenzgefühl ist ein Grundgefühl, mit dem Leben zurechtzukommen, auch wenn es schwierig wird. Die Orientierung auf die Ressourcen erscheinen ein wesentlicher und erfolgversprechender Ansatz in der Arbeit mit Familien. Diese Orientierung gibt der Familie den Respekt und die Würde, selbst etwas bewirken zu können und nicht mehr nur „Gegenstand“ der Betreuung zu sein. Veränderung beginnt an dem Punkt, an dem die Eltern sich entscheiden mitzumachen Setzen wir Freiwilligkeit der Teilnahme an einem Angebot voraus, dann ist diese Entscheidung der erste Schritt zur Schaffung eines neuen Möglichkeitsraums für die Eltern und die Kinder. Ein solcher wird durch Zeichen und Symbole aufgespannt, konstituiert, miteinander verbunden und durch die Emotionen gehalten. Diese sind, wie eingangs ausgeführt, die entscheidenden Schlüssel zur Schaffung des neuen Möglichkeitsraums der Elternschaft und zugleich des Kindseins. Aus diesem Grund ist darauf zu achten, dass den Eltern Zugänge zu den „Sternstunden“ geöffnet werden, die sie mit ihren Kindern erlebt haben, erleben und erleben können. FI 2/ 2008 Spielend gut gebunden 83 Zusammengefasst: Die elterliche Feinfühligkeit ist Voraussetzung und Resultat spezifischer Organisations- und Wahrnehmungsprozesse. Diese beziehen sich auf die Gesamtheit der psychosozialen Prozesse im Geschehen zwischen Eltern und Kind. Aus dem vorher Dargestellten sollte deutlich geworden sein, dass eine ungünstige Veränderung bzw. Störung der Eltern-Kind-Wahrnehmung einen Sinn- und Bedeutungsverlust auf der Beziehungsebene zur Folge hat. Die angesprochenen Wahrnehmungsleistungen sind bezogen auf die Gesamtheit der kindlichen Lebensäußerungen keine Teilleistungen, sondern ein Gesamtkonzept, das entscheidend von den Emotionen getragen und geleitet wird. Stärkung der Empfindungs- und Erlebnisfähigkeit Im Mittelpunkt unserer Überlegungen stand von der Handlungsseite her betrachtet die Verfeinerung der elterlichen „Wahrnehmung“. Es sollten Erlebnisse ermöglicht werden, die eine Orientierung durch die Strukturierung der Eltern-Kind-Bezüge erleichtern. Entscheidend war für uns zudem, dass die Aktionen Freude bereiten, anregen und auch herausfordern sollten. Diese Formen gemeinsamer Beschäftigung verbessern die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, aber auch zwischen den beteiligten Erwachsenen. Das Gefühl der Beteiligten wird empfindsamer und differenzierter. Der Weg zum besseren Miteinander führt über erfolgreiches und gemeinsames Handeln. Folgende Grundprinzipien (vgl. ausf. Hildebrand-Nilshon, 1994) waren Bestandteil der konkreten Projektumsetzung mit den Eltern: • Herausfinden, was Kindern Freude bereitet, was sie mögen und können • Unterstützung der Eigeninitiative von Kindern und Eltern • Aufbau positiv variantenreicher emotional getönter Wechselspiele • Aufbau feinfühliger und unmittelbarer und dynamisch gestalteter Interaktionen und Reaktionen auf die Impulse des Kindes • Crossmodale Gefühlsabstimmung als Anzeichen für das emotionale Engagement der Bezugsperson an den Erfahrungen des Kindes • Wechselseitige Verfügbarkeit der kommunikativen Mittel • Handlungsrahmen für die Interaktion und deren Förderung Zusammenhang von Bindung und Bildung Dieser Aspekt ist wichtig, weil er erstens wenig beachtet wird und zudem die Bedeutung für die Zukunft der Kinder mit Bezug auf ein aktuell führendes Thema, nämlich Bildung, verdichtet. Zudem ist dieser Bezug eine nicht unwesentliche Bestärkung für gelebte Eltern- Kind-Beziehungen. Eine stabile und sichere Bindung bietet eine stabile Basis, von der aus das Kind seine Umwelt erforschen kann. Ein Kind kann dann explorieren, expandieren und konsequenterweise nachhaltig lernen, wenn seine Ressourcen nicht durch Stress blockiert sind (Spangler & Zimmermann, 1995). Im Sinne des Konzeptes Allgemeinbildung hat ein sicher gebundenes Kind die stabile Basis, um offen zu sein für Neues und um das Fenster zu Neuem zu öffnen. Besonders Kinder mit Entwicklungsbehinderungen sind darauf angewiesen, immer wieder emotional abgesichert zu werden. Nur dann ist es möglich, dass sie sich Neuem offen zuwenden. Erfahrungen und Beobachtungen Durch die Teilnahme an einem Informationsabend erwiesen sich die Eltern als grundsätzlich orientiert auf das, was dann im Praxisteil stattgefunden hat. Eine zurückhaltende und 84 Astrid Lenz, Wolfgang Wörster FI 2/ 2008 abwartende Haltung zeigten in erster Linie die Väter. Ungünstig war zudem, dass zwei Väter auf Grund des Schichtwechsels nicht regelmäßig teilnehmen konnten. Zur offensichtlichen Verwunderung der Mütter wich die Zurückhaltung der Väter schon im Rahmen der ersten Hälfte des Praxisteils. Sowohl die Materialerfahrungsals auch die Sozialerfahrungssequenzen wurden genutzt. Die Möglichkeit des Ausprobierens wurde von allen Teilnehmenden als ausgesprochen positiv beschrieben. Insbesondere die basalen Sinnesspiele (Kim-Spiele) fanden großen Anklang. Zudem entwickelten die Eltern Spielvariationen, die völlig neu waren. Daraus entstand die Idee, eine eigene "Elternspielsammlung‘‘ anzulegen, die allen in der Tagesstätte zugänglich gemacht werden soll. Entscheidend erschien uns, dass die Eltern angaben, dass sie sich selbst als "fähige und aufmerksame Mütter und Väter‘‘ erlebt hatten. Dieses Erleben wurde durch den gemeinsamen Praxisteil mit den Kindern noch einmal gestärkt. Die Eltern schilderten empfundene: • Wertschätzung, die ihnen durch die Rückmeldungen seitens der Gruppenteilnehmer gegeben wurde. • Freude, durch den Humor in der Gruppe, der als Gegenpol zu Stress und Anstrengung im Alltag beschrieben wurde. Zudem wurde der Spaß in der Gruppe als förderlich bezogen auf Zufriedenheit und das Kennenlernen neuer Seiten der eigenen Kreativität benannt. • Erfolg, der anerkannt und in der Gruppe kommuniziert wurde. • Anteilnahme, die mit dem empfundenen Interesse und der Freundlichkeit aller verknüpft wurde. Einschätzung aus unserer Perspektive Der "spielerische‘‘ und an den vorhandenen Ressourcen orientierte Umgang mit Beziehung, wie er im vorliegenden Konzept angedeutet wurde, sollte in erster Linie die Freude an der Alltagsgestaltung mit den Kindern unterstützen und wecken. Das Gefühl für den Lebensrhythmus und die Melodie der Eltern- Kind-Beziehung sollte in der Lebendigkeit erlebt, die Empfindungsfähigkeit für die angemessenen Formen vitalisiert werden. Gesetzt wurden Impulse, mit den Kindern zu interagieren, zu kooperieren, ihnen Hinweise, Anhaltspunkte zu geben. Deutlich sollte sein, dass es sich nicht um ein methodische Verfahren handelt. Die Aufgabe für den Erwachsenen, eine Haltung dem jeweiligen Kind gegenüber zu entwickeln, sollte den Eltern als ein Bedürfnis entstehen und von emotionaler Wertschätzung getragen sein, die erst ein vollständiges Einlassen auf die führende Handlungslinie der Kinder ermöglicht. Im Rahmen unseres Projekts haben wir daher den Schwerpunkt auf Spielmöglichkeiten gelegt, die mit allen Sinnen erfahrbar sind. Mit den Spielideen und Anregungen konnten Eltern und Kinder gemeinsam auf Entdeckungsreise gehen und erleben, wie vielfältig unsere Welt aussieht, schmeckt, riecht, sich anfühlt und anhört, wenn sie mit allen Sinnen erlebt wird. Die Einheiten waren, wie bereits erwähnt, aufgeteilt in zwei Sequenzen, die der Materialerfahrung und die der Sozialerfahrung. Wir haben versucht möglichst alle Sinne (haptisch, visuell, auditiv, olfaktorisch, gustatorisch und vestibulär) anzusprechen, um vielfältige Erfahrungs- und Lernmöglichkeiten zu ermöglichen. Entwicklung, die, wie auch bei zwei Kindern in der Gruppe, durch eine Komplikation erschwert wird, provoziert geradezu einen kreativen Prozess der Dialogpartner. So bewältigt ein Kind seine Probleme mit einem ganzen Universum von neuen und unbegrenzt verschiedenen Formen von Entwicklung, wenn wir es auf diesem Weg unterstützen. Für die Eltern ergaben sich Momente des Bezuges zur eigenen Kindheit. Besonders gelungen erschienen uns Situationen, in denen wir nur noch Spielende wahrnehmen konnten. Zudem haben wir über Anregungen versucht, FI 2/ 2008 Spielend gut gebunden 85 wie es die folgenden exemplarisch sind, den Eltern den emotionalen Zugang zu Kindheitsmomenten zu eröffnen: • Woran erinnern Sie sich, wenn Sie an Ihre eigene Kindheit denken? • Erinnern Sie sich an bestimmte Begebenheiten, Geräusche und Gerüche? • Wünschten Sie sich vielleicht auch, fliegen zu können? • Haben Sie mit Tom Sawyer gefiebert und sind auch mit ihm auf der Insel mitten auf dem Mississippi untergetaucht? • Welche Murmeln waren Ihre wertvollsten? • Haben Sie im Herbstwind ihren selbstgebauten Drachen steigen lassen? • Erinnern Sie sich an das Gefühl, mit nackten Füßen über eine frisch gemähte Wiese oder ein Stoppelfeld zu gehen? Der Bezug zur eigenen Kindheit stellt einen wichtigen emotionalen Anknüpfungspunkt für den Wechsel in die kindliche Perspektive dar. Im Rahmen der gemeinsamen Abschlusssequenz mit Kindern und Eltern haben wir gemeinsam Knete hergestellt und ausprobiert. Das gemeinsam Hergestellte war für Eltern und Kinder die Vergegenständlichung des gemeinsamen Tuns. Dass die Knete mit nach Hause genommen werden konnte, hatte sowohl eine konkrete als auch eine symbolische Seite. Mit den eigenen Händen etwas Authentisches füreinander schaffen und dieses Geschaffene mit in den Alltag nehmen, sich daran erinnern und anknüpfen können. Resumee Die elterliche Feinfühligkeit zu unterstützen heißt für uns, spielend mit den Eltern und den Kindern Spiel als Austauschebene zu entwickeln. Dies konnte durch einfachste Spiele, die Grundlage und Resultat frühester Eltern- Kind-Interaktion sind und alle Sinne ansprechen, erreicht werden. In diesen Spielen erlebten Kinder und Erwachsene gemeinsam die Spannung, Erregung und Freude. Schon bei diesen einfachsten Spielen spiegelt sich wider, dass es sich um komplexe Verknüpfungen sozialer, emotionaler, sprachlicher und intellektueller Muster handelt und Spiel zugleich die Voraussetzung für diese Verknüpfung ist. Spiel und dessen facettenreiche und individuelle Aneignung ist die Basis und das Ziel des Dialoges des Kindes mit seiner eigenen und damit auch der allgemeinen Zukunft. Entwicklung ist ein dialogischer Prozess, an dem Eltern und Kind gleichermaßen einen Anteil haben. Aus der Perspektive des Tätigkeitsbegriffs tritt das Kind zu sich selbst und den verschiedenen Bereichen der Wirklichkeit vom ersten Augenblick seiner Biografie an immer in eine soziale Beziehung. Diese Beziehung wird als Zusammenhang von innerer und äußerer Tätigkeit mit wechselseitigen Übergängen vollzogen. Dies ist ein notwendigerweise praktischer und sinnlicher Weg, ohne den unsere Welt schon für das Kind nicht zu seiner eigenen Wirklichkeit werden kann. „Jede psychische Funktion“, so Vygotskij, „war zunächst eine äußere, weil sie eine soziale war, bevor sie zu einer inneren, einer im eigentlichen Sinne psychischen Funktion wurde; sie war vorher eine soziale Beziehung zweier Menschen“ (Vygotskij1987, 15). Das Gefühl, wir haben nicht alles, aber eine beachtliche Menge in der eigenen Hand, war eine Formulierung der Eltern, die uns dieses Grundprinzip eindrucksvoll widerspiegelte und ein Stück Zukunft darstellte. Literatur Bower, T. (1978): Die Wahrnehmungswelt des Kindes. Klett-Cotta, Stuttgart Brazelton, T. B. (1997): Babys erstes Lebensjahr. DTV, München Gaschler, K. (2007). Mutter(un)glück. Gehirn & Geist, 10, 45 - 49 Grimm, S. & Ronneberger, K. (2007). Eine unsichtbare Geschichte der Arbeit. Interview mit Sergio Bologna. http: / / magazines.documenta.de/ frontend/ article. php? IdLanguage=5&NrArticle=418 (Abruf 7. 10. 2007) 86 Astrid Lenz, Wolfgang Wörster FI 2/ 2008 Hildebrand-Nilshon, M., Chung-Woon, K. (1994): Kommunikationsentwicklung und Kommunikationsförderung. Zwei Arbeitspapiere aus dem Projekt „Augmentative and Alternative Communication (AAC)“, 6, Freie Universität Berlin Holodinski, M., Stallmann, F., Seeger, D. (2007): Bildungsbedeutung von Eltern, Familien und anderen Bezugspersonen für Kinder. Landtag Nordrhein- Westfalen. Enquetekommission Chancen für Kinder. Rahmenbedingungen und Steuerungsmöglichkeiten für ein optimales Betreuungs- und Bildungsangebot in Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf Jaeggi, R. (2004): Unscharf am Rand: Entfremdung. Freitag (Robinson) 9, III Kalinowski, B. (2007): Für jedes Kind ein Fähnchen. Aussortiert: Heinz Hilgers, Präsident des Kinderschutzbundes, beklagt die höchste Kinderarmut in der bundesdeutschen Geschichte und schätzt spektakuläre Aktionen. Freitag, 40, 3 Largo, R., Benz, C. (2003): Spielend lernen. In: M. Papoušek & A. von Gontard (Hrsg.): Spiel und Kreativität in der frühen Kindheit. Stuttgart: Klett-Cotta, 56 - 75 Laucht, M. & Schmidt, M. H. (2005): „Entwicklungsverläufe von Hochrisikokindern. Ergebnisse der Mannheimer Längsschnittstudie“, Kinderärztliche Praxis 6, 348 - 354 Lompscher, J. (Hrsg.) (1987): Lew Wygotski. Ausgewählte Schriften. Band 2, Pahl Rugenstein, Köln. Lorenz, R. (2005): Salutogenese. Grundwissen für Psychologen, Mediziner, Gesundheits- und Pflegewissenschaftler. Reinhardt, München Oerter, R. & Montada, L. (2002): Entwicklungspsychologie. Vol. 5. vollständig überarbeitete Auflage, Psychologie Verlags Union, Weinheim Paulsen, S. & Reeg, A. (2007): Was macht Kinder heute krank? GEO, 9, 125 - 150 Schlack, H. G. (2004): „Neue Morbidität im Kindesalter- Aufgaben für die Sozialpädiatrie“, Kinderärzliche Praxis 5, 292 - 299 Sennet, R. (2000): Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin Verlag, Berlin Spangler, G. & Zimmermann, P. (1995): Die Bindungstheorie: Grundlagen, Forschung und Anwendung. Stuttgart: Klett-Cotta Stern, D. (1979): Mutter und Kind. Die erste Beziehung. Stuttgart: Klett-Cotta Stern, D. (1991): Tagebuch eines Babys. Was ein Kind sieht, spürt, fühlt und denkt. Pieper, München Vygotskij, L. S. (1987): Mind in Society: The development of higher psychological processes. Cambridge: Havard University Press 1987 Astrid Lenz dr. Wolfgang Wörster Haus früher Hilfen Interdisziplinäre Frühförderung & integrierte Familienberatung Weierhofweg 48 D-51674 Wiehl-Oberbantenberg E-Mail: hfh-wiehl@t-online.de
