Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Stichwort: Neurophysiologie - Neuropsychologie
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Joest Martinius
Die Neurophysiologie befasst sich als Teilgebiet der Physiologie mit der Funktionsweise des gesamten Nervensystems. Als Wissenschaft untersucht die Neurophysiologie die Grundlagen der Nervenerregung an der Nervenzelle und an Nervenzellverbänden (neuronale Netze) sowie die Übertragung von Signalen. Sie bedient sich dabei vorwiegend elektrophysiologischer Methoden: - Zellableitung mit Mikroelektroden - Elektroenzephalografie (EEG) mit Direktaufzeichnung und/oder elektronischer Signalverarbeitung (Evozierte Potenziale, EEG Brain Mapping) - Elektromyografie (EMG) - Elektroneurografie (ENG) - Transkranielle Magnetstimulation (TMS) Alle genannten Verfahren außer der Zellableitung haben in der klinischen Neurophysiologie als Methoden zur Erkennung und Behandlung von Krankheiten und Störungen des Nervensystems ihren festen Platz.
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124 FI 3/ 2008 Stichwort Neurophysiologie - Neuropsychologie Joest Martinius Neurophysiologie Die Neurophysiologie befasst sich als Teilgebiet der Physiologie mit der Funktionsweise des gesamten Nervensystems. Als Wissenschaft untersucht die Neurophysiologie die Grundlagen der Nervenerregung an der Nervenzelle und an Nervenzellverbänden (neuronale Netze) sowie die Übertragung von Signalen. Sie bedient sich dabei vorwiegend elektrophysiologischer Methoden: • Zellableitung mit Mikroelektroden • Elektroenzephalografie (EEG) mit Direktaufzeichnung und/ oder elektronischer Signalverarbeitung (Evozierte Potenziale, EEG Brain Mapping) • Elektromyografie (EMG) • Elektroneurografie (ENG) • Transkranielle Magnetstimulation (TMS) Alle genannten Verfahren außer der Zellableitung haben in der klinischen Neurophysiologie als Methoden zur Erkennung und Behandlung von Krankheiten und Störungen des Nervensystems ihren festen Platz. Zellableitung Gemessen werden mit hochempfindlichen Verstärkern Potenzialschwankungen an der lebenden Zelle (Neuron) im Tierversuch. Die registrierbare elektrische Aktivität erlaubt Aussagen über Aktivierung und Hemmung, spontan oder als Antwort auf Reize. Auf diesem Wege lässt sich die Funktion einzelner Neurone und von Neuronenverbänden identifizieren, z. B. für Motorik, Lautproduktion oder Wahrnehmung in verschiedenen Modalitäten. Elektroenzephalografie Das Elektroenzephalogramm (EEG) ist die von der Kopfhaut abgeleitete, mittels Verstärkung aufgezeichnete, summierte elektrische Aktivität des Gehirns. Durch Platzieren von Ableiteelektroden über der Kopfoberfläche lässt sich die elektrische Hirnaktivität räumlich gegliedert in regional unterschiedlichen, typischen Formationen mit bestimmten Frequenzbändern aufzeichnen. Je nach Frequenz werden die aufgezeichneten Wellen als Beta-, Alpha-, Theta-, Delta- und Gammawellen benannt. Das EEG zeigt typische Muster in Abhängigkeit von Wachsein, Ermüdung und Schlaf. Im Wachsein dominieren die frequenten Beta- und Alphawellen, im Schlaf die langsameren Theta- und Deltawellen. Mittels automatischer Signalanalyse lassen sich feinere Veränderungen von Frequenz und Amplitude erfassen, die z.B. mit Aufmerksamkeit korrelieren. Ihre grafische Darstellung auf einem Bildschirm kann als EEG-Feedback zum Training von Aufmerksamkeit genutzt werden. Das EEG korreliert mit der Hirnreifung Die klinische Elektroenzephalografie ist ein wichtiges Hilfsmittel in der Diagnostik von Erkrankungen und Funktionsabweichungen des Gehirns. Vor allem in der Epilepsiediagnostik und -behandlung ist sie die Methode der Wahl, um mit der Aufzeichnung epilepsietypischer Graphoelemente (steile Wellen, Spitzen, Spitz-Welle-Komplexe) lokalisierte und generalisierte Zeichen von Anfallsbereitschaft zu erkennen und mit den klinischen Symptomen in Zusammenhang zu bringen. In der Behandlung bestimmter Epilepsieformen kann das EEG zur Bestimmung der Anfallskontrolle eingesetzt werden. Das EEG liefert wichtige Befunde zur Diagnostik von Hirnschädigungen, Hirntumoren, entzündlichen und degenerativen Erkrankungen sowie einiger Vergiftungen. Das Erlöschen der Hirnströme ist gleichbedeutend mit Hirntod. Evozierte Potenziale Die elektrische Hirnaktivität reagiert auf Reize in allen Wahrnehmungsmodalitäten mit Potenzialschwankungen in charakteristischer Abfolge. Sie lassen sich durch automatische Signalverarbeitung sichtbar machen. Die Reihenfolge der Potenzialschwankungen korreliert mit dem Ort der Signalübertragung, z. B. bei akustisch evozierten Potenzialen mit dem Durchlaufen eines Hörreizes auf dem Weg vom Hörorgan durch den Hirnstamm zur Hörrinde. Analoges gilt für visuell und somatosensorisch evozierte Potenziale. Die Latenzen der Potenzialwellen verändern sich mit der Hirnreifung. Evozierte Potenziale eignen sich deshalb zur Reifebestimmung und zur Wahrnehmungsdiagnostik. Frühförderung interdisziplinär, 27. Jg., S. 124 - 126 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel FI 3/ 2008 Stichwort 125 In der klinischen Neurophysiologie haben evozierte Potenziale eine große Bedeutung in der Diagnostik von Wahrnehmungsstörungen, z. B. Hörstörungen beim Säugling, und in der Diagnostik von Erkrankungen des Nervensystems. Komponenten der evozierten Potenziale, die 150 msec und später nach einem Reiz messbar sind, werden späte Komponenten genannt, darunter die Mismatch Negativity (MMN) und eine 300 msec nach Reiz auftretende Welle (P 300). Sie spielen in der Erfassung der Diskriminationsfähigkeit und komplexerer Wahrnehmungsprozesse eine Rolle. Elektromyografie Die Elektromyografie ist die Aufzeichnung der elektrischen Aktivität der Muskulatur. Mittels Nadelelektroden lassen sich Muskelaktionspotenziale ableiten, deren Form, Dauer, Amplitude und Frequenz Auskunft über die Funktionseinheit von motorischer Nervenzelle im Rückenmark, Nerv und Muskel geben, über deren Reifung und über Störungen im neuromuskulären System. Die Elektromyografie ist Bestandteil der Diagnostik bei Verdacht auf muskuläre und/ oder neurogene Erkrankungen. Elektroneurografie Mit der Elektroneurografie werden Leitungsgeschwindigkeit und Erregbarkeit sowohl motorischer als auch sensibler peripherer Nerven untersucht. Die Untersuchung erfordert die Reizung des betreffenden Nerven an voneinander entfernten Positionen und die Messung der zeitlichen Differenz zwischen den erzeugten Reizreaktionen. Die Elektroneurografie mit Bestimmung der Nervenleitgeschwindigkeit (NLG) hat ihren Platz als Ergänzung der neurologischen Untersuchung in der Diagnostik von Nervenschädigungen und von Störungen der neuromuskulären Überleitung. Wichtige Befunde liefert sie in der Reifebeurteilung des Neugeborenen. Transkranielle Magnetstimulation (TMS) Diese elektrophysiologische Stimulationstechnik setzt von außen kurze, starke Magnetimpulse ein, die im Inneren des Schädels elektrische Felder und somit Potenzialänderungen erzeugen. Das Besondere dieser neurophysiologischen Methode liegt in der Möglichkeit, 1. und 2. motorisches Neuron getrennt auf ihren Funktionszustand und auf Schädigungen zu untersuchen, d. h. zwischen Hirnrinde und Rückenmark und zwischen Rückenmark und Muskel. TMS erlaubt u. a. die Unterscheidung neuronal bedingter von psychogenen Lähmungen. TMS findet über die neurologische Diagnostik hinaus Anwendung in der Behandlung einiger psychiatrischer Erkrankungen. Neuropsychologie Die Neuropsychologie befasst sich mit den Zusammenhängen zwischen Gehirn und Verhalten. Sie arbeitet interdisziplinär, indem sie Neurowissenschaften und Psychologie miteinander verbindet und ihre Untersuchungsmöglichkeiten bei Mensch und Tier einsetzt, sowohl bei gesunden Probanden als auch bei neurologisch und psychisch Kranken. Die Neuropsychologie hat in den letzten Jahrzehnten mit der Entwicklung immer präziserer und zugleich schonenderer Techniken zur Untersuchung des Gehirns einen enormen Wissenszuwachs erzeugt, ein Vormarsch, der sich fortsetzen wird. Untersucht werden alle Verhaltensbereiche: Wahrnehmungssysteme und alle Sinnesmodalitäten, Motorik, Gedächtnis, Antrieb und Entspannung/ Schlaf, Aufmerksamkeit und Bewusstsein, Denken, Emotionen. Auf psychologischer Seite werden Tests durchgeführt, die für das jeweilige Verhalten spezifisch und aussagekräftig sind. Für die Korrelierbarkeit der Ergebnisse mit Hirnfunktionen ist entscheidend, dass Test und Hirnuntersuchung in zeitlicher Nähe zueinander erfolgen, am besten gleichzeitig. Für die verhaltensbezogene Untersuchung des Gehirns standen lange das Elektroenzephalogramm und mehr noch die ereigniskorrelierten Potenziale im Vordergrund. Das hat sich zugunsten der bildgebenden Verfahren (Neuroimaging) verschoben, namentlich zugunsten zweier Techniken, der Positronen Emissions Tomografie (PET) und der funktionellen Magnet Resonanz Tomografie (fMRT). Positronen-Emissions-Tomografie (PET) Die Positronen Emissions Tomografie benutzt schwach radioaktive Isotope, die über die Blutbahn ins Gehirn gelangen, um Reaktionen des Gehirns auf externe und interne Reize zu erfassen. Gemessen werden regionale Änderungen der Hirndurchblutung. Ihre bildliche Darstellung zeigt Aktivierungsmuster, die in aktivierten Hirnregionen auftreten und und sich mit dem gleichzeitig beobachteten Verhalten in Zusammenhang bringen lassen. Der Nachteil dieser Untersuchungsmethode ist die radioaktive Belastung. 126 Stichwort FI 3/ 2008 Funktionelle Magnet-Resonanz- Tomografie (fMRT) Die Magnet Resonanz Tomografie basiert auf der Möglichkeit, durch Erzeugen von Magnetfeldern und Radioimpulsen im Gehirn ein Resonanzsignal zu erzeugen, mit dem Dichteunterschiede des Gewebes gut erfassbar und darstellbar werden. Das Resonanzsignal ändert sich mit der Aktivität von Neuronenpopulationen. Die Methode eignet sich somit für die Untersuchung von regionalen Aktivierungen im Gehirn. Sie hat viele Vorteile. Nachteilig ist das Erfordernis, still liegen zu müssen, was bei Kindern an Grenzen stößt, zumal bei Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten. Forschungsergebnisse Neuropsychologische Forschung hat unter Einsatz der genannten Verfahren eine Fülle von Befunden produziert, die hochinteressante Einblicke in die Zusammenhänge von Gehirnfunktion und Verhalten eröffnet haben. Ein wichtiges Ergebnis ist, dass die klassische Lokalisationslehre von eng umgrenzten Hirnstrukturen (Zentren), die ausschließlich für bestimmte Funktionen zuständig sein sollten, so nicht aufrecht erhalten werden kann. An ihre Stelle ist ein Konzept getreten, das mehrere Regionen als steuernd für ein bestimmtes Verhalten sieht, die je nach Bedarf einzeln oder in Kombination aktiviert werden. Die Kognitionspsychologie hat mit einer kaum noch übersehbaren Fülle von Experimenten ein immenses Wissen über Wahrnehmungsprozesse angesammelt. Sie reichen bis an die Grenze des Gedankenlesens, etwa dort, wo aus einer regionalen Hirnaktivierung darauf geschlossen werden kann, ob die untersuchte Person die Pointe ein Witzes verstanden hat oder nicht. Einige psychiatrische Erkrankungen, zu deren Verständnis die Neuropsychologie viel beigetragen hat, sollen hier als Beispiele genannt werden: • Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung ADHS/ HKS • Autismus • Posttraumatische Belastungsstörung PTBS Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung ist, wie mit dem Neuroimaging vielfach nachgewiesen wurde, von einer funktionellen Hirnpathologie begleitet, die als „Hypofrontalität“ Eingang in die Terminologie gefunden hat. In erster Linie sind es bestimmte Bereiche des Frontalhirns, daneben des Gyrus Cinguli und des Parietalhirns, die bei betroffenen Kindern unteraktiviert sind. Die Unteraktivierung kann sich unter medikamentöser Behandlung normalisieren. Der Befund wird als Reifungsstörung jenes neuronalen Systems interpretiert, welches Aufmerksamkeit generiert und aufrecht hält. Bei Autisten wurde festgestellt, dass bei Betrachten von Gesichtern mit emotionalem Ausdruck eine Hirnregion in der rechten unteren Schläfenregion aktiviert wurde, die beim Gesunden beim Betrachten von neutralen Gegenständen in Funktion tritt. Autisten verarbeiten offenbar emotionalsoziale Signale wie Objekte. Daraus lässt sich eine Erklärung für das wesentliche Merkmal autistischen Verhaltens ableiten, d. h. für die tiefgreifende Störung von Kommunikation und Interaktion. Neuropsychologische Untersuchungen konnten in Verbindung mit neurendokrinologischen Analysen nachweisen, dass traumatisierender psychischer Stress, an den sich ein Individuum nicht anpassen kann, mit funktionellen oder strukturellen Hirnschädigungen einhergeht und zu einer abnormen Gedächtnisbildung mit Speicherung der Erinnerungen an „falschem“ Ort führt. Bekanntlich haben Individuen, die unter einer so entstandenen Posttraumatischen Belastungsstörung leiden, Schwierigkeiten, die traumatischen Ereignisse zu erinnern (funktionelle Amnesie). Unter Anwendung von PET während der Exploration kann die Speicherung an „falschem Ort“ dargestellt und nach erfolgreicher Therapie die funktionelle Korrektur im Gehirn nachgewiesen werden. Univ. Prof. Dr. med. Joest Martinius Waltherstr. 23 D-80337 München E-Mail: Martinius@lrz.uni-muenchen.de
