Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2008
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Das Modellprojekt "Pro Kind" und seine Verortung in der Landschaft früher Hilfen in Deutschland
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2008
Tanja Jungmann
Vivien Kurtz
Tilman Brand
Viele Eltern und Kinder mit hohen psychosozialen Belastungen befinden sich in äußerst schwierigen Lebensverhältnissen. Nicht selten können solche Umstände zu Überforderungen und Krisen sowie in Folge zu Entwicklungsgefährdungen für Kinder führen. Ziel des vorliegenden Artikels ist es, zunächst eine Gegenstandsbestimmung sozialer Benachteiligung vorzunehmen, um einen frühen Handlungsbedarf bei Eltern und Kindern in diesen schwierigen Lebensumständen zu verdeutlichen. Im Anschluss daran erfolgt eine kurze Beschreibung des Modellprojektes "Pro Kind" und seine Einordnung in die Landschaft bereits bestehender früher Hilfsangebote in Deutschland, die sich an den vom Deutschen Jugendinstitut e.V. (DJI, Helming, Sandmeir, Sann & Walter, 2006) gewählten Dimensionen Struktur, Konzept und Verfahren orientiert. Vor diesem Hintergrund werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen "Pro Kind" und anderen Modellen und Projekten herausgearbeitet. Abschließend werden erste Ergebnisse zum Stand der Akquise und Risikobelastung der Zielgruppe des Modellprojektes "Pro Kind" dargestellt.
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Frühförderung interdisziplinär, 27. Jg., S. 67 - 78 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Das Modellprojekt „Pro Kind“ und seine Verortung in der Landschaft früher Hilfen in Deutschland Tanja jungmann, ViVien KurTz, Tilman Brand Zusammenfassung: Viele Eltern und Kinder mit hohen psychosozialen Belastungen befinden sich in äußerst schwierigen Lebensverhältnissen. Nicht selten können solche Umstände zu Überforderungen und Krisen sowie in Folge zu Entwicklungsgefährdungen für Kinder führen. Ziel des vorliegenden Artikels ist es, zunächst eine Gegenstandsbestimmung sozialer Benachteiligung vorzunehmen, um einen frühen Handlungsbedarf bei Eltern und Kindern in diesen schwierigen Lebensumständen zu verdeutlichen. Im Anschluss daran erfolgt eine kurze Beschreibung des Modellprojektes „Pro Kind“ und seine Einordnung in die Landschaft bereits bestehender früher Hilfsangebote in Deutschland, die sich an den vom Deutschen Jugendinstitut e.V. (DJI, Helming, Sandmeir, Sann & Walter, 2006) gewählten Dimensionen Struktur, Konzept und Verfahren orientiert. Vor diesem Hintergrund werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen „Pro Kind“ und anderen Modellen und Projekten herausgearbeitet. Abschließend werden erste Ergebnisse zum Stand der Akquise und Risikobelastung der Zielgruppe des Modellprojektes „Pro Kind“ dargestellt. Schlüsselwörter: Prävention, Frühe Förderung, Empowerment, Soziale Benachteiligung, Modellprojekt Pro Kind The Pilot Project “Pro Kind” and its Placement in the Scene of Early Support Services in Germany Summary: Many high-risk families are living under extremely difficult conditions. These conditions may often lead to excessive demands and crises for these parents followed by developmental problems concerning their children. At first, the present contribution gives a definition of social disadvantage to highlight the urgent need for early support. Against this background, a brief description of the pilot project “Pro Kind” is given. According to the dimensions structure, concept and proceeding purported by the German Youth Institute (Helming, Sandmeir, Sann & Walter, 2006) the placement of “Pro Kind” in the scene of early support services in Germany is conducted. Mutualities and differences between “Pro Kind” and other (pilot) projects in the realm of early support are discussed. Finally, first results concerning the recruitment and retention as well as the distribution of risk factors in the target group of the project “Pro Kind” are presented. Keywords: Prevention, early support, empowerment, social disadvantage, pilot project “Pro Kind” Viele Mütter und Väter sind heute oftmals mit ihrer Erziehungsaufgabe überfordert und auf sich selbst gestellt. Unterstützungssysteme wie die Herkunftsfamilie oder die nachbarschaftliche Gemeinschaft, die bei der Bewältigung von kleineren und größerenAlltagsproblemen bis hin zu Krisen helfen können, sind häufig nicht verfügbar oder erfüllen diese Funktion nicht mehr. Vielfache Belastungen, z. B. Armut, soziale Isolation, das Fehlen von unterstützenden Netzwerken oder ihre mangelnde Unterstützungsqualität, ungewollte Schwangerschaft, Sucht, eigene Deprivations- oder gar Missbrauchserfahrungen, anhaltende Paarkonflikte, ein „schwieriges“ Temperament des Kindes oder gar seine Behinderung, können Eltern überfordern. Sie alle stellen Risikofaktoren für das Entstehen von Vernachlässigung und sozialer Benachteiligung eines Kindes dar. Der beste Weg, Kinder vor den negativen Auswirkungen dieser Risikofaktoren zu schützen, sind unbestritten die frühe Erkennung eines Hilfebedarfs und ein speziell auf diesen Bedarf zugeschnittenes frühes Hilfsangebot. Frühe Hilfen setzen im besten Falle an, bevor ungünstige Entwicklungsverläufe entstanden sind (primäre Prävention), spätestens aber bevor sich diese stabilisiert und somit chronifiziert haben (sekundäre Prävention) (vgl. Beelmann, 2006). 68 Tanja Jungmann et al. FI 2/ 2008 Die Forderung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) nach einer Stärkung des Schutzauftrags der staatlichen Gemeinschaft durch präventive Maßnahmen hat in den letzten Jahren ihren Niederschlag in zahlreichen Modellen und Projekten der Länder und Kommunen gefunden (für eine Übersicht und Kurzevaluation dieser frühen Hilfen siehe Helming, Sandmeir, Sann & Walter, 2006). Eines dieser Projekte ist das Modellprojekt „Pro Kind - Wir begleiten junge Familien“, das in fünf niedersächsischen Kommunen im November 2006 in seine Hauptphase gestartet ist, gefolgt von weiteren Umsetzungsstandorten in Bremen, Bremerhaven sowie Sachsen im Frühjahr und Herbst 2007. 1. Soziale Benachteiligung - Eine Gegenstandsbestimmung Nach Schlack (2004) liegt soziale Benachteiligung dann vor, wenn seelische und körperliche Grundbedürfnisse wegen ungünstiger äußerer Lebensbedingungen nicht oder nur unzureichend befriedigt sind und dadurch Gesundheit und Entwicklung beeinträchtigt werden. Soziale Benachteiligung wird demnach nicht allein durch einen niedrigen sozioökonomischen Status, bestimmt durch z. B. geringes Einkommen und/ oder geringe Bildung, erklärt, sondern ist vor allem auch Folge von Mängeln der primären Sozialisation und entspricht somit laut der Definition von Schlack (2004) weitgehend dem Begriff der sozialen Deprivation. Das Risiko so verstandener sozialer Benachteiligung nimmt mit dem Grad sozioökonomischer und psychosozialer Stressbelastung zu. In Übereinstimmung damit konstatieren zwei aktuelle Publikationen, der Bericht zur Kinder- und Jugendgesundheit in Deutschland (Bundesverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen, 2007) und der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (Robert-Koch-Institut, 2007), übereinstimmend: „Je niedriger der sozioökonomische Status, desto wahrscheinlicher ist das Auftreten gesundheitlicher und psychischer Störungen. Nicht nur die Lebensqualität der betroffenen Kinder und ihrer Familien ist beeinträchtigt, sondern auch ihre Zukunft, denn ihnen entgehen wesentliche Bildungs- und Entwicklungschancen“ (BDP, 2007). Bereits pränatal kann sich eine soziale Benachteiligung auf die Gesundheit von Kindern auswirken. Faktoren wie z. B. inadäquate Ernährung oder erhöhter Stress der Mutter, eine geringe Nutzung gesundheitlicher Vorsorgemaßnahmen sowie ein häufiger mütterlicher Konsum legaler und illegaler Drogen, bedingen u. a. ein im Schnitt niedrigeres Geburtsgewicht, mehr Geburtskomplikationen und eine vermehrte Anzahl von Frühgeburten. Insgesamt kommt es so bereits zu einer konstitutionellen Anfälligkeit der Neugeborenen (Bergmann, Bergmann, Ellert & Dudenhausen, 2007; Mayr, 2000). Nach der Geburt setzen sich die negativen Auswirkungen sozialer Randständigkeit der Familie im Säuglings- und Kleinkindalter fort und zeigen sich z. B. in einer höheren Prävalenz von Mittelohrentzündungen und anderen Erkrankungen, mehr Unfällen und einer höheren Belastung durch Umweltgifte. Daraus resultierende Probleme, wie z. B. Eisenmangel oder eine erhöhte Bleikonzentration im Blut, beeinträchtigen sowohl die körperliche als auch die geistige Entwicklung und sind langfristig Risikofaktoren für künftige Schulprobleme (Pollitt, 1994). Hinzu kommen Auswirkungen auf die kognitive Entwicklung: Kinder, die in einer sozialen Randlage aufwachsen, erhalten im familiären Bereich weniger kognitive und sprachliche Anregungen (McLoyd, 1998). In der Folge findet man hier bereits im Vorschulalter deutliche Rückstände im Hinblick auf die Intelligenz, die rezeptive und produktive Sprache sowie die Schulreife (Duncan et al., 1994; Smith et al., 1997; Walker 1994). Chronische Armut und soziale Benachteiligung können außerdem die sozial-emotio- FI 2/ 2008 Das Modellprojekt „Pro Kind“ 69 nale Entwicklung von Kindern beeinträchtigen und so zu höheren Auffälligkeiten sowohl bei ängstlich gehemmten Störungsbildern als auch bei ausagierend-aggressiven Verhaltensweisen führen. Langfristig ergibt sich daraus ein erhöhtes Risiko für Delinquenz (Mayr, 1993; Yoshikawa, 1994). Die Verhaltensprobleme werden von Eltern oft durch inkonsistentes Erziehungsverhalten und häufigere harte Disziplinierungsmaßnahmen weiter verstärkt. Diese negativen Erziehungspraktiken stehen wiederum im Zusammenhang mit einer erhöhten Belastung sozial benachteiligter Eltern, etwa durch eigene negative Lebenserfahrungen, schlechte Wohnbedingungen, psychiatrisch relevante Erkrankungen, chronische Familienkonflikte und andere belastende Lebensumstände (McLoyd et al., 1994). Obwohl neuere Forschungsergebnisse eindeutig belegen, dass sowohl massive Erkrankungen als auch Verhaltensprobleme im Erwachsenenalter ihren Ursprung häufig bereits sehr früh in der Kindheit haben und sich frühkindliche Probleme nicht von selbst auswachsen (vgl. Lösel et al., 2004), erfolgen im deutschen Sozialstaat gezielte Interventionen oftmals erst dann, wenn die kindlichen Probleme in der Schulzeit unübersehbar und untragbar werden oder die offensichtliche Gefährdung des Kindeswohls ein Eingreifen der Kinder- und Jugendhilfe erfordert. Da das Jugendamt auf Hinweise möglicher Gefährdung angewiesen ist, entsprechende Informationen in den ersten Lebensjahren aber nicht sichergestellt sind, kann es seinem Schutzauftrag des § 8 SGB VIII nur in unzureichendem Umfang nachkommen. Im Bereich der Gesundheitsvorsorge ist ein präventives Handeln durch die im SGB V vorgesehenen kindlichen U-Untersuchungen prinzipiell zwar eher möglich, die für Säuglinge und Kleinkinder auch zu 80 bis 90 Prozent genutzt werden. Es kann allerdings davon ausgegangen werden, dass gerade die verbleibenden 10 bis 20 Prozent der Kinder, die die Vorsorgeuntersuchungen nicht regelmäßig in Anspruch nehmen, in Familien aufwachsen, die sich in einer schwierigen sozialen Lebenslage befinden und somit häufig besonderen Risikofaktoren ausgesetzt sind (vgl. Ihle & Esser, 2007). Nach dem Verlassen der Geburtsklinik bis zum Eintritt in den Kindergarten bzw. in die Schule ist somit kein vorgeschriebener regelmäßiger Kontakt von Kindern mit einer Institution vorgesehen. Evaluationsergebnisse zeigen, dass Verhaltensprobleme durch eine frühe Erkennung und Reaktion im Sinne angemessener Behandlungs- und Fördermaßnahmen gezielter korrigiert werden können (z. B. Krause, 2007). Als besonders wirksam und kostengünstig haben sich sehr früh einsetzende Interventionen erwiesen, die sich gezielt an solche Familien wenden, bei denen eine Häufung von Risikofaktoren erwarten lässt, dass die Kinder ohne eine frühe Förderung in massive Probleme geraten würden (vgl. Olds, 2004). Umfassende Maßnahmen, die sowohl biologische als auch psychische und soziale Risikofaktoren mitberücksichtigen, erscheinen dabei besonders geeignet, langfristige negative „Karrieren“ zu verhindern und Kindern aus psychosozial belasteten Familien bessere Zukunftschancen zu eröffnen (Opp & Fingerle, 2000). Als ein solches multidimensionales Programm soll im Folgenden das Modellprojekt „Pro Kind“ vorgestellt werden. 2. Das Modellprojekt „Pro Kind“ und seine Verortung in der Landschaft früher Hilfen Wie viele andere Projekte und Modelle auch wendet sich das Modellprojekt „Pro Kind“ gezielt an werdende Mütter in psychosozial belastenden Lebensumständen. Tabelle 1 zeigt seine Einordnung in die Landschaft Früher Hilfen, orientiert an den von Helming et al. (2006) in ihrem Bericht erstellten Vergleichsdimensionen, wobei lediglich die Angebote aufgeführt werden, die mit dem 70 Tanja Jungmann et al. FI 2/ 2008 Tabelle 1: Verortung des Projektes „Pro Kind“ in der Landschaft Früher Hilfen (s. DJI, 2006) Projektname zeitraum der zielgruppe Vorgehens- Profession der inhaltlicher angebots- Trägerschaft/ Wissen- Begleitung weise Helferinnen Fokus breite Finanzierung schaftliche Begleitung adebar - Ab Schwanger- Familien mit situations- Hebammen Familienhebam- Familiencafé Kommune und keine Familienschaft (bis besonderen orientiert und Sozialmen: Beratung Hausbesuche, Spenden zentrum Ende 1. Lebenspsychosozialen pädagoginnen und Vermitt- Familiäre jahr des Kindes) Risiken lung z. B. bei Krisenhilfe Schreikindern, Soziale Stadt- Arbeit an teilentwicklung Eltern-Kind- Bindung Bremer Schwanger- Schwangere situations- Hebammen Pflege / Versor- Hausbesuche Kommune Evaluation Familienschaft bis Ende und Mütter mit orientiert und Krankengung des Kindes, (Collatz & hebammen des 1. Lebensbesonderen (z. B. schwestern Beziehung, Rhode, 1986) jahres des gesundheit- Alltagspraxis Kindes lichen) Risiken aufsuchende Schwanger- Sozial benachbedarfs-, Hebammen in Pflege, Bezie- Hausbesuche Landesmittel, Evaluation Familienhilfe schaft bis Ende teiligte Familien prozess-, enger Kooperahung, soziale kommunale Mit- (Zierau & (netzwerk des 1. Lebenszielorientiert tion mit Sozial- Integration, tel, Stiftungs- Gonzáles, 2005) Familienjahres des pädagogInnen Alltagspraxis mittel, Spenden hebammen Kindes niedersachsen) „Pro Kind - Schwanger- Psychosozial leitfaden- und Hebammen und Verbesserung Hausbesuche Bundesmittel, Evaluations- Wir begleiten schaft bis Ende belastete, erstsituations- Sozialpädagoder Gesundheit Landesmittel; forschung, junge Familien“ des 2. Lebensgebärende orientiert gInnen und Lebensplakommunale Implementajahres des Frauen zwischen nung, Bearbei- Mittel, Stiftungstionsforschung, Kindes 12. und 28. SSW tung der Elternmittel Kosten-Nutzenrolle, Stärkung Analyse (KFN sozialer Netze.V. in Kooperawerke tion mit Leibniz Universität Hannover) FI 2/ 2008 Das Modellprojekt „Pro Kind“ 71 Projektname zeitraum der zielgruppe Vorgehens- Profession der inhaltlicher angebots- Trägerschaft/ Wissen- Begleitung weise Helferinnen Fokus breite Finanzierung schaftliche Begleitung Schutzengel Schwanger- Sozial benachsituations- Hebammen, Pflege, Alltags- Offener Eltern- Verein mit komkeine Flensburg schaft bis Ende teiligte Familien orientiert und Sozialpädagopraxis, Bezietreff, Gruppenmunaler Fördedes 3. Lebenscurricular (GrupgInnen, Ärztin, hung, soziale angebote, aufrung, Stiftungsjahres des penangebote) Heilpädagogin Integration, suchende Famimittel, Spenden Kindes Gesundheit lienhilfe, Hausbesuche STeeP Schwanger- Psychosozial curricular und Psychologinnen Beziehung, Mütter-Grup- Bundesmittel Evaluation schaft bis Ende belastete situations- und Sozial- Alltagspraxis pen, aufsu- (Suess & des 2. Lebens- Schwangere orientiert pädagoginnen chende Hilfe Kißgen, 2005) jahres des oder Mütter Kindes Fortsetzung von Tabelle 1 Modellprojekt „Pro Kind“ strukturell und konzeptuell auch vergleichbar sind, d. h. die bereits während der Schwangerschaft ansetzen und regelmäßige Hausbesuche über einen längeren Zeitraum durch professionell geschulte Mitarbeiter durchführen. Die Dimensionen wurden um den Bereich „Wissenschaftliche Begleitung“ (s. u. 2.4) ergänzt. Das Modellprojekt „Pro Kind“ basiert auf dem evidenzbasierten Nurse-Family-Partnership-(NFP-)Programm (Olds, Henderson, Kitzman, Eckenrode, Cole & Tatelbaum, 1999; Olds, Kitzman, Cole, Robinson, Sidora, Luckey, Henderson, Hanks, Bondy & Holmberg, 2004). Dabei handelt es sich um ein Hausbesuchsprogramm für erstgebärende Frauen und ihre Familien in sozial schwierigen Lebenssituationen, das Ende der 70er Jahre aus den sozialen Bewegungen, der Gesundheitspsychologie und der gemeindenahen sozialen Arbeit in den USA entstanden ist. Die frühe Hilfe in Form des Begleitungsangebotes beginnt während der Schwangerschaft und endet mit dem zweiten Geburtstag des Kindes. In den USA ermutigen sogenannte „Nurses“ die Teilnehmerinnen bei der Entdeckung der eigenen Stärken und geben ihnen Hilfestellungen bei der Aneignung von Selbstbestimmung und Lebensautonomie. Ziel ist es, die mütterliche und kindliche Gesundheit bereits in der Schwangerschaft positiv zu beeinflussen, die vorhandenen, wenn auch vielfach verschütteten, elterlichen Erziehungsfähigkeiten zu kräftigen und Ressourcen freizusetzen, mit deren Hilfe die eigenen Lebenswege und Lebensräume selbstbestimmt gestaltet werden können. Somit steht dieser Ansatz ganz im Zeichen des Empowerments (Zimmermann, 2000). Wie auch das NFP-Programm wird das bundesdeutsche Modellprojekt „Pro Kind“ durch eine umfassende dreigliedrige Forschung, bestehend aus Implementationsforschung, biopsychosozialer Evaluation und Kosten-Nutzen-Analyse, begleitet. 72 Tanja Jungmann et al. FI 2/ 2008 2.1 Strukturelle Einordnung des Projektes „Pro Kind“ in die Landschaft früher Hilfen Beteiligte Professionen: In allen Projekten wird interdisziplinär gearbeitet, wobei in einigen Projekten mit mehreren Angeboten die Professionen je ihren eigenen Arbeitsbereich haben (wie z. B. bei Adebar oder Schutzengel Flensburg). Ähnlich wie bei den Bremer und den niedersächsischen Familienhebammen sowie bei STEEP sind mit Hebammen und Sozialpädagoginnen auch bei „Pro Kind“ zwei Professionen in die Hausbesuche involviert, die auf ihre Begleitungsaufgabe durch Schulungen und Workshops vorbereitet werden. Bei „Pro Kind“ werden die Frauen entweder durchgängig durch Hebammen oder durch ein Tandem, bestehend aus Hebammen und Sozialpädagoginnen, bis zum zweiten Geburtstag des Kindes begleitet. Das Modellprojekt „Pro Kind“ ist somit sowohl der Jugendhilfe als auch dem Gesundheitswesen zugeordnet und verbindet zentrale Elemente beider Systeme. Diese Kooperation der Professionen findet sich auch im Netzwerk Familienhebammen Niedersachsen, jedoch sind hier die Sozialpädagoginnen selbst nicht an den Hausbesuchen beteiligt, sondern stehen den Hebammen bei der Vermittlung der Klientinnen und der Ausarbeitung von Hilfeplänen lediglich bei Bedarf zur Seite (Zierau & Gonzáles, 2005). Trägerschaft und Finanzierung der Projekte hängen zum einen davon ab, ob es sich um ein Modellprojekt handelt oder das Angebot bereits in das Regelsystem integriert ist. Zum anderen ist relevant, ob das Vorhaben an einem oder mehreren Standorten umgesetzt wird. Bereits etablierte Projekte, wie z. B. die Bremer Familienhebammen, Adebar oder Schutzengel Flensburg, speisen sich vor allem aus kommunalen Mitteln, die teilweise um Stiftungs- und Spendenmittel ergänzt werden. Es liegt zumeist eine enge Anbindung an kommunale Strukturen vor, da diese Projekte jeweils nur an einem einzelnen Standort umgesetzt werden. So befinden sich beispielsweise die Bremer Familienhebammen in direkter Trägerschaft durch das Gesundheitsamt Bremen. Ein Vorteil dieser Anbindung ist sicherlich, dass bestehende Netzwerke und Kontakte des Trägers somit durch die Projekte genutzt und die Umsetzung der Programme direkt auf die Gegebenheiten und Bedürfnisse in der Kommune abgestimmt werden können. Modellprojekte mit mehreren gleichzeitigen Umsetzungsstandorten, neben „Pro Kind“ z. B. das Netzwerk Familienhebammen Niedersachsen, greifen z. B. auf eine Mischfinanzierung aus Bundes-, Landes-, Stiftungs- und Spendenmitteln zurück. Die Trägerschaft obliegt einer eigens gegründeten Stiftung. Im Modellprojekt STEEP beruht die Finanzierung der verschiedenen Umsetzungsstandorte allein auf Bundesmitteln. Wie eine Regelfinanzierung dieser Projekte aussehen würde, ist bisher noch offen. 2.2 Konzeptuelle Einordnung des Projektes „Pro Kind“ in die Landschaft früher Hilfen Zielgruppe: Eine Besonderheit des Modellprojektes „Pro Kind“ besteht darin, dass erstgebärende Frauen begleitet werden, die sich in einer frühen Phase ihrer Schwangerschaft befinden. Die Aufnahme in das Modellprojekt sollte möglichst schon in der 12. bis 16. Schwangerschaftswoche, spätestens aber bis zur 28. Schwangerschaftswoche erfolgen. Dieser Umstand grenzt zwar die Zielgruppe erheblich ein, nimmt damit aber eine Personengruppe in den Fokus, die in ihren Erziehungseinstellungen und -verhaltensweisen noch offen und veränderungssensibel sind. Im Sinne von primärer Prävention lässt sich so die Entstehung negativer Entwicklungsverläufe eines Kindes durch die positive Beeinflussung der in Entstehung begriffenen elterlichen Kompetenzen möglicherweise verhindern. FI 2/ 2008 Das Modellprojekt „Pro Kind“ 73 Um bei „Pro Kind“ aufgenommen werden zu können, müssen sich die Frauen darüber hinaus in einer finanziellen Problemlage befinden (z. B. Arbeitslosengeld-II-Bezug, Überschuldung) sowie weitere persönliche oder soziale Belastungsfaktoren aufweisen (z. B. Minderjährigkeit, alleinerziehend, soziale Isolation). Dies begründet sich aus den amerikanischen Forschungsergebnissen, die dafür sprechen, dass eine besonders hohe Programmeffektivität bei solchen Hoch-Risiko- Familien erzielt werden konnte (z. B. Olds et al., 2004). Ein gesicherter Aufenthaltsstatus in Deutschland und ausreichende deutsche Sprachkenntnisse sind für die von Forschung begleitete Modellphase des Projektes ebenfalls Voraussetzung. Angebotsbreite: Grundsätzlich kann zwischen Projekten unterschieden werden, die aus einem einzelnen Angebot bestehen und solchen, die mehrere Angebote umfassen. Wie die Bremer Familienhebammen und das Netzwerk Familienhebammen Niedersachsen beschränkt sich auch „Pro Kind“ auf Hausbesuche, wohingegen Adebar und Schutzengel Flensburg neben dem Hausbesuchsprogramm zahlreiche andere Programmbestandteile, wie z. B. Elterncafés, Eltern-Kind-Gruppen oder sozialpädagogische Krisenhilfe, anbieten. STEEP ist das einzige Projekt, in dem das Hausbesuchsprogramm mit regelmäßigen Gruppentreffen kombiniert wird. Das zugehende Hausbesuchsangebot von „Pro Kind“ sieht allerdings eine konsequente Vernetzung der Frauen und Familien mit weiteren sozialen Dienstleistungsangeboten außerhalb des Hauses der Familien („Komm-Angebotsstruktur“) vor. Setting: Während bei den Familienhebammenprojekten der Fokus auf Mutter und Kind liegt, wird bei „Pro Kind“ auch das soziale informelle Netzwerk mit in die frühen Hilfen einbezogen. So sind z. B. die verwendeten Leitfäden und Arbeitsmaterialien auf die Mitarbeit anderer Personen im Umfeld der Frau ausgelegt. Der explizite Einbezug des sozialen informellen Netzwerkes einer Mutter in die Arbeit sichert auch langfristig Ressourcen für die Betroffene. Dauer der Begleitung: In allen Projekten wird zwar eine Aufnahme bereits in der Schwangerschaft angestrebt, mit Ausnahme des Modellprojektes „Pro Kind“ sind jedoch Aufnahmen nach der Entbindung möglich und verbreitet. Dies hat einerseits den Vorteil der höheren Flexibilität und der besseren Erreichbarkeit der Zielgruppe, andererseits verkürzt sich dadurch die Verweildauer im Projekt unter Umständen erheblich. In vielen Familienhebammenprojekten endet die Begleitung bereits mit dem ersten Lebensjahr des Kindes (z. B. Collatz & Rohde, 1986), lediglich die Projekte STEEP und „Pro Kind“ weiten die Begleitung bis zum Ende des zweiten Lebensjahres aus, das Projekt Schutzengel e.V. sogar bis zum dritten Lebensjahr. Eine verlängerte Begleitungszeit ermöglicht zum einen den intensiveren Beziehungsaufbau der professionell Tätigen, zum anderen aber auch die Möglichkeit zur Bearbeitung komplexerer Themen. Bezüglich der Vorgehensweise lassen sich grundsätzlich situationsorientierte von curricularen bzw. leitfadenorientierten Arten der Begleitung unterscheiden. Während die situationsorientierte Begleitung bei den unmittelbaren Problemlagen und Bedürfnissen der Teilnehmerinnen ansetzt, orientiert sich die leitfadenorientierte Begleitung an vorab festgelegten Inhalten und einer bestimmten Ablaufstruktur. In den meisten Projekten liegt der Fokus auf einer situationsorientierten Begleitung, die in einigen Programmen um inhaltlich strukturierte Elemente ergänzt wird. Dagegen sind die Hausbesuche bei „Pro Kind“ und STEEP konsequent leitfadenbzw. curriculumsorientiert sowie klientenzentriert. Der klar strukturierte Ablauf und die immer wiederkehrende Hausbesuchsstruktur, die bei „Pro Kind“ durch Leitfäden und ein umfang- 74 Tanja Jungmann et al. FI 2/ 2008 reiches Manual für die unterschiedlichen Begleitungsphasen strukturiert ist, gibt den Teilnehmerinnen Sicherheit. Gleichzeitig lässt dieses Vorgehen individuelle Handlungsspielräume offen, die beispielsweise für den Umgang mit aktuellen Krisen relevant sind. Die Grundhaltung den Frauen gegenüber ist durch bedingungslose Akzeptanz, Wertschätzung, Ressourcenorientierung, Echtheit und Wärme charakterisiert. Der inhaltliche Fokus umfasst bei fast allen Projekten - mit Ausnahme von STEEP - sowohl gesundheitliche als auch soziale Aspekte. Auch „Pro Kind“ behandelt ein komplexes Bündel thematischer Bereiche. Somit wird sichergestellt, dass auch wenig thematisierte Inhalte angesprochen und bearbeitet werden. Das theoriengeleitete Vorgehen erweitert die eher aus der Alltagspraxis des (Familien-) Hebammenberufes entstandene Arbeitsweise und trägt somit zur inhaltlichen Qualitätssicherung bei. 2.3 Grundlagen und praktisches Vorgehen im Modellprojekt „Pro Kind“ Das Modellprojekt „Pro Kind“ basiert ebenso wie sein amerikanisches Vorbild auf einem Zusammenspiel aus Erkenntnissen und Hypothesen der Ökologischen Theorie Bronfenbrenners, der Selbstwirksamkeitstheorie Banduras und der Bindungstheorie Bowlbys, deren Grundzüge im Folgenden kurz erläutert werden. • Die Ökologische Theorie (Bronfenbrenner, 1992) betont die Wichtigkeit des sozialen Umfeldes der Teilnehmerin und hebt ihre Fähigkeit hervor, sich aktiv Zugang zu Informationen, Dienstleistungen und Unterstützungsressourcen zu eröffnen und diese „zum eigenen Nutzen“ einzusetzen. Bei „Pro Kind“ findet sich dies im erklärten Ziel wieder, informelle (z. B. Kindsvater oder Lebenspartner, Familie, Freunde und Bekannte) und formelle Netzwerke (z. B. Inanspruchnahme von Gesundheits- und Sozialdiensten) besser für die Mutter bzw. die Eltern nutzbar zu machen. Eine verbesserte Nutzung der sozialen Netzwerke, so die Annahme, vermindert die Belastung der Eltern und wirkt sich dadurch auch positiv auf ihr Erziehungsverhalten und die Interaktion mit ihrem Kind aus. • Nach der Selbstwirksamkeitstheorie Banduras (1977, 1982) spielen kognitive Bewertungsprozesse und individuelle Überzeugungen über den Zusammenhang zwischen eigenen Anstrengungen und erhofftem Ergebnis eine wichtige Rolle bei der Änderung bestehender maladaptiver Verhaltensweisen (wie z. B. dem Nikotin- oder Alkoholkonsum, aber auch einem strafenden Erziehungsverhalten) und beim Erwerb und der Beibehaltung neuer Verhaltensmuster (z. B. positives Erziehungsverhalten). • Die Familienbegleiterinnen von „Pro Kind“ werden darin geschult, den Frauen in einem ersten Schritt Hilfestellungen bei der Setzung kleiner, erreichbarer Ziele zu geben. Dies stärkt ihr Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zur Verhaltensänderung. In einem zweiten Schritt werden dann die intendierten Gesundheits-, Pflege- und Erziehungsverhaltensweisen systematisch von den Familienbegleiterinnen verstärkt. Durch das Aufzeigen von bereits bestehenden Stärken wird ebenfalls sukzessive das Vertrauen der Eltern in ihre Fähigkeiten aufgebaut, was auch einen Anreiz für den Erwerb weiterer Fähigkeiten schafft. Die Familienbegleiterinnen unterstützen die Frauen zudem im Umgang mit alltäglichen Problemen sowie dem Finden von geeigneten Bewältigungsstrategien. Dadurch werden Angst und Unsicherheit bei den Frauen abgebaut und gleichzeitig die Bereitschaft sowie die Fähigkeit gestärkt, sich belastenden Lebensproblemen aktiv zu stellen und hilfreiche Ressourcen der Veränderung zu mobilisieren. • Ein zentraler Anwendungsbereich ist die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung, der in der Bindungstheorie Bowlbys (1969) eine wichtige Funktion für die spätere sozial-emotionale sowie kognitive Entwicklung der Kinder zugeschrieben wird. Eigene negative Bindungserfahrungen der werdenden Mutter oder auch des Vaters spiegeln sich in späterem ungünstigen Kommunikations- und Beziehungsverhalten wider. Fundamental für eine Veränderung dysfunktionaler Bindungsschemata sind enge, nahezu therapeutische Bündnisse zwischen den Familienbegleiterinnen und den Familien, die frühzeitig während der Schwangerschaft geknüpft werden. Der Aufbau einer durch Respekt und Empathie geprägten Beziehung soll FI 2/ 2008 Das Modellprojekt „Pro Kind“ 75 helfen, sich selbst als jemanden zu sehen, der Unterstützung, Aufmerksamkeit und Liebe verdient. Darüber hinaus soll den Eltern geholfen werden, ihr Kind als Individuum mit eigenen Bedürfnissen zu betrachten, die sich von ihren eigenen unterscheiden. Die Wahrnehmung der kindlichen Motivation und Kommunikation soll entwickelt werden. Dabei wird sensitives, responsives und engagiertes Erziehungsverhalten in der frühen Kindheit von den Familienbegleiterinnen unterstützt und gefördert. Das Modellprojekt „Pro Kind“ zielt insgesamt darauf ab, die teilnehmenden Frauen zu einer Wiederaneignung von Selbstbestimmung über die Umstände ihres eigenen Lebens zu ermutigen. Als Methoden der theoriebasierten Wissensvermittlung und Alltagsbegleitung fungieren Leitfäden, die die Familienbegleiterin an die konkreten Bedürfnisse der Familie anpasst. Die Leitfäden, die während der Begleitung bearbeitet werden, umfassen sechs Themenbereiche: • Der Bereich „Persönliche Gesundheit“ subsumiert Themen, die den Gesundheitszustand und das Gesundheitsverhalten der (werdenden) Mutter, vor allem während der Schwangerschaft, betreffen. • Im Bereich „Gesundheitsförderliche Umgebung“ werden ganz alltägliche Gesundheitsgefährdungen im Haushalt (z. B. Schimmelpilzbefall, Treppenabsätze, offene Steckdosen in Reichweite des Kindes, offene Haushaltsreiniger), aber auch z. B. das Passivrauchen des Kindes durch Nikotinkonsum der Mutter oder ihres Partners besprochen. • In den Bereich „Mutter-/ Vater-/ Elternrolle“ gehören sowohl die eigenen Bindungserfahrungen und Erziehungseinstellungen, die kindliche Pflege und Ernährung sowie die prä- und postnatale Bindung zwischen dem Kind und seinen Eltern. • Die Größe und Qualität des informellen sozialen Netzwerkes der werdenden Mutter wird im Bereich „Familien- und Freundeskreis“ thematisiert (z. B. welche Personen werden als unterstützend wahrgenommen und könnten als Ressource genutzt werden). • Mit dem Bereich „Nutzung von Gesundheitsversorgung und sozialen Diensten“ wird das formelle Netzwerk angesprochen und beispielsweise geklärt, welche sozialen Dienstleistungen wie in Anspruch genommen werden können. Hier sind die Familienbegleiterinnen z. B. auch beim Ausfüllen von Anträgen behilflich. • Der Bereich „Entwicklung einer eigenen Lebensperspektive“ reicht von Thematiken der beruflichen über private bis hin zu rein lebenspraktischen Belangen. Somit ist die Begleitung inhaltlich breit gefächert, kann aber je nach den individuellen Bedürfnissen und Problemlagen der einzelnen Frau bestimmte Themenbereiche fokussieren. Die Hausbesuchsfrequenz ist kontinuierlich und regelmäßig. Unmittelbar nach der Aufnahme in das Modellprojekt sowie kurz nach der Geburt des Kindes finden vier wöchentliche Besuche statt. In der verbleibenden Zeit werden die Frauen vierzehntägig besucht. Je nach Bedarf können die Termine aber auch häufiger oder seltener stattfinden. Die Frauen entscheiden sich freiwillig für die Teilnahme am Modellprojekt und können diese jederzeit widerrufen. 2.4 Begleitforschung im Modellprojekt „Pro Kind“ Nur wenige Projekte der Frühen Hilfe werden umfassend wissenschaftlich evaluiert (z. B. STEEP [vgl. Egeland & Erickson, 1993; Suess & Kißgen, 2005]; s. Tab. 1). Zwar liegen Evaluationen von Familienhebammenprojekten vor, die aber entweder auf der rein deskriptiven Ebene angesiedelt sind oder nur für einige Fragestellungen eine Kontrollgruppe realisieren konnten. „Pro Kind“ unterscheidet sich somit von vielen anderen frühen Präventionsangeboten durch seine umfangreiche wissenschaftliche Begleitforschung. Mithilfe des randomisierten Kontrollgruppendesigns sollen in der Modellphase des Projektes Erkenntnisse darüber gewonnen werden, in welchem Maß es gelungen ist, die angestrebten Zielsetzungen zu erreichen (Wirkungsforschung) und welche Vorgehensweisen sich dabei im Einzelnen als geeignet oder ungeeignet erwiesen ha- 76 Tanja Jungmann et al. FI 2/ 2008 ben (Wirkmodellforschung). Des Weiteren soll geklärt werden, welches die richtige Zielgruppe für die Präventionsangebote darstellt und welche Merkmale die Mütter (und auch Väter) aufweisen, die die Projektangebote nicht oder nur sehr eingeschränkt angenommen haben. Letztlich erlaubt nur ein randomisiertes Kontrollgruppendesign weitreichende Aussagen über die Wirksamkeit der Projekte. Erste Auswertungen zum Zeitpunkt der Aufnahme schwangerer Frauen in das Projekt zeigen, dass ein Großteil bis zur 28. Schwangerschaftswoche erreicht wird (92%, n = 140). Abbildung 1 zeigt erste Ergebnisse im Modellprojekt im Vergleich zu Daten und Zielvorgaben des NFP-Projektes in den USA. Um sicherzustellen, dass das Projekt benachteiligten Teilnehmerinnen mit besonderem Unterstützungsbedarf zur Verfügung steht, wurde eine Checkliste zur Prüfung der Zielgruppenkriterien erstellt, die allen mit „Pro Kind“ kooperierenden Multiplikatoren (z. B. Gynäkologen, Mitarbeitern in den Arbeitsgemeinschaften) zur Verfügung steht. Damit können die Teilnahmekriterien, wie z. B. eine vorliegende finanzielle oder soziale Belastung von Schwangeren und ihren Familien, gezielt erfasst werden. Durch ihr Einverständnis ermöglichen es die potenziellen Teilnehmerinnen den Multiplikatoren, dass ihre Kontaktdaten an „Pro Kind“ weitergeleitet und sie durch eine dortige Mitarbeiterin kontaktiert werden können. In einem ausführlichen persönlichen Aufnahmegespräch werden die Lebensumstände der Interessentinnen dann mittels eines strukturierten Fragebogens eingehend exploriert und ihre Teilnahmebereitschaft und Passung im Projekt sichergestellt. Der eingesetzte Fragebogen umfasst Fragen zu demografischen (z. B. Familienstand), finanziellen (z. B. ALG- II- oder Sozialhilfebezug), gesundheitlichen (z. B. Vorliegen einer Risikoschwangerschaft), arbeits- (z. B. abgebrochene Ausbildung) und wohnbezogenen Themen (z. B. Wohnungslosigkeit) sowie zum familiären und nicht-familiären Umfeld (z. B. soziale Isolation, Vernachlässigungserfahrungen in Kindheit oder Jugend). Abbildung 2 gibt einen Überblick über die Risikobelastung der aufgenommenen Frauen. Die bisherigen Befunde sprechen dafür, dass Frauen, die bei „Pro Kind“ aufgenommen werden, multipel risikobelastet sind. Im Mittel liegen sechs Risikofaktoren vor, wobei 83 % der Frauen durch ALG-IIbzw. Sozialhilfebezug oder Überschuldung finanziell belastet sind, 32,6 % von fehlender Unterstützung berichten, bei 75,2 % gesundheitliche Belastungen vorliegen und 78,3 % der Frauen selber Vernachlässigungs- oder Gewalterfahrungen gemacht haben. Die Risikobelastung verteilt sich in den beiden Untersuchungsgruppen der Kontroll- und Begleitungsgruppe in etwa gleich. Die Begleitforschung will auf der Basis des Kontrollgruppendesigns auch mittel- und langfristig erfassen, wie sich die frühe Förde- Abbildung 1: Zeitpunkt der Aufnahme schwangerer Frauen in das Modellprojekt „Pro Kind“ FI 2/ 2008 Das Modellprojekt „Pro Kind“ 77 rung durch die Familienbegleitung im Projekt „Pro Kind“ auf die betroffenen Kinder und ihre Eltern auswirkt. Dabei werden zahlreiche Erhebungsinstrumente, wie z. B. auch kognitive, motorische und sprachliche Entwicklungstestungen, zum Einsatz kommen. Darüber hinaus soll eine differenzierte und langfristig angelegte Analyse der Effizienz des Modellprojektes Aussagen zur Relation von Kosten und finanziellem Nutzen des Angebotes ermöglichen. In Zeiten begrenzter Ressourcen werden solche belastbaren Ergebnisse zu einer zentralen Entscheidungsbasis und können helfen, wirksame Angebote der Frühen Hilfe dort anzubieten, wo sie benötigt werden. 3. Fazit und Ausblick Das Modellprojekt „Pro Kind“ versucht, werdende Mütter und ihre Familien bereits während der Schwangerschaft zu unterstützen, in-dem eigens dafür ausgebildete Familienbegleiterinnen theorienbasierte und strukturierte Hausbesuche durchführen. In der Landschaft ähnlich konzipierter früher Hilfsangebote nimmt „Pro Kind“ insofern einen besonderen Platz ein, als dass das primär präventive Unterstützungsangebot frühzeitig und langfristig für finanziell und sozial stark belastete Frauen angeboten und von einer umfangreichen wissenschaftlichen Forschung begleitet wird. Die in den nächsten Jahren zu erwartenden Ergebnisse sollen dazu beitragen, die Landschaft frü-her Hilfen in Deutschland weiter zu professionalisieren und primär präventive Angebote passge-nau für die jeweiligen Adressaten zu gestalten. Betrachtet man die bisherigen ersten Ergebnisse, so zeigt sich, dass stark belastete Familien schon frühzeitig ins Modellprojekt „Pro Kind“ aufgenommen werden, eine noch frühere Erreichbarkeit der Frauen aber durchaus wünschenswert erscheint. Die zukünftigen Ergebnisse können beispielsweise zeigen, wie sich die Risikobelastung der im Projekt geborenen Kinder auf ihre Entwicklungsbedingungen auswirkt und welchen Beitrag „Pro Kind“ zur Prävention negativer Entwicklungsverläufe finanziell und sozial benachteiligter Familien und ihrer Kinder leisten kann. Durch den Einbezug des Modellprojektes in das Aktionsprogramm „Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme“ des BMFSFJ ist eine Grundlage dafür geschaffen, auch zukünftig Ergebnisse auszutauschen und somit auch eine Vernetzung verschiedener wirksamer Angebote in diesem Bereich zu fördern. Abbildung 2: Risikobelastung der schwangeren Frauen im Modellprojekt „Pro Kind“ (n = 129 Frauen mit vollständigen Datensätzen in der t0-Datenbank) 78 Tanja Jungmann et al. FI 2/ 2008 Literatur Bandura, A. (1977): Self-efficacy: Toward a unifying theory of behavioral change. Psychological Review, 84, 191 - 215 Bandura, A. (1982): Self-efficacy mechanism in human agency. American Journal of Psychology, 37, 122 - 147 Beelmann, A. (2006): Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen bei Kindern und Jugendlichen. Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie, 35 (2), 151 - 162 Bergmann, K. E., Bergmann, R. L., Ellert, U. & Dudenhausen, J. W. 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