eJournals Frühförderung interdisziplinär 27/1

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2008
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Mütter und Väter in der Frühförderung - Ressourcen, Stresserleben und Bedürfnisse aus der Perspektive der Eltern

11
2008
Andreas Eckert
Auf das persönliche Erleben des familiären Zusammenlebens mit einem entwicklungsauffälligen oder behinderten Kind nehmen zahlreiche Faktoren Einfluss, die sowohl innerhalb als auch außerhalb einer Familie angesiedelt sein können. Die Betrachtung von möglichen Stressoren, Ressourcen und individuellen Bedürfnissen als zentrale Faktoren in dieser besonderen Lebenssituation steht im Mittelpunkt des folgenden Artikels. Basierend auf den Ergebnissen einer Befragung von 55 Müttern und 20 Vätern von Kindern, die frühe Hilfen erhalten, werden sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede in der Bewertung der Ressourcen, des Stresserlebens und der Bedürfnisse untersucht. Abschließend werden mögliche Konsequenzen für die Praxis der Frühförderung betrachtet.
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Einleitung Eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Situation der Eltern ist sowohl aus dem praktischen Arbeitsfeld der Frühförderung als auch der wissenschaftlichen Diskussion rund um die Konzipierung früher Hilfen seit geraumer Zeit nicht mehr wegzudenken. Diese bildet eine zentrale Grundlage für ein besseres Verstehen familiärer Lebenskontexte und Handlungsweisen. Inhaltliche Schwerpunkte der Beschäftigung mit der Familie eines entwicklungsauffälligen oder behinderten Kindes sind in der Darstellung möglicher Besonderheiten in der familiären Lebensgestaltung, in der Untersuchung der Ressourcen von Familien, der Betrachtung des elterlichen Umgangs mit familiären Stressoren und der Analyse familiärer Bedürfnisse zu sehen (u. a. Eckert 2002, 2007 a; Engelbert 1999; Heckmann 2004; Hintermair 2002, 2003; Müller et. al. 2007; Speck 2003; Thimm & Wachtel 2003; Weiß 2007; Wilken & Jeltsch-Schudel 2003). Eine Erweiterung des Wissens über die komplexen Aspekte familiärer Lebenswirklichkeit bietet die Chance, die Leitidee der Familienorientierung zunehmend konkreter und adressatenorientierter in die Praxis früher Hilfen zu integrieren. Diese Gedanken aufgreifend werden im Folgenden Ergebnisse einer Befragung von Eltern junger Kinder, die Angebote früher Originalarbeiten Mütter und Väter in der Frühförderung - Ressourcen, Stresserleben und Bedürfnisse aus der Perspektive der Eltern AndreAs eckert Zusammenfassung: Auf das persönliche Erleben des familiären Zusammenlebens mit einem entwicklungsauffälligen oder behinderten Kind nehmen zahlreiche Faktoren Einfluss, die sowohl innerhalb als auch außerhalb einer Familie angesiedelt sein können. Die Betrachtung von möglichen Stressoren, Ressourcen und individuellen Bedürfnissen als zentrale Faktoren in dieser besonderen Lebenssituation steht im Mittelpunkt des folgenden Artikels. Basierend auf den Ergebnissen einer Befragung von 55 Müttern und 20 Vätern von Kindern, die frühe Hilfen erhalten, werden sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede in der Bewertung der Ressourcen, des Stresserlebens und der Bedürfnisse untersucht. Abschließend werden mögliche Konsequenzen für die Praxis der Frühförderung betrachtet. Schlüsselwörter: Mütter, Väter, Eltern, Ressourcen, familiäre Bedürfnisse, Bewältigung Mothers and Fathers in Early Childhood Intervention - Resources, Stress Factors and Needs from the Parents Perspective Summary: The sense of contentment within families with a child with special needs is influenced by several factors that may be located inside or outside the family. To analyse the meaningfulness of the factors stress, resources and individual needs in this specific living situation is the main focus of this article. Based on a description of the results of an empirical study in which 55 mothers and 20 fathers of young children with special needs answered questionnaires about stress factors, resources and needs in their personal lives, differences and similarities between parents will be presented and discussed. Finally practical consequences for early intervention will be identified. Keywords: Mothers, fathers, parents, resources, family needs, coping strategies Frühförderung interdisziplinär, 27. Jg., S. 3 - 10 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Hilfen in Anspruch nehmen, präsentiert. Dabei stehen die Aspekte der subjektiven Bewertung persönlicher Ressourcen, vorhandener Stressbelastungen und individueller Bedürfnisse aus der Perspektive der Mütter und Väter im Vordergrund. Abschließend erfolgt eine Auswertung der Ergebnisse hinsichtlich möglicher Ableitungen für eine familienorientierte Gestaltung früher Hilfen. Durchführung einer Elternbefragung Stichprobe Die Ergebnisdarstellung basiert auf einer Befragung von 55 Müttern und 20 Vätern entwicklungsauffälliger bzw. behinderter Kinder im Frühförderalter. Die Untersuchung bildet einen Bestandteil des Forschungsprojektes „Ressourcen und Bedürfnisse im familiären Leben mit einem behinderten Kind - aus der Perspektive der Eltern“ (Eckert 2006), in dessen Kontext Erfahrungen, Einstellungen und Wünsche von insgesamt 223 Müttern und Vätern mit Kindern im Alter bis 20 Jahre anhand von drei Fragebögen betrachtet wurden. Die an der Untersuchung teilnehmenden Personen wurden über einen schriftlichen Aufruf sowohl auf den Homepages mehrerer Elternvereinigungen als auch innerhalb von Fachmagazinen gewonnen. Tabelle 1 sind die personenbezogenen Daten der Stichprobe zu entnehmen. Untersuchungsinstrumente Bei den eingesetzten Untersuchungsinstrumenten handelt es sich um den „Fragebogen zur Bedürfnislage von Eltern behinderter Kinder (FBEBK)“ (Eckert 2007 b), den Fragebogen zur „Sozialen Orientierung von Eltern behinderter Kinder (SOEBEK)“ (Krause & Petermann 1997) sowie den „Fragebogen zur Lebensorientierung“ (Antonovsky 1997). Im Vordergrund des ersten Instrumentes steht die Erfassung elterlicher Bedürfnisse in Bezug auf personelle und institutionelle Unterstützung. Anhand von 34 Items werden in diesem Fragebogen subjektiv bewertete Bedürfnisse der Eltern nach Information, Beratung, Entlastung sowie Kontakt und Kommunikation in der besonderen familiären Lebenssituation mit einem behinderten Kind abgefragt (Eckert 2007 b). Der zweite Fragebogen von Krause und Petermann (1997) stellt ein normiertes und Tabelle 1: Personenbezogene Daten der Elternbefragung Geschlecht der eltern Mütter Väter 55 (73,3 %) 20 (26,7 %) Familienstatus gemeinsam allein der eltern erziehend erziehend erziehend 70 (93,3 %) 5 (6,7 %) 5 (6,7 %) %) %) Alter der eltern unter 30 �. 30 -39 �ahre über �0 �. � unter 30 �. 30 -39 �ahre über �0 �. �� 5 (6,8 %) �3 (58,1 %) 26 (35,1 %) 37,�3 �ahre 37,�3 �ahre Mitglied elternverein �a nein k. A. �a nein k. A. k. A. 52 (69,3 %) 22 (29,3 %) 1 (1,� %) %) 22 (29,3 %) 1 (1,� %) %) 22 (29,3 %) 1 (1,� %) %) 1 (1,� %) %) 1 (1,� %) 1 (1,� %) Alter des 0 - 2 �ahre 3 - � �ahre 5 - 7 �ahre � geförderten kindes 10 (13,3 %) 2� (32 %) �1 (5�,7 %) �,3� �ahre Geschwisterkinder keine 1 2 und mehr � keine 1 2 und mehr � 20 (26,7 %) 38 (50,7 %) 17 (22,6 %) 1,11 %) 38 (50,7 %) 17 (22,6 %) 1,11 %) 38 (50,7 %) 17 (22,6 %) 1,11 %) 17 (22,6 %) 1,11 %) 17 (22,6 %) 1,11 %) 1,11 %) 1,11 kindergartenbesuch Heilpäd. Integrativer anderer aktuell kein Kindergarten Kindergarten Kindergarten Kindergarten 22 (29,3 %) 28 (37,3 %) 9 (12 %) 16 (21,3 %) %) 28 (37,3 %) 9 (12 %) 16 (21,3 %) %) 28 (37,3 %) 9 (12 %) 16 (21,3 %) %) 9 (12 %) 16 (21,3 %) %) 9 (12 %) 16 (21,3 %) %) 16 (21,3 %) %) 16 (21,3 %) 16 (21,3 %) � Andreas Eckert FI 1/ 2008 bereits vielfach erprobtes Instrument zur Erfassung des Bewältigungsverhaltens von Eltern behinderter Kinder auf der Basis von Selbsteinschätzungen dar (u. a. Sarimski 2001; Hintermair 2002; Kissgen 2004; Wagatha 2006). 59 Items, die den Skalen „Intensivierung der Partnerschaft“, „Nutzung sozialer Unterstützung“, „Fokussierung auf das behinderte Kind“, „Selbstbeachtung/ Selbstverwirklichung“, „Stressbelastung“ sowie „Zufriedenheit mit sozialer Unterstützung“ zugeordnet werden, thematisieren komplexe Fragestellungen des persönlichen Bewältigungsverhaltens. Das dritte Untersuchungsinstrument bildet der von Antonovsky (1997) im Kontext seines Konzeptes der Salutogenese entwickelte, von Franke (1997) in die deutsche Sprache übertragene „Fragebogen zu Lebensorientierung“, der eine Operationalisierung des Kohärenzgefühls (Sense of Coherence - SOC) als personale Basisressource beinhaltet. In der sozialwissenschaftlichen und psychologischen Diskussion hat sich dieser Fragebogen in zahlreichen Untersuchungen der letzten beiden Jahrzehnte als hilfreiches Instrument zur Analyse personaler Ressourcen bewährt (u. a. Franke 1997; Bengel 2002; Hintermair 2002; Wydler et al. 2002). Ergebnisse Im Vordergrund der Auswertung der gewonnenen Informationen steht die Gegenüberstellung benannter Gemeinsamkeiten und Unterschiede im subjektiven Erleben von Müttern und Vätern. Betrachtet werden primär geschlechtsspezifische Unterschiede in der Beschreibung und Bewertung familieninterner Ressourcen, in der Wahrnehmung und Bewertung der aktuellen Lebenssituation sowie in der Benennung von subjektiven Bedürfnissen in Bezug auf personelle und institutionelle Unterstützung. Unterschiede hinsichtlich der Ressourcen, des Stresserlebens und der persönlichen Bedürfnisse aus der Sicht der Mütter und Väter Auf einen ersten Blick deutet die Auswertung der Skalen der drei einbezogenen Fragebögen auf zahlreich zu beobachtende Unterschiede zwischen Müttern und Vätern hin. Die Betrachtung der Häufigkeit auffällig niedriger (Prozentrang unter 25 %) und hoher (Prozentrang über 75 %) Skalenwerte zeigt sowohl bei der persönlichen Ressource des Kohärenzgefühls, als auch in der Stressbelastungsskala des SOEBEK und dem Gesamtwert des Fragebogens zur Bedürfnislage von Eltern behinderter Kinder eine klare Ungleichverteilung zwischen Müttern und Vätern auf (Tabelle 2). Der Auswertung des Fragebogens zur Lebensorientierung zufolge schätzen beispielsweise doppelt so viele Mütter wie Väter ihr Kohärenzgefühl als gering ein. Dieser Tendenz entsprechend ist die Häufigkeit eines hohen Kohärenzgefühls bei den Vätern häufiger vorzufinden. Noch deutlicher sind die geschlechtsspezifischen Unterschiede im persönlichen Stresserleben. Der Anteil der Mütter, die einen niedriger Wert niedriger Wert Hoher Wert Hoher Wert (< 25 %) (< 25 %) (> 75 %) (> 75 %) Mütter Väter Mütter Väter kohärenzgefühl (sOc) 30,9 % 15 % 23,6 % 35 % 30,9 % 15 % 23,6 % 35 % % 15 % 23,6 % 35 % % 15 % 23,6 % 35 % % 23,6 % 35 % % 23,6 % 35 % % 35 % % 35 % %% stressbelastungsskala (sOeBek) 23,6 % �5 % 16,� % 5 % Bedürfniswert (FBeBk) 10,9 % 35 % 32,7 % 10 % % 35 % 32,7 % 10 % % 35 % 32,7 % 10 % % 32,7 % 10 % % 32,7 % 10 % 32,7 % 10 % Tabelle 2: Skalenwerte Mütter und Väter (Quartile) FI 1/ 2008 Mütter und Väter in der Frühförderung 5 hohen Wert in der Stressbelastungsskala des SOEBEK aufweisen, liegt dreimal so hoch wie der der Väter. Einen niedrigen Wert weisen nur knapp ein Viertel der Mütter, jedoch 45 % der Väter auf. Ähnlich hoch sind die Unterschiede in der Darstellung der mit dem FBEBK ermittelten Bedürfniswerte. Hier zeigen sich bei einem Drittel der Mütter überdurchschnittlich hohe sowie bei 10 % niedrige Bedürfniswerte, während die prozentuale Verteilung bei den Vätern genau umgekehrt ist. Zusammenfassend lassen sich diesen Zahlen folgend erste Ergebnisse bezüglich möglicher Unterschiede zwischen Müttern und Vätern benennen, die durch folgende Aussagen gekennzeichnet werden können: - Väter schätzen ihre persönlichen Ressourcen im Umgang mit herausfordernden Situationen tendenziell höher ein als Mütter (Kohärenzgefühl). - Mütter beschreiben in der familiären Situation mit ihrem behinderten Kind ein deutlich höheres Stresserleben als Väter (Skala STR/ SOEBEK) - Mütter benennen spezifische Bedürfnisse in der besonderen Lebenssituation generell in einem wesentlich höheren Maß als Väter (FBEBK). Parallel zu den dargestellten geschlechtsspezifischen Unterschieden zeigt sich in den Untersuchungsergebnissen jedoch auch, dass es in mehreren der betrachteten Bereiche keine oder nur geringfügige Unterschiede zwischen Vätern und Müttern gibt. So weisen beispielsweise die Mütter in den SOEBEK-Skalen „Fokussierung auf das behinderte Kind (FBK)“ und „Nutzung der sozialen Unterstützung (NSU)“ höhere Werte als die Väter auf, deren Differenzen jedoch gering und nicht signifikant sind. Ähnlich verhält es sich mit den Skalen „Selbstbeachtung/ Selbstverwirklichung (SEL)“ und „Intensivierung der Partnerschaft (EHE)“, bei denen die Väter geringfügig höhere Werte aufzeigen. Weitere nicht signifikante Unterschiede zeigen sich bezüglich zweier Unterskalen des Fragebogens zur Bedürfnislage von Eltern behinderter Kinder. Wenngleich der Gesamtwert des FBEBK auf deutlich höhere Bedürfnisäußerungen der Mütter hinweist, lassen sich in den Skalen der Entlastungssowie der Informationsbedürfnisse nur minimale Unterschiede zwischen Müttern und Vätern beobachten. Im Folgenden sollen nun ergänzend inhaltlich relevante und aussagekräftige Einzelergebnisse der Untersuchung dargestellt werden: Mütter beschreiben ihre allgemeine Erschöpfung als ausgeprägter Wie sich bereits aus den höheren Werten in der Stressbelastungsskala ableiten lässt, scheinen die Mütter deutlich stärker als die Väter von Tabelle 3: Mittelwertunterschiede (T-Test) auf der Ebene der Skalenbzw. Gesamtwerte der Fragebögen ***p < 0,01, **p < 0,05, *p < 0,1 Levene-test t-test F P t df p sOeBek skala FBk 1,61 ,20 2,05 73 ,0��** sOeBek skala nsU ,13 ,72 2,25 73 ,027** sOeBek skala eHe 5,18 ,026 -2,03 71 ,0�6** sOeBek skala str 2,09 ,15 2,35 73 ,022** sOeBek skala seL 1,30 ,26 -,85 73 ,397 sOc ,123 ,73 -1,32 73 ,191 FBeBk gesamt ,88 ,35 2,15 73 ,035** 6 Andreas Eckert FI 1/ 2008 den Anstrengungen im familiären Alltag betroffen zu sein. Die primäre Verantwortungsübernahme für den innerfamiliären Bereich mit all seinen Aufgaben stellt auch in der Gegenwart ein Charakteristikum der Mütterrolle dar, häufig neben erwünschter oder erforderlicher Berufstätigkeit (Hirchert 2005), und kann gerade in der besonderen Lebenssituation mit einem entwicklungsauffälligen oder behinderten Kind zu zusätzlichen Anforderungen führen. Tatsächlich unterscheidet sich der Wert der Mütter im Einzelitem zur Selbsteinschätzung der allgemeinen Erschöpfung im SOEBEK hoch signifikant von dem der Väter (p = ,000***). Die von den Müttern hoch bewertete allgemeine Erschöpfung lässt zugleich einen vorhandenen Entlastungsbedarf schlussfolgern. Mütter betonen persönliche Bedürfnisse ausdrücklicher als Väter Bei der Auswertung des Fragebogens zur Bedürfnislage von Eltern behinderter Kinder lassen sich, zusätzlich zu den nahezu durchgehend zumindest geringfügig höheren Bedürfniswerten bei den Einzelitems, zwei Bedürfnisbereiche als signifikant verschieden hervorheben. Dabei handelt es sich zum einen um die Ebene der Beratungsbedürfnisse (p = ,020**), zum anderen um die Ebene der Kommunikations- und Kontaktbedürfnisse (p = ,014**), bei denen die Mütter jeweils deutlich höhere Werte angaben. Mütter scheinen diesen Ergebnissen zufolge stärker ausgeprägte Bedürfnisse hinsichtlich der Nutzung von persönlichen Beratungsangeboten sowie einer positiven und reflektierten Gestaltung des Kontaktes und der Kommunikation, in erster Linie zu Fachleuten, zu haben. Aussagen, die von den Müttern im Vergleich zu den Vätern signifikant höher bewertet wurden, beinhalten auf der Ebene der Beratungsbedürfnisse zum einen den Wunsch nach einer pädagogischen, förderungsbegleitenden Beratung, zum anderen nach einer psychosozialen Beratung, in der persönliche Sorgen und Gefühle thematisiert werden können. Auf der Ebene der Kontakt- und Kommunikationsbedürfnisse ist der Wunsch nach einem partnerschaftlichen Kontakt zu Fachleuten sowie der Einbeziehung in die Betreuung und Förderung des Kindes als kompetente Ansprechpartner bei den Müttern deutlicher ausgeprägt. Als einziges Item, bei dem die Väter signifikant höhere Bedürfniswerte angaben, lässt sich schließlich der Wunsch nach zeitlich befristeten außerfamiliären Betreuungsangeboten für das Kind (z. B. in der Form einer Kurzzeitunterbringung) benennen (Item 16, p = ,024**). Tabelle 4: Mittelwertunterschiede (T-Test) auf der Ebene der Skalen des Fragebogens zur Bedürfnislage von Eltern behinderter Kinder ***p < 0,01, **p < 0,05, *p < 0,1 Levene-test t-test F P t df p FBeBk Informationsbedürfnisse ,21 ,65 1,3� 73 ,191 FBeBk Beratungsbedürfnisse ,0� ,8� 2,39 73 ,020** FBeBk entlastungsbedürfnisse ,25 ,62 ,87 73 ,389 FBeBk kontakt- und kommunikationsbedürfnisse 2,68 ,11 2,53 73 ,01�** FI 1/ 2008 Mütter und Väter in der Frühförderung 7 Mütter und Väter beschreiben unterschiedliche Kraft gebende Quellen im Alltag Der Blick auf Kraft gebende Momente im familiären Alltag ermöglicht zum einen eine differenzierte Auseinandersetzung mit den individuellen Ressourcen der Familienmitglieder und kann zum anderen vorhandene Bedürfnisse als Grundlage für unterstützende Angebote aufdecken. Basierend auf einer offenen Frage zu dieser Thematik im SOEBEK (Frage 57: „Woraus schöpfen Sie zur Zeit die meiste Kraft für ihren Alltag? “) wurden in der Auswertung auf inhaltsanalytischer Basis Kategorien gebildet, denen die Aussagen der Mütter und Väter zugeordnet wurden. Tabelle 5 gibt einen Überblick über die gewonnenen Ergebnisse. Zur Verdeutlichung der Kategorienbildung befinden sich in Klammern häufiger benannte Beispieläußerungen. Grundsätzlich scheint es den Müttern (Ø 2,7 Nennungen) leichter als den Vätern (Ø 1,7 Nennungen) zu fallen, Kraftquellen zu benennen und diese auf weiter gefächerte Lebensbereiche zu verteilen. Die primären Kraftquellen stellen dabei sowohl für die Mütter als auch die Väter die Lebensbereiche Familie und Hobbys dar. Die Geschlechterverteilung von ~3 : 1 (Mütter : Väter) in der Probandengruppe berücksichtigend lassen sich in der Gewichtung mehrerer Bereiche gleichzeitig deutliche Unterschiede zwischen Müttern und Vätern beobachten. So sticht besonders ins Auge, dass die Bereiche Erholung, außerfamiliäre Kontakte und persönliche Überzeugungen von den Vätern nahezu unberücksichtigt bleiben und gleichzeitig mehr als 50 % ihrer Nennungen der Familie zugeteilt werden, deren zentraler Stellenwert als Kraftquelle aus Vätersicht damit deutlich hervorgehoben wird. Die Mütter sprechen demgegenüber, ergänzend zur Bedeutung der Familie, ihren Hobbys, den außerfamiliären Kontakten sowie ihren persönlichen Überzeugungen einen hohenStellenwert zu. Mit Blick auf das bereits erwähnte Erschöpfungserleben wird zudem die unmittelbare Erholung als Kraft gebend benannt. Väter benennen eine signifikant höhere Zufriedenheit mit der praktischen und emotionalen Unterstützung innerhalb der Partnerschaft Die hohe Bedeutung des familiären Zusammenhalts aus Sicht der Väter findet sich schließlich auch in der bewerteten Zufriedenheit der Mütter und Väter mit der praktischen und emotionalen Unterstützung durch ihre Partner wieder. So zeigen sich hoch signifikante Unterschiede in der geschlechtsspezifischen Bewertung der erlebten Unterstützung in der Form, dass die Väter deutlich zufriedener sowohl mit der emotionalen als auch der praktischen Unterstützung durch ihre Partnerinnen sind, als dies umgekehrt der Fall Tabelle 5: Kraftgebendes im Alltag (Mehrfachnennungen möglich) Mütter Väter 55 (73,3 %) 20 (26,7 %) erholung (Schlafen, freie Zeit, Entspannung etc.) 10 0 Familie (Familiärer Zusammenhalt, Partnerschaft, Kinder etc.) 52 18 Außerfamiliäre kontakte (Freunde, Nachbarschaft, Selbsthilfe etc.) 18 1 Beruf 11 3 Hobbys (Sport, Garten, Musik, etc.) �3 10 Persönliche Überzeugungen (Glaube, positives Denken etc.) 15 2 nennungen insgesamt 1�9 (� 2,7) 3� (� 1,7) 8 Andreas Eckert FI 1/ 2008 ist (p = ,000***). Bei im Vergleich zur Normierungsstichprobe von Krause und Petermann (1997) bei beiden Geschlechtern relativ hohen Zufriedenheitswerten lassen sich die Unterschiede wahrscheinlich weniger durch die aktuelle Stichprobenauswahl als vielmehr durch das komplexe Zusammenspiel der unterschiedlichen Geschlechterrollen und -erwartungen sowie den mit diesen verbundenen Aufgaben im familiären Alltag erklären. Die unterschiedlichen Sichtweisen und Erwartungen produktiv zu nutzen, kann im Bedarfsfall eine mögliche Aufgabe in einem Beratungskontext darstellen. Fazit und Ausblick Eine differenzierte Betrachtung der Ressourcen, des Stresserlebens und der Bedürfnisse von Eltern entwicklungsauffälliger oder behinderter Kinder kann Fachleuten in der Frühförderung auf unterschiedlichen Ebenen wichtige Informationen und Hilfestellungen geben. So kann diese im konkreten Fall der Familienberatung das Verstehen einer Familie, ihrer aktuellen Lebensgestaltung und angestrebten Zukunftsgestaltung erleichtern und eine Passung professioneller Angebote an die einzelne Familie unterstützen. Über die Beratungsarbeit hinausgehend bietet die Auseinandersetzung mit den Ressourcen, dem Stresserleben und den Bedürfnissen von Eltern entwicklungsauffälliger oder behinderter Kinder die Möglichkeit, durch ein erweitertes Wissen Praxisangebote früher Hilfen individueller bzw. familienorientierter zu konzipieren. Die in der aktuellen Fachliteratur verstärkt erfolgte Hervorhebung unterschiedlicher Bewältigungs- und Umgangsformen von Müttern und Vätern in der besonderen Lebenssituation (u. a. Wagatha 2006; Fröhlich 2007) stützt diese Sicht. Frühe Hilfen, die aufgrund ihrer traditionell zentralen Mütterorientierung vielfach den Charakter einer primär „weiblichen Frühförderung“ (Fröhlich 2007, S.104) aufweisen, sollten sich in der Gegenwart gesteigert den individuellen Bedürfnissen einer heterogenen Adressatengruppe, unter Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Gemeinsamkeiten, öffnen. Die dargestellten Untersuchungsergebnisse beinhalten in diesem Sinne Anregungen für eine verstärkte Beachtung möglicher Besonderheiten, Unterschiede und spezifischer Bedürfnisse von Müttern und Vätern, denen Fachleute in der praktischen Arbeit begegnen können. So können die auf eine erhöhte Stressbelastung und Erschöpfung bei den Müttern hinweisenden Ergebnisse beispielsweise einen Handlungsbedarf im Bereich familienentlastender bzw. -unterstützender Angebote im frühen Kindesalter aufzeigen. Gemeinsam mit den Müttern in der Beratungssituation die Möglichkeiten einer individuell adäquaten Entlastung zu erarbeiten, kann in diesem Sinne als eine Form mütterorientierter Unterstützung durch Fachleute in der Frühförderung gesehen werden. Verbunden ist dies mit der Bereitschaft der beratenden Personen, einen besonderen Blick auf den Aspekt der Selbstbeachtung der Mütter zu werfen. Berücksichtigung erfahren sollte neben dieser Fokussierung auf spezifische Aspekte der Begleitung der Mütter selbstverständlich der Gedanke der Nutzung der Paarbeziehung als wichtiger Ressource, sowohl im Beratungskontext als auch im unmittelbaren familiären Alltag. Die besonders von den Vätern hervorgehobene Bedeutsamkeit des familiären Zusammenhalts als Kraftquelle kann einer Aufmerksamkeit für die Gestaltung gelingender Familienaktivitäten trotz erschwerter Ausgangsbedingungen auch in der Beratungssituation eine hohe Bedeutung zusprechen. Eine weitere wichtige Aufgabe der Beratung in der Frühförderung erhält den Untersuchungsergebnissen zufolge die vertiefte Auseinandersetzung mit den individuellen Bedürfnissen und Ressourcen der Mütter und Väter. Die Hervorhebung der Beratungsbe- FI 1/ 2008 Mütter und Väter in der Frühförderung 9 dürfnisse sowie der Kommunikations- und Kontaktbedürfnisse durch die befragten Mütter kann beispielsweise auf einen erhöhten Bedarf an Gesprächsangeboten sowohl im Kontakt zu Fachleuten als auch zu anderen Müttern hinweisen, der von den Vätern benannte Wunsch nach familienexternen Entlastungsangeboten die Auseinandersetzung mit bestehenden Angeboten anregen. Den Gedanken der Ressourcendiagnostik (Hintermair & Tsirigotis 2004) berücksichtigend sollte Frühförderung schließlich anstreben, die Ressourcen sowohl der Mütter als auch der Väter im Einzelfall wahrzunehmen, aufzudecken sowie deren Nutzung, u. a. durch die Reflexion persönlicher Stärken oder die Bereitstellung bzw. gemeinsame Entwicklung von Freiräumen für Kraftgebendes im häufig anstrengenden familiären Alltag, zu unterstützen. Literatur Antonovsky, A. (1997): Salutogenese. Tübingen Bengel, J. (2002): Was erhält Menschen gesund? Antonovskys Modell der Salutogenese - Diskussionsstand und Stellenwert. Köln Eckert, A. (2002): Eltern behinderter Kinder und Fachleute. Erfahrungen, Bedürfnisse und Chancen. Bad Heilbrunn Eckert, A. (2006): Aus der Forschung: Ressourcen und Bedürfnisse im familiären Leben mit einem behinderten Kind - aus der Perspektive der Eltern. In: Geistige Behinderung. Heft 4, S. 355 - 357 Eckert, A. (2007 a): Familien mit einem behinderten Kind - zum aktuellen Stand der wissenschaftlichen Diskussion. In: Behinderte Menschen. Heft 1, S. 40 - 53 Eckert, A. (2007 b): Der FBEBK (Fragebogen zur Bedürfnislage von Eltern behinderter Kinder) - Konstruktion und Erprobung eines Instrumentes zur Erfassung elterlicher Bedürfnisse in Bezug auf personelle und institutionelle Unterstützung In: Heilpädagogische Forschung. Heft 2, S.50 - 63 Engelbert, A. (1999): Familien im Hilfenetz. Bedingungen und Folgen der Nutzung von Hilfen für behinderte Kinder. Weinheim Franke, A. (1997): Zum Stand der konzeptionellen und empirischen Entwicklung des Salutogenesekonzepts. In: Antonovsky, A.: Salutogenese. Tübingen, S. 169 - 190 Fröhlich, A. (2007): Die Einsamkeit des Vater-Seins. In: Frühförderung interdisziplinär. Heft 3. S.99 - 106 Heckmann, C. (2004): Die Belastungssituation von Familien mit behinderten Kindern. Soziales Netzwerk und professionelle Dienste als Bedingungen für die Bewältigung. Heidelberg Hintermair, M. (2002): Kohärenzgefühl und Behinderungsverarbeitung: Eine empirische Studie zum Belastungs- und Bewältigungserleben hörgeschädigter Kinder Hintermair, M. (2003): Das Kohärenzgefühl von Eltern stärken - eine psychologische Aufgabe in der pädagogischen Frühförderung. In: Frühförderung interdisziplinär 22, S.61 - 70 Hintermair, M. & Tsirigotis, C. (2004): Ressourcendiagnostik in der Hörgeschädigtenpädagogik. In: HÖRPÄD, S. 186 - 195 Hirchert, A. (2005): Zur familialen und beruflichen Situation von Müttern behinderter Kinder. In: Geistige Behinderung, 44. Jahrgang, S.321 - 336 Kissgen, R. (2004): Bindung, motorische Entwicklung und das Erleben der familiären Situation durch die Eltern im 12. Monat des Kindes. In: Ettrich, K. U. (Hrsg.): Bindungsentwicklung und Bindungsstörungen. Stuttgart, S. 33 - 43 Krause, M. & Petermann, F. (1997): Soziale Orientierungen von Eltern behinderter Kinder (SOEBEK) Göttingen Müller, B., Hornig, S. & Retzlaff, R. (2007): Kohärenz und Ressourcen in Familien von Kindern mit Rett- Syndrom. In: Frühförderung interdisziplinär, 26. Jahrgang, S. 4 - 14 Sarimski, K. (2001): Zur Validität des Fragebogens zur Beurteilung der „Sozialen Orientierung von Eltern behinderter Kinder“ (SOEBEK). In: Frühförderung interdisziplinär 20, S. 13 - 19 Speck, O. (2003 a 5 ): System Heilpädagogik. München Thimm, W. & Wachtel, G. (2002): Familien mit behinderten Kindern. Weinheim Wagatha, P. (2006): Partnerschaft und kindliche Behinderung. Eine empirische Untersuchung mit Implikationen für die Beratungspraxis. Hamburg Weiß, H. (2007): Was brauchen kleine Kinder und ihre Familien? In: Frühförderung interdisziplinär. Heft 2. S. 78 - 86 Wilken, U. & Jeltsch-Schudel, B. (2003): Eltern behinderter Kinder. Empowerment - Kooperation - Beratung. Stuttgart Wydler, H., Kolip, P. & Abel, T. (2002): Salutogenese und Kohärenzgefühl. Weinheim dr. paed. Andreas eckert Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Lehrstuhl für Allgemeine Heilpädagogik Frangenheimstraße � a D-50931 Köln E-Mail: andreas.eckert@uni-koeln.de 10 Andreas Eckert FI 1/ 2008