Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2008
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Situationsanalyse von Kindern mit Behinderungen und deren Familien in einem sozialen Brennpunktbezirk
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2008
Antje Willms-Faß
Am Beispiel der Kinder- und Jugendambulanz/Sozialpädiatrisches Zentrum der Lebenshilfe gGmbH Berlin-Neukölln wird sowohl auf die sozialpädiatrische Versorgung von Kindern mit Behinderungen als auch auf deren Integration in Regelkitas auf der Grundlage des Berliner In-tegrationsgesetzes eingegangen. Kernaussage ist, dass die Entwicklungsdefizite der Kinder in der Regel den psychosozial schwierigen Lebensbedingungen der Familien zuzuordnen sind. Viele der zu behandelnden Kinder sind nicht behindert, sondern sie werden in ihrer Entwicklung behindert. In diesem Beitrag geht es um eine Beschreibung der psychosozialen Lebensbedingungen der Klientel in einem sozialen Brennpunktbezirk wie Neukölln, deren Auswirkungen auf die Entwicklungsbedingungen der Kinder, eine erweiterte Sichtweise auf kindliche Behinderungen als Folge psychosozial ungünstiger familiärer Lebensbedingungen und den daraus resultierenden skizzenhaften Lösungsansätzen zur konzeptionellen Neuorientierung sozialpädiatrischer Versorgung in sozialen Brennpunktbezirken
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Frühförderung interdisziplinär, 27. Jg., S. 164 - 173 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Behinderte Kindheit Situationsanalyse von Kindern mit Behinderungen und deren Familien in einem sozialen Brennpunktbezirk Antje Willms-FAss Zusammenfassung: Am Beispiel der Kinder- und Jugendambulanz/ Sozialpädiatrisches Zentrum der Lebenshilfe gGmbH Berlin-Neukölln wird sowohl auf die sozialpädiatrische Versorgung von Kindern mit Behinderungen als auch auf deren Integration in Regelkitas auf der Grundlage des Berliner Integrationsgesetzes eingegangen. Kernaussage ist, dass die Entwicklungsdefizite der Kinder in der Regel den psychosozial schwierigen Lebensbedingungen der Familien zuzuordnen sind. Viele der zu behandelnden Kinder sind nicht behindert, sondern sie werden in ihrer Entwicklung behindert. In diesem Beitrag geht es um eine Beschreibung der psychosozialen Lebensbedingungen der Klientel in einem sozialen Brennpunktbezirk wie Neukölln, deren Auswirkungen auf die Entwicklungsbedingungen der Kinder, eine erweiterte Sichtweise auf kindliche Behinderungen als Folge psychosozial ungünstiger familiärer Lebensbedingungen und den daraus resultierenden skizzenhaften Lösungsansätzen zur konzeptionellen Neuorientierung sozialpädiatrischer Versorgung in sozialen Brennpunktbezirken Schlüsselwörter: Behinderung, psychosoziale Risiken, soziale Brennpunkte, sozialpädiatrische Versorgung, Integration, Early Excellence Centers Handicapped Childhood: The Situation of Children and Families in a Poor Neighborhood Summary: To work in an early intervention service in a poor neighborhood like in our Ambulance for Children and Youth in Berlin Neukölln exemplifies very clearly the significant impact of low-level social environmental conditions upon developmental delays of children. As a consequence, early intervention services must reflect upon their concept of „handicap“ and their orientation in therapeutical concepts and service delivery. A main point may be the role and function of day care centers in poor neighborhoods. Keywords: Handicap, social risks, poor neighborhood, early intervention, inclusive settings, day care centers 1. Entwicklung der Kinder- und Jugendambulanzen/ Sozialpädiatrische Zentren in Berlin (KJA/ SPZ) Anfang der 90er Jahre begann der Berliner Senat in Zusammenarbeit mit Freien Trägern in jedem Berliner Stadtteil ein Sozialpädiatrisches Zentrum, im Berliner Sprachgebrauch Kinder- und Jugendambulanzen (KJA/ SPZ) genannt, zu gründen. Diese Planungen gründeten auf der Idee, stadtteilnahe, sozialpädiatrische Versorgung mit der Integration von Kindern mit Behinderungen in Regelkindertagesstätten zu verbinden. Für diese Entwicklung waren engagierte, bildungspolitisch bewusste Eltern behinderter und nichtbehinderter Kinder und Fachleute mit den von ihnen gegründeten Projekten (z. B. Kinderhaus Friedenau, Emmi Pikkler- Gesellschaft) in den 70er und 80er Jahren Vorreiter gewesen. Behinderte Kinder mit Morbus Down, Cerebralparesen, Autismus, Spina bifida etc. wurden nicht länger in Sondereinrichtungen betreut, sondern Kinder mit und ohne Behinderungen sollten gemeinsam den Kita- und später auch Schulalltag miteinander verbringen. Demzufolge fand die Therapie für die Kinder mit „besonderen Bedürfnissen“ (ein in dieser Zeit geprägter Alternativbegriff für Kinder mit Behinderungen) nicht länger in einem isolierten Raum abseits von Alltag und Spielkameraden statt. In Zusammenarbeit von ErzieherInnen und TherapeutInnen entstanden sog. förderpädagogi- FI 4/ 2008 Behinderte Kindheit 165 sche Konzepte, die die Integration von therapeutischen Inhalten in den pädagogischen Alltag zum Ziel hatten. Nicht immer im Gleichklang mit der Senatspolitik kämpften Eltern und Projektmitarbeiter um diesen Paradigmenwechsel in der Bildungspolitik für Kinder mit Behinderungen. Die Konzepte erwiesen sich in der praktischen Erprobung schließlich auch für Skeptiker als sinnvoll und vor allem entlastend, nicht nur für die betroffenen Kinder und deren Familien, sondern auch im Sinne einer gesellschaftspolitischen Sichtveränderung: Menschen mit und ohne Behinderungen lernen miteinander und voneinander. Der Berliner Senat trug dieser Entwicklung zu Beginn der 90er Jahre Rechnung mit der Errichtung der Kinder- und Jugendambulanzen/ Sozialpädiatrischen Zentren nach und nach in jedem Berliner Stadtteil. Die Kinder- und Jugendambulanzen erhielten den Auftrag, sowohl sozialpädiatrische Zentren - stadtteilnah - mit den Kernaufgaben Diagnostik, Therapie und Beratung von Kindern mit Behinderungen und deren Eltern aufzubauen, als auch die therapeutische, ambulante Versorgung von Kindern mit Behinderungen in den Kindertagesstätten im Rahmen förderpädagogischer Konzepte und deren praktischer therapeutischer Begleitung durch die AmbulanzmitarbeiterInnen sicherzustellen. Bis heute ist die tragende Säule dieses Anspruchs eine enge Zusammenarbeit von ErzieherInnen der Kitas und TherapeutInnen der Ambulanzen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Bundesländern vereinen die KJA/ SPZ in Berlin medizinische Aufgaben mit Früherkennung und interdisziplinärer Frühförderung von Kindern mit Entwicklungsauffälligkeiten. Inzwischen gibt es ein Berliner Landesgesetz, das den Anspruch eines Kindes mit Behinderung auf Integration in Regelkitas rechtlich sicherstellt einschließlich der Bereitstellung zusätzlicher finanzieller Mittel für personellen Mehraufwand. Als behindert oder von Behinderung bedroht gelten dabei alle Kinder mit Entwicklungsstörungen, die unter die Paragraphen 53 und 35 SGB XII fallen. 2. Kinder- und Jugendambulanz/ Sozialpädiatrisches Zentrum Neukölln 1993 wurde so die Kinder- und Jugendambulanz Neukölln in Trägerschaft der Lebenshilfe gGmbH gegründet und ein multidisziplinäres therapeutisches Team unter ärztlicher Leitung zusammengestellt, das von den Krankenkassen die Anerkennung als Sozialpädiatrisches Zentrum (KJA/ SPZ) erhielt. Der Begriff Behinderung orientierte sich damals an den gängigen Erscheinungsformen aufgrund von genetischen, traumatischen, perinatalen und sonstigen organ- und neuropathologischen Ursachen. Bei der Gründung des Sozialpädiatrischen Zentrums Neukölln war noch ein relativ hoher Prozentsatz an Kindern mit diesen herkömmlichen Behinderungen (z. B. Morbus Down, Cerebralparesen) zu verzeichnen. Dies änderte sich im Laufe der Jahre enorm, da die Problemstellungen der vorgestellten Kinder und Eltern gekennzeichnet waren durch die gesellschaftspolitischen Veränderungen der Nachwendezeit, die sich beispielhaft im Bezirk Neukölln zeigten und zeigen. Neukölln, ein Stadtteil mit über 300 000 Einwohnern, war schon immer traditionell ein Arbeiterbezirk. Lebte in den 70er Jahren noch eine bunte Mischung von Menschen als sog. „Gastarbeiter“, Studenten, Rentnern und Familien mit geringem Einkommen in Neukölln, so erlebte der Bezirk in den 90er Jahren mit der stärkeren Gabelung der Gesellschaft in „arm“ und „reich“ einen dramatischen sozialen Niedergang und entwickelte sich zu einem sog. sozialen Brennpunktbezirk. Die aktuellen nachfolgenden Sozialdaten geben einen kleinen Einblick in die heutigen Neuköllner Realitäten: 166 Antje Willms-Faß FI 4/ 2008 • 3 von 4 Kindern leben in sog. sozialschwachen Familien, deren Einkommen unter der Armutsgrenze liegt (Tagesspiegel vom 22. 8. 07) • ¼ aller Erwerbsfähigen sind arbeitslos, Erwerbsfähige mit Migrationshintergrund sind zu 40 % arbeitslos (Tagesspiegel vom 22. 3. 06) • jeder 2. Neuköllner Bürger lebt von staatlichen Transferleistungen, bei Jugendlichen unter 25 Jahren sind es sogar 70 % (Süddeutsche Zeitung vom 3. 1. 08) • ¼ aller Neuköllner sind überschuldet (insolvent), in Nordneukölln sogar 40 % (Tagesspiegel vom 3. 1. 08) • 70 % aller Schüler verlassen die Schule ohne oder nur mit Hauptschulabschluss, d. h. 2 / 3 aller Schüler finden i. d. R. dauerhaft keinen Einstieg ins Berufsleben (Berliner Zeitung vom 21. 1. 08) • Die Jugendkriminalität hat sich seit 1990 verdoppelt, die Zahl der Körperverletzungen durch Jugendliche verdreifacht (Spiegel vom 8. 1. 08) • 75 % aller Kinder schaffen bei der Einschulung den Deutschtest nicht (Berliner Zeitung vom 21. 1. 08) • 1 / 3 der Bewohner sind Migranten aus 160 Nationen (Berliner Zeitung vom 21. 1. 08) • 80 % der Grundschüler haben einen Migrationshintergrund (SPIEGEL vom 8. 1. 08) • Ganze Kitagruppen und Schulklassen bestehen aus Kindern, deren Eltern ausschließlich von staatlichen Transferleistungen leben (Tagesspiegel vom 22. 8. 07) Diese Sozialdaten belegen, dass in Neukölln weitgehend die Menschen leben, die ganz unten auf der sozialen Leiter angekommen sind. In der Regel beherrschen Armut und Perspektivlosigkeit ihr Leben. Nicht erst seit gestern wird in Neukölln von einer Parallelwelt - und zwar sowohl bei deutschen Neuköllner Bürgern als auch bei denen mit Migrationshintergrund - gesprochen, zu der das bundesdeutsche Rechtsverständnis und -system kaum noch Zugang hat. Die steigende Jugendkriminalität, die u. a. immer mehr Neuköllner Schulen zum privaten Wachschutz während der Unterrichtszeiten zwingt, ist nur ein Indiz für diese Entwicklung. In der Ambulanz- und Kitaarbeit fallen demzufolge mehrheitlich Kinder und Familien auf, die geprägt sind von einem Leben am Rande der Gesellschaft. Daraus ergibt sich, dass in der KJA/ SPZ inzwischen mehrheitlich Kinder diagnostiziert und behandelt werden, deren familiäre sozioökonomische und psychosoziale Lebensbedingungen einer der entscheidenden Risikofaktoren für die kindliche Entwicklung sind. In der täglichen Arbeit des Neuköllner KJA/ SPZ dominieren Kinder, die nicht infolge von neuround/ oder organpathologischen oder genetischen Ursachen behindert sind, sondern die in ihrer Entwicklung behindert werden durch die belastenden psychosozialen Verhältnisse, in denen sie aufwachsen. Diese Sicht auf die Entstehungsbedingungen von Behinderungen hat Konsequenzen für die tägliche Arbeit nicht nur in der Ambulanz, sondern auch in der Kita. Eine Erfolg versprechende Therapie der multiplen Entwicklungsstörungen kann nicht nur bei den Kindern ansetzen. In hohem Maße bedarf das familiäre und soziale Umfeld veränderungswirksamer Interventionen. Dies gilt i. d. R. für jedes Kind mit Behinderung, bei der hier beschriebenen Klientel aber in besonderer Weise. Diesem Aspekt widmet sich der Beitrag. 3. Psychosoziale Belastungsfaktoren der in der Kinder- und Jugendambulanz/ Sozialpädiatrischen Zentren betreuten Familien Typische Äußerungen von Eltern in Anamnesegesprächen sind z. B. „mein Kind ist so aggressiv“, „mein Kind kann sich mit nichts wirklich beschäftigen, kann nicht stillsitzen, sich auf nichts konzentrieren“ „mein Kind provoziert mich ständig, es lässt mir keine FI 4/ 2008 Behinderte Kindheit 167 Ruhe“, „ich kann nicht mehr, ich will nur noch meine Ruhe haben“, „mein Kind ist so unruhig, ich kann mit ihm nirgendwo hingehen“, „mein Kind spricht so undeutlich, niemand versteht es“. Der Erziehung ihrer Kinder/ ihres Kindes sind die Eltern häufig schon im Kleinkindalter nicht mehr gewachsen. Die Folge sind kontraproduktive Erziehungsversuche, die häufig in Gewalt, Zuwendungsentzug, Isolation des Kindes, Beschimpfung und Demütigung des Kindes münden, also eine negative Eskalationsschleife, die das Kind immer weiter in seiner Entwicklung hemmt. Die Kinder als schwächstes Glied in der Kette werden somit leicht zu Empfängern negativer elterlicher Emotionen. Die Eltern fühlen sich mit der Erziehung der Kinder hoffnungslos überfordert. Als einige der Ursachen für diese elterliche Erziehungsinsuffizienz werden im Folgenden die gravierendsten psychosozialen und sozioökonomischen Belastungsfaktoren der Eltern und Familien beschrieben. 3.1 Arbeitslosigkeit Die auffälligste Lebensbedingung der von uns behandelten Kinder und deren Familien ist die Arbeitslosigkeit. Ca. ¾ aller in der KJA/ SPZ betreuten Familien leben ganz oder teilweise von staatlichen Transferleistungen häufig in Kombination mit den sog. 1,50 Euro- Jobs. Auffallend dabei ist, dass die Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen generationsübergreifend verläuft, d. h. die Arbeitslosigkeit zieht sich häufig über 2, manchmal über 3 Generationen und ist zur normalen, nicht infrage zu stellenden Lebensgewohnheit geworden. Hinzu kommt, dass die Eltern häufig keinen Schulund/ oder Berufsabschluss haben. Die beruflichen Zukunftspläne der Eltern sind meist vage und lassen nicht selten jeden Realitätsbezug vermissen. Immer häufiger verfügen die Eltern nur über rudimentäre Fähigkeiten des Lesens und Schreibens. In diesem Zusammenhang gewinnen wissenschaftliche Studien Bedeutung, die nachweisen, dass je bildungsferner die Familien, desto auffälliger die Entwicklung der Kinder („Auf den Anfang kommt es an“, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin 2003). Mit längerer Arbeitslosigkeit einher geht der Verlust von Lebensführungskompetenzen. Dieser besteht vor allem in dem Unvermögen der Eltern, den Tag zu strukturieren, und bedeutet, dass Termine nicht eingehalten werden - auch Therapietermine -, simple Planungen wie Lebensmitteleinkäufe, Essensplanungen, gemeinsame Mahlzeiten und Haushaltsführung oder Einhaltung von Behördenterminen nicht oder zumindest nicht zuverlässig möglich sind. Fernsehen, Computerspiele und Internet erweisen sich als Zeiträuber für die Familien. In der Kinder- und Jugendambulanz ist es zur Angewohnheit geworden, die Eltern regelmäßig vor stattfindenden Terminen anzurufen und sie zu erinnern. Dies hat sich als notwendig erwiesen, um die Abbruchquoten bei Therapien möglichst gering zu halten. Die dauerhafte Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen infantilisiert Menschen. Sie verlernen es - oder haben es nie gelernt -, für sich und ihre Kinder Verantwortung zu übernehmen, und erleben sich in völliger Abhängigkeit vom staatlichen Unterstützungssystem, auch hinsichtlich der Entwicklung ihrer Kinder. Eine wesentliche Aufgabe in der Behandlung von Kindern mit Entwicklungsstörungen ist, die Eltern zu ermutigen und anzuleiten, wieder selbst die Verantwortung für die Entwicklung ihrer Kinder zu übernehmen. 3.2 Überschuldung Ein Großteil der betreuten Familien ist überschuldet. Das bedeutet, dass sie mit dem Geld, das ihnen zur Verfügung steht, ihre Schulden auf lange Zeit, häufig ihr Leben lang, nicht abbezahlen können. Überschuldung entsteht 168 Antje Willms-Faß FI 4/ 2008 durch die mangelnde Fähigkeit, mit Geld umzugehen, durch planlosen und unstrukturierten Umgang mit Geld. In der Regel entsteht die Überschuldung durch unüberlegtes Einkaufen im Internet, bei Versandhäusern, durch „günstige“ Ratenverträge oder hohe Handyrechnungen, selten durch Käufe, die der unmittelbaren Lebensführung oder der Berufsausübung dienen. Den meisten dieser Betroffenen kann nur durch ein Insolvenzverfahren, das viele wiederum nicht durchhalten, geholfen werden. 3.3 Traumatisierung der Eltern Viele Eltern sind durch eigene belastende Kindheitserfahrungen und instabile Verhältnisse in den Herkunftsfamilien traumatisiert. Das hat zur Folge, dass viele Eltern an psychischen Erkrankungen (Depressionen, Angstzustände, Zwangsstörungen, Borderlinestörungen bis hin zu Psychosen) leiden. Häufig bleiben diese unbehandelt. Damit einher gehen Bindungsstörungen mit häufigen Beziehungsabbrüchen und Partnerwechseln, nicht selten ist der Kontakt zur Herkunftsfamilie abgebrochen. Auch die Beziehung zu den eigenen Kindern gestaltet sich dabei ambivalent, uneindeutig und wenig zuwendungsbezogen. Eine derartige instabile Eltern-Kind-Beziehung hinterlässt negative Spuren in der kindlichen Entwicklung (siehe Punkt 5). Weitere Probleme der Eltern äußern sich in Suchterkrankungen, wie Alkohol, Medikamentenmissbrauch und Drogen. Immer häufiger lassen sich auch die nichtstoffgebundenen Süchte wie Computer- und Glücksspiel beobachten. Eltern mit traumatisierenden Erfahrungen in den eigenen Herkunftsfamilien zeigen nicht selten eine hohe Gewaltbereitschaft/ hohes Aggressionspotenzial in der Familie. Diese richtet sich dann häufig gerade gegen die eigenen Kinder. Das Gleiche gilt für die erhöhte Gefahr des sexuellen Missbrauchs. 3.4 Migrationsproblematik 70 % der in der KJA/ SPZ Neukölln betreuten Klientel haben einen Migrationshintergrund. Das heißt für den Alltag in der Kinder- und Jugendambulanz schlechte bis nicht vorhandene Deutschkenntnisse vor allem der Eltern, aber auch der Kinder. Rund die Hälfte der türkischstämmigen Kinder sprechen und verstehen, selbst wenn sie in Deutschland oder Berlin geboren wurden, so wenig Deutsch, dass sie dem Grundschulunterricht nur mit größten Schwierigkeiten folgen können (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 21. 3. 04). In den Familien lässt sich ein niedriges Bildungsniveau beobachten, viele Eltern, am häufigsten die Mütter, sind Analphabeten. Die Folge sind Isolation und Rückzug in die eigene kulturelle Lebenswelt. Daraus erwachsen spezifische Erziehungsvorstellungen und Rollenbilder der Geschlechter, die den hiesigen Vorstellungen deutlich entgegenstehen, z. B. werden Jungen in der muslimischen Kultur im Kindesalter hemmungslos verwöhnt, ihnen jeder Wunsch erfüllt, ohne dass sie Konsequenzen oder Grenzen erfahren, bis dann das Verhalten der Jungen, vor allem wenn sie älter werden, so aggressiv und maßlos ist, dass die ehemals verwöhnende Haltung, häufig der Mütter, in Gewalt durch die Väter umschlägt. Beide Erziehungsmittel entsprechen nicht den mitteleuropäischen Vorstellungen und führen in Kita und Schule zu massiven Konflikten. Viele Familien mit Migrationshintergrund fallen durch ihren Kinderreichtum bei gleichzeitiger Erziehungsinkompetenz im Rahmen von kultureller Desintegration auf. 3.5 „Überlebensstress“ All die im vorhergehenden Beitrag genannten Lebensbedingungen produzieren ein hohes Maß an familiärem Stress, der für die Wahrnehmung und Befriedigung der Bedürfnisse von Kindern kaum Raum, Kraft und Zeit lässt. FI 4/ 2008 Behinderte Kindheit 169 Bei vielen Eltern lässt sich darüber hinaus - häufig aufgrund eingeschränkter Lebensführungskompetenzen - ein sog. „Überlebensstress“ beobachten. Dieser wird hervorgerufen durch ein hohes Maß an Energiebindung/ Stress in der Auseinandersetzung mit Arbeitsagentur, Jugendämtern, Vermietern, Gas- und Stromversorgern, Handy- und Telefonanbietern, Gerichtsvollziehern und anhängigen Gerichtsverfahren. In solchen Fällen sind viele Eltern nicht in der Lage, die Entwicklungsprobleme ihrer Kinder zu sehen und Zeit und Kraft in ein wie auch immer geartetes Therapieangebot zu stecken. Der Alltag führt bei vielen sozial benachteiligten Eltern zu Dauerstress mit einem konstant überhöhten Erregungsniveau mit entsprechenden Folgen auf der körperlichen Ebene durch z. B. geschwächte Immunabwehr oder chronische Schmerzen wie auch auf der seelischen Ebene durch depressive Verstimmungen, Antriebsschwäche und Aggressivität. Ungewollt empfinden diese Eltern die eigenen Kinder als große Belastung und schieben ihnen die Schuld für den Stress zu. Alle hier genannten Belastungsfaktoren bestimmen das Erziehungsverhalten der Eltern in hohem Maße. Gesellschaftspolitische Einflüsse und Lebensbedingungen, die Qualität des jeweiligen Beziehungsnetzes Familie sowie das individuelle Verhalten gespeist aus der intrapsychischen Ebene sind die entscheidenden drei Einflusskomponenten für die elterliche Erziehung. Stehen diese in einem negativen Wechselwirkungsprozess zueinander, entsteht unsicheres bis destruktives elterliches Erziehungsverhalten. Wie sich dieses konkret auf die kindliche Entwicklung auswirken kann, wird im folgenden Abschnitt beschrieben. 4. Auswirkung der Überforderung der Eltern auf die Kinder Häufig sind schon die Schwangerschaften belastet. Nicht nur Alkohol, Drogen und Nikotin spielen hier eine Rolle, sondern auch das krisenhafte Erleben der Schwangerschaft durch psychische und soziale Probleme der Mütter. Ist das Kind dann auf der Welt, sind Eltern häufig nicht in der Lage, die Bedürfnisse ihres Kindes adäquat wahrzunehmen. Dies drückt sich aus in reduziertem Körperkontakt zwischen Eltern und Kind, Einschränken der kindlichen Bewegungs- und Experimentierfreude und einem unzureichenden Beziehungsangebot der Eltern an das Kind. So ist z. B. die sprachliche Zuwendung an das Kind häufig nur durch Ver- und Gebote geprägt. Schon viele kleine Kinder erleben Sprache fast ausschließlich als Sanktionierungsinstrument und entwickeln von daher wenig Motivation, ihre aktive Sprache zu gebrauchen. Darüber hinaus fehlt es vielen Eltern an Sprachkompetenz. Das elterliche Erziehungsverhalten schwankt nicht selten zwischen materieller Verwöhnung, Hilflosigkeit und Gewalt, uneindeutigen Regeln und Inkonsequenz, sodass das Kind keine Orientierung in der Beziehung zu den Eltern erfährt. Darüber hinaus haben Eltern häufig unrealistische oder altersunangemessene Erwartungen an ihr Kind. In der Beziehungsgestaltung zwischen Eltern und Kind hat die positive Bestätigung des Kindes selten Platz. Viele Kinder erfahren im Kontakt mit ihren Eltern chronische Abwertung, Beschimpfung, Ver- und Gebote bis zur Demütigung. Durch konfliktreiche Paarbeziehungen kommt es zu gehäuften Beziehungsabbrüchen in der Regel zu den Vätern und Stiefvätern. Viele Kinder haben im Alter von 4 bis 5 Jahren schon mehrere „Papas“ durch ihr Leben ziehen sehen. Bei nicht wenigen Kindern lässt sich deren Parentifizierung beobachten. Vor allem in Suchtfamilien werden die Eltern von den Kindern zumindest partiell als hilflos und lebensunfähig erlebt, sodass die Kinder das Bedürfnis entwickeln, die Eltern oder das 170 Antje Willms-Faß FI 4/ 2008 Elternteil und die Geschwister zu schützen durch protektive Verhaltensweisen. Die Kinder - häufig die älteren - übernehmen Verantwortung für Haushaltsorganisation, Geschwisterbetreuung und versuchen ihre Eltern zu überwachen, eine Verantwortung mit dem Resultat der völligen Überforderung der Kinder.In Familien mit Gewaltproblemen sind Kinder häufig hypersensibilisiert für die Stimmung der Eltern bei gleichzeitigem Ignorieren der eigenen kindlichen Bedürfnisse, um sich und andere Familienmitglieder vor familiärer Gewalt zu schützen. Da Sucht und Gewalt in vielen Familien häufig zusammen kommen, entwickeln nicht wenige Kinder quasi als Überlebensmechanismus sowohl Parentifizierung als auch Hypersensibilisierung, eine Anforderung, unter der keine gesunde - vor allem seelische - Entwicklung des Kindes stattfinden kann. Bei den meisten Familien existiert ein äußerst eingeschränktes Angebot an kindgerechten Aktivitäten. Viele Kinder kennen keinen Spielplatz, Park oder Wald, sondern haben stattdessen schon im Kleinkindalter selbstbestimmten Zugang zu TV, Computer oder Play-Station. Insgesamt besteht i. d. R. ein niedriges häusliches Anregungsniveau, da der Bildungshintergrund der Eltern häufig schwach ausgeprägt ist. Die meisten der in der KJA/ SPZ Neukölln betreuten Kinder kennen keine Rituale im Zusammenleben mit den Eltern und Geschwistern. Ein Zubettgeh-Ritual, gemeinsame Mahlzeiten in der Familie oder auch nur die simple Verabschiedung der Kinder durch die Eltern in der Kita sind vielen Kindern unbekannt. Hinzu kommt, dass die Ernährungssituation unzureichend ist. Viele Kinder stillen ihren Hunger mit Nahrungsmitteln, die sie sich selbst nach Bedarf aus dem Kühlschrank nehmen. Nicht selten haben Vorschulkinder ein völlig kariöses Gebiss, weil sie sich mehr oder weniger von Süßwaren ernähren. 5. Auswirkung der gestörten Eltern- Kind-Beziehung auf die kindliche Entwicklung Die hier skizzierten familiären Lebenswirklichkeiten sind als in hohem Maße verantwortlich zu sehen für die multiplen kindlichen Entwicklungsstörungen: Sprachentwicklungsstörungen, sensomotorische Entwicklungsstörungen, aber auch kognitive Entwicklungsdefizite sowie Störungen der sozialen und emotionalen Entwicklung lassen sich in der Diagnostik feststellen. Nicht selten zeigen diese Kinder z. B. in entwicklungspsychologischen Untersuchungen Werte, die denen einer geistigen Behinderung nahe kommen, auch weil das häusliche Anregungsniveau und Bildungswie auch Bindungsangebot für die kindliche Entwicklung zu dürftig ist. Die anregungsarme und bindungsunsichere Atmosphäre in den Familien gepaart mit sozialer Isolation führen zur unzureichenden Entwicklung der Kinder - auch auf kognitiver Ebene. Somit ist der zentrale Faktor zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Entwicklungsstörungen bei Kindern aus psychosozial belasteten Familien die Bindungsstörung zwischen Eltern und Kind. Hierunter fallen vor allem Bindungsstörungen durch verunsichernde, wenig Halt, Schutz und Raum bietende Familienstrukturen bis hin zu massiven frühkindlichen psychischen Traumata mit Kindesvernachlässigung und/ oder Kindesmisshandlung. Umfassendes Lernen und ganzheitliche Entwicklung des Kindes kann nur mit einem Mindestmaß an Sicherheit, Kontinuität, Fürsorge und Schutz bietender familiärer Bindung stattfinden. Nur auf dieser Basis kann ein Kind Autonomie, Eigenaktivität und damit Neugier zu entdecken und zu lernen entwickeln. Zurückweisung und fehlende Verlässlichkeit, die unsicher gebundene Kinder in frühem Alter erfahren, führen zu frühkindlichen Traumatisierungen. Aus der Neurobiologie ist FI 4/ 2008 Behinderte Kindheit 171 bekannt, dass diese Traumatisierungen über spezifische neuronale Verschaltungen im Gehirn negative Wahrnehmungs-, Verhaltens- und emotionale Reaktionsbereitschaften hervorrufen, die unbehandelt oft ein Leben lang bestehen bleiben und durch kleinste Auslöser immer wieder getriggert werden können. Verlässlichkeit und emotionale Präsenz der Bezugspersonen, Strukturen, Regeln und Rituale im Zusammenleben von Kind und Eltern - eben eine tragfähige Eltern-Kind- Beziehung - sind quasi das Geländer, an dem das Kind Stufe für Stufe die Entwicklungsleiter erklimmt. Fällt das Geländer weg oder ist es wackelig, weil der eben skizzierte, notwendige verlässliche Bindungsrahmen fehlt, kommt es beim Kind zu multiplen Entwicklungsstörungen. Bei den meisten der in der KJA/ SPZ Neukölln behandelten Kinder ist das Geländer instabil und wenig Halt bietend. So weisen diese Kinder dann auch erhebliche Entwicklungsdefizite auf und gelten als behindertes oder von Behinderung bedrohtes Kind, sowohl im Sinne des ICD 10, eines Diagnoseschlüssels als Voraussetzung zur Behandlung in einem SPZ, als auch des SGB (Sozialgesetzbuch). 6. Kindliche Behinderung als Folge familiärer psychosozialer Problematik - eine erweiterte Betrachtungsweise Im gesellschaftlichen Bild stellt Behinderung eine schicksalhafte Beeinträchtigung körperlicher, geistiger und seelischer Funktionen dar. Die Gesellschaft im Sinne einer Solidargemeinschaft sieht es als ihre Aufgabe, den Betroffenen und ihren Familien für die Auswirkung dieser ursächlich nicht zu vermeidenden Behinderungen größtmögliche Hilfestellungen anzubieten. Diese Behinderungsgruppe, auch und gerade die der Kinder, gibt es nach wie vor, die ihr zukommenden Hilfestellungen sind nicht infrage zu stellen. Infrage gestellt werden muss hingegen, ob das herkömmliche Hilfesystem für behinderte Kinder 1 : 1 übernommen werden kann für die Kinder, um die es hier geht: Kinder, deren Entwicklungsstörungen bzw. Behinderung zu einem großen Teil den psychosozial schwierigen Lebensbedingungen zuzuordnen sind. Es geht darum, zunächst die Sichtweise auf kindliche Behinderungen den gesellschaftlichen Veränderungen anzupassen. Kindliche Behinderungen sind nicht nur als gegeben zu betrachten, sondern viele Kinder werden in ihrer Entwicklung behindert durch die psycho-sozioökonomischen Lebensbedingungen, in denen sie aufwachsen. Das Kind in diesem Kontext ist mit seinen Entwicklungsstörungen im Wesentlichen nur Symptomträger, denn dem familiären Beziehungsnetz und der gesellschaftlichen Realität kommt eine maßgebliche Rolle zur Entstehung und Aufrechterhaltung der kindlichen Entwicklungsdefizite zu. 1 Für die Kinder bedeutet das in der Folge häufig Schulprobleme, fehlende Schulabschlüsse, Arbeitslosigkeit, Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen mit den daraus folgenden sozialen und gesellschaftlichen Problemen. Hiermit schließt sich der Kreis, es reift die nächste Generation, die wiederum die gleichen oder ähnliche Probleme wie ihre Eltern produziert. Dies zu unterbrechen kann und sollte auch Aufgabe in der Behandlung von entwicklungsgestörten Kindern und deren Familien sein. Fazit ist jedoch, dass viele dieser Kinder aus dem hier skizzierten Problemkreis mit ihren Entwicklungsstörungen durch das Integrationsgesetz des Berliner Senats und die Angebote der SPZs nicht nachhaltig veränderungswirksam erreicht werden können, weil die Therapieangebote fast ausschließlich kindzentriert sind und viel zu wenig die Veränderungsfähigkeit der Eltern fördern und einfordern. Vor diesen Beobachtungen die Augen zu verschließen bedeutet nicht nur einen enormen Kräfteverschleiß von Erziehern, Therapeuten, Sozialarbeitern und Lehrern. Denn 172 Antje Willms-Faß FI 4/ 2008 diese Berufgruppen können angesichts der komplexen Familienprobleme allein durch ihr berufliches Handeln bei der hier skizzierten Klientel kaum anhaltende Erfolge erzielen. Es bedeutet auch, die Kinder und Familien in ihrer umfassenden Bedürftigkeit nicht wahrzunehmen und ihre komplexe Problematik auf ein Kind mit Behinderung/ Entwicklungsverzögerung zu reduzieren. Weiter bedeutet es, die Augen vor der Tatsache zu verschließen, dass hier ein gesellschaftliches Problem von großer sozialer Sprengkraft immer deutlicher und größer wird und die Gesellschaft in Zukunft sozialpolitisch und finanziell noch sehr beschäftigen wird - psychosoziale Verelendung von Familien mit den daraus resultierenden Entwicklungsbehinderungen der Kinder. 7. Skizzenhafte Lösungsansätze zur konzeptionellen Neuorientierung von SPZs in sozialen Brennpunkten Diese Sicht auf kindliche Behinderungen als Folge ungünstiger familiärer Lebensbedingungen muss zwangsläufig Auswirkungen auf das konzeptionelle Denken in den beratenden und behandelnden Institutionen für Familien und Kinder in psychosozialen Brennpunkten haben. Wenn auch kindzentrierte Diagnostik und Therapie unverzichtbare Grundlage der Arbeit in der KJA/ SPZ ist, so kommt der Analyse familiärer Beziehungsstrukturen und Lebensbedingungen, also der Erfassung des gesamten familiären Beziehungsnetzes mit ihren psychosozialen Belastungsfaktoren eine ebenso wichtige Bedeutung zu. Unverzichtbare Grundlage für eine effektive Arbeit ist die Einrichtung von Sozialarbeiterstellen in den KJA/ SPZs. Darüber hinaus ist die Familientherapie als Ressourcen stärkende Intervention und systemstützende Maßnahme im Sinne einer positiven Beziehungsgestaltung zwischen Eltern und Kind ein weiterer gewichtiger Baustein der therapeutischen Arbeit. Dabei geht es in besonderem Maße um die Verhinderung der transgenerationalen Weitergabe von entwicklungshemmenden familiären Beziehungsmustern. Die Arbeit der KJA/ SPZ, einschließlich der integrativen Arbeit in den Kitas, muss darüber hinaus eingebunden werden in ein umfassendes Betreuungsnetz für psychosozial belastete Familien, wenn sie denn im Sinne der Kinder erfolgreich sein soll. Wie die Early Excellence Center 2 in England zeigen, haben Kitas dabei eine Schlüsselfunktion. Kitas als öffentliche Institution erreichen die Eltern zweimal täglich, beim Bringen und Abholen des Kindes. Kitas kommt hier eine immens wichtige Funktion zu: für viele Eltern stellt ihre Rolle als Vater und Mutter die einzige noch verbliebene Verbindung zur Gesellschaft dar. Als Arbeitsloser, Insolventer, psychisch Kranker, Migrant mit schlechtem Bildungshintergrund erleben sie sich häufig - und sind es de facto auch - als Außenseiter der Gesellschaft. Lediglich ihre Funktion als Vater oder Mutter sichert ihnen eine gewisse positiv besetzte Teilhabe an der Gesellschaft, gibt ihnen das Gefühl, in ihrer Elternrolle einen sozialen Stellenwert zu haben - auch dann, wenn sie ihrer Elternrolle nur unzureichend gerecht werden. Die MitarbeiterInnen von Kitas nehmen die Eltern nicht in erster Linie als Bedürftige wahr, sondern in ihrer Verantwortung und Kompetenz für ihr Kind. Hier liegt die große Chance, Eltern auf dieser aktiven Ebene zu erreichen. Für die Aufgabe, Eltern in ihrer Verantwortung für ihr Kind zu unterstützen und sie darüber hinaus so zu stärken und zu fordern, dass kleine Schritte in Richtung (Re-) Integration in die Gesellschaft möglich werden, könnten Kitas den zentralen Rahmen bieten. Sie könnten als niedrig schwellige Eintrittspforte für Eltern zu einem umfassenden Kontakt- und Hilfe-zur-Selbsthilfe-Angebot genutzt werden. FI 4/ 2008 Behinderte Kindheit 173 Dazu könnten z. B. niedrig schwellige Beratungsangebote in den Kitas zu Themen wie Erziehung, Schulden, Jobsuche, Gewalt in der Familie etc. durch entsprechendes Fachpersonal gehören, aber auch Angebote wie Sprachkurse, Kochkurse, angeleitete Spielgruppen für Eltern und Kind sowie die Vernetzung aller beteiligten Institutionen mit verbindlichem Casemanagement. Kita also nicht nur als ein Ort der pädagogischen Förderung von Kindern, sondern auch als ein Ort, um Eltern aus der Isolation zu holen. Dass dieser Gedanke nur umgesetzt werden kann bei entsprechender Personalaufstockung und Fort- und Weiterbildung, versteht sich von selbst. Wenn dann die Angebote der KJA/ SPZs in sozialen Brennpunktbezirken eingebunden wären in ein örtlich nahes Netz von (Selbst-) Hilfestellungen für Familien im Sinne von Armuts- und sozialer Verelendungsprävention, wäre ein wichtiger Schritt hin zu nachhaltiger Wirksamkeit bezüglich der Entwicklungsbehinderungen von Kindern getan. Die Erweiterung der Sicht auf kindliche Behinderungen hat nicht nur Auswirkungen auf die unmittelbare praktisch-therapeutische Arbeit der KJA/ SPZs, sondern macht auch ein stärkeres Engagement für bildungs- und familienpolitische Themen notwendig. Wenn wir kindliche Behinderung auch als Folge psychosozialer Unzulänglichkeiten in den Familien begreifen, so müsste z. B. massiver Protest laut werden angesichts der Tatsache, dass ab 2013 an Familien, die ihre Kinder nicht in eine Krippe geben, eine sog. Herdprämie gezahlt wird. Gerade in sozialen Brennpunkten wie Neukölln wird diese gesetzliche Neuregelung verheerende Auswirkungen auf die Entwicklung vieler Kinder haben. Ebenso kommen Kindergelderhöhungen oder Erhöhungen des Hartz-IV-Satzes für Kinder nicht auch automatisch den Kindern zugute. Dies wäre aber der Fall, wenn dieses Geld konsequent für kostenlose Kitas mit mehr und qualifizierterem Personal, ebenso für eine bessere personelle Ausstattung der Schulen, für kostenfreien Zugang zu Sportvereinen und Musikschulen etc. ausgegeben würde. Ebenso bedarf es eines Schulterschlusses von beratenden und therapeutischen Institutionen wie den KJA/ SPZs und der Familienpolitik zur Entwicklung von brauchbaren Instrumenten, um elterliches Sorgerecht auch praktikabel umzusetzen und einzufordern bzw. es zu entziehen. Darüber hinaus ergibt sich die Notwendigkeit zur Prävention. Die Behinderungen der Kinder, um die es hier geht, wären zu einem großen Teil vermeidbar, wenn frühpädagogisch und elternberatend quasi von Schwangerschaft und Geburt an gegengesteuert würde. Während das SPZ und das Integrationsgesetz des Berliner Senats erst greifen, wenn „das Kind schon in den Brunnen gefallen ist“, wäre gerade in sozialen Brennpunktgebieten wie Neukölln die Notwendigkeit geboten, frühzeitig, quasi von Anfang an, förderpädagogisch und begleitend für die Kinder und Familien tätig zu werden, um den Kindern und den Eltern einen Ausstieg aus der sozialen Eskalationsschleife zu bieten und ihnen wenigstens die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben in dieser Gesellschaft zu eröffnen. Anmerkungen 1 Diese Erkenntnis ist nicht neu, sondern wurde schon in den 70er und 80er Jahren im Zuge der Entwicklung des systemischen Denkens und therapeutischen Handelns in zahllosen Publikationen immer wieder benannt. 2 Early Excellence Center wurden erstmals 1997 in Großbritannien in sozialen Brennpunktgebieten gegründet. Hauptanliegen dieser Zentren ist, Kitas zu schaffen, die die pädagogische Arbeit mit Kindern verbinden mit der Einbeziehung der Familien im Sinne von Gesundheitsvorsorge, Beratung und Anleitung rund um Familienthemen und ihre gesellschaftliche Integration. Antje Willms-Faß, Dipl.-Psychologin KJA/ SPZ der Lebenshilfe gGmbH Britzer Damm 65 D-12347 Berlin E-Mail: antje@willms-fass.de
