Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2008
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Stichwort: Resilienz
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Der Begriff "resilience" (engl.) stammt ursprünglich aus der Physik und bezeichnet die elastische Widerstandskraft eines Materials (lat. resilere - zurückspringen/abprallen). Im Rahmen der Humanwissenschaften wurde dieser Begriff für das Phänomen einer positiven Persönlichkeitsentwicklung trotz hemmender respektive schlechter Entwicklungsbedingungen übernommen.
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87 Stichwort Resilienz Der Begriff „resilience“ (engl.) stammt ursprünglich aus der Physik und bezeichnet die elastische Widerstandskraft eines Materials (lat. resilere - zurückspringen/ abprallen). Im Rahmen der Humanwissenschaften wurde dieser Begriff für das Phänomen einer positiven Persönlichkeitsentwicklung trotz hemmender respektive schlechter Entwicklungsbedingungen übernommen. Als Oberbegriff wird Resilienz rückbezogen auf einzelne entwicklungswirksame und entwicklungsfördernde „Schutzfaktoren“ (oder „protektive“ Faktoren). Diese entfalten ihre Wirkung in einem Prozess, in welchem sie „die kindlichen Reaktionen gegenüber einer Stress-Situation oder länger dauernden belastenden Lebensumständen abpufferten oder verbesserten, so dass die Anpassung des Kindes erfolgreicher war, als sie es bei Abwesenheit dieser protektiven Faktoren gewesen wäre“. Dieses Zitat der Pionierin der Resilienzforschung, Emmy Werner, ist das Resümee einer über 40 Jahre durchgeführten prospektiven Longitudinalstudie auf der Hawai-Insel Kauai. Unter 698 Risikokindern des Jahrgangs 1955 wurde eine Gruppe von 210 Kindern als „Hochrisikokinder“ identifiziert und als „vulnerabel“ (verletzlich) angesehen. Von diesen Kindern entwickelte sich dennoch ein Drittel zu kompetenten jungen Erwachsenen, die ein erfülltes Leben führten (von Emmy Werner als „vulnerable but invincible“ [verletzlich aber unbesiegbar] gekennzeichnet). In dieser Studie, ebenso wie in anderen, späteren Longitudinalstudien wurden die o. g. protektiven oder Schutzfaktoren auf drei Ebenen identifiziert, als 1. an die Persönlichkeit des Kindes gebundene Ressourcen, 2. als Ressourcen innerhalb der Familie und 3. solche im weiteren sozialen Umfeld. Aus der Fülle der einzelnen identifizierten Faktoren werden hier drei besonders wichtige Aspekte herausgegriffen, die für Fachleute - insbesondere im Bereich der Frühförderung - entscheidend in ihrer Arbeit sind. Aufseiten des Kindes ist die Erfahrung der Selbstwirksamkeit die Grundlage für ein positives Selbstwertgefühl als bedeutsam beschrieben. Aufseiten der Mitwelt, ist die positive Unterstützung der Entwicklung durch zumindest eine Bezugsperson (auch außerhalb der unmittelbaren Kleinfamilie) entscheidend. Und aufseiten des weiteren Umfeldes ist es die soziale Unterstützung. Die diversen unterschiedlichen personalen, familialen und sozialen Schutzfaktoren können weder in einem statischen Sinn als „feststehend“ noch als voneinander unabhängig betrachtet werden. Sie stehen vielmehr in einem dynamischen Wechselverhältnis zueinander. Man kann, so verstanden, Resilienz nur als ein prozessuales Geschehen auffassen, über dessen Entstehung und weitere Entfaltung man sich in der Arbeit mit Kindern kontinuierlich Rechenschaft ablegen muss. Das ist umso wichtiger, weil Risikofaktoren in diesem Entwicklungsprozess ebenfalls ihre Wirkung entfalten. Je mehr Risikofaktoren vorliegen, desto fragiler wird die o. g. „Abpufferung“ der Risiken in einem Resilienzprozess. Deswegen bedarf die spezifische Beobachtung und Begleitung der Entwicklung eines Kindes der Aufmerksamkeit beider Aspekte, 1. derjenigen der vorhandenen Schutzfaktoren, d. h. Raum für deren Wirksamkeit zu schaffen (Schutz gegenüber welcher Bedrohung? ), als auch 2. der Seite der Risikofaktoren, d. h. ihre Auswirkung möglichst zu minimieren oder ganz zu verhindern (Risiko mit welchen möglichen Auswirkungen? ). Damit wird deutlich, dass eine konkrete Arbeit zur Unterstützung eines Resilienzprozesses sinnvollerweise individualisiert geplant werden muss, weil es, individuell betrachtet, die Faktoren nicht gibt, d. h. für jedes Kind können andere Faktoren bedeutsam sein oder im Verlauf bedeutsam werden. Diese „Doppelstrategie“ ist insofern nicht grundsätzlich neu, als Konzepte der Salutogenese, der Ressourcen-orientierten Arbeit und des Empowerment seit Jahren einer ausschließlich Defizit-orientierten Arbeit gegenüberstehen. Das Resilienzkonzept „unterfüttert“, insbesondere für die Arbeit mit Kindern, diese Ansätze zusätzlich mit empirisch gewonnenen Erkenntnissen, aus denen konkrete Handlungsperspektiven abgeleitet werden können. Eine solche Arbeit ist anspruchsvoll und bedarf der Beachtung einer Vielfalt von Aspekten. Aus der Erfahrung der Frühförderung ist dabei ein von Emmy Werner akzentuierter Gesichtspunkt besonders bedeutungsvoll: „Die Lebensgeschichten der widerstandsfähigen Kinder in unserer Längsschnittstudie lehren uns, dass sich Kompetenz, Vertrauen und Fürsorge auch unter sehr ungünstigen Lebensbedingungen entwickeln können, wenn sie Er- 88 Stichwort FI 2/ 2008 wachsene treffen, die ihnen eine sichere Basis bieten, auf der sie Vertrauen, Autonomie und Initiative entwickeln können.“ Der Beziehungsaspekt ist in der Frühförderung ein zentrales Anliegen und zugleich die tragende Basis, auf der pädagogische und therapeutische Arbeit aufbauen. Wenn man Resilienzprozesse pädagogisch konzipieren, in ein Gesamtkonzept integrieren und im Alltag umsetzen will, ist es für alle unterschiedlichen Ansätze wichtig, diesen bedeutungsvollen protektiven Faktor immer mit zu bedenken und einzubeziehen. Das Erleben von Selbst-Wirksamkeit und in deren Folge das Entstehen einer Selbst-Wertschätzung bedürfen einer sicheren personalen Basis, die dem Kind die Möglichkeit bietet, sich eigeninitiativ und selbst-handelnd zu erfahren. Hier besteht eine deutliche Nähe zu den Erkenntnissen der Bindungstheorie. Die oben herausgegriffenen drei wichtigen Aspekte im Rahmen eines Resilienzprozesses wie Selbstwirksamkeit, eine feste Bezugsperson und soziale Unterstützung gelten neben allen weiteren Schutzfaktoren für alle Kinder. In der Arbeit der Interdisziplinären Frühförderung stellen sich die Fragen zur Einleitung und Aufrechterhaltung eines Resilienzprozesses auf der Ebene der Einbeziehung der Beeinträchtigungen des einzelnen Kindes. Eine Analyse des Entwicklungspotenzials eines Kindes, der Qualität seiner interpersonalen Beziehungen, der Lebenssituation der Familie und des sozialen Netzwerks sind die Grundvoraussetzung, um die Angelpunkte zu identifizieren, von denen ein solcher Prozess einen Ausgang nehmen kann. Hans Weiß hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass man bei allem Optimismus auch „mögliche resilienzhemmende Wirkungen früher Intervention“ im Auge haben müsse, insbesondere dann, wenn Förderung und Therapie darauf ausgerichtet sind, „Defizite in funktionellen Bereichen“ durch Übungen zu reduzieren, deren Intensität durch die Vermittlung an die Eltern, insbesondere die Mütter, noch gesteigert werden soll. Die Gefahren lassen sich auf zwei Ebenen lokalisieren: „1. Die spontane Interaktion mit ihrem Kind, soweit sie ihnen aufgrund der durch eine Behinderung verunsicherten elterlichen Identität und ‚intuitiven elterlichen Didaktik‘ überhaupt noch möglich ist, droht durch die ihnen angesonnene ko-therapeutische oder ko-pädagogische Rolle in quasi-professionellen Interaktionsmustern zu erstarren. 2. Eine betont defizitorientierte Förderung spiegelt dem Kind einseitig seine Schwächen. Durch diese ,fragmentierte Spiegelung‘ erlebt es sich nicht in seiner ,Ganzheit‘ mit ihren Stärken und Schwächen“ angenommen. Es besteht außer diesen kurz erwähnten „resilienzhemmenden Faktoren“ auch die Gefahr, dass „Resilienz“ als „Zauberformel“ verkommt, indem es als ein trainierbares Programm die individuellen, psychodynamisch wirksamen Zusammenhänge ausblendet. Wer sich mit dem aktuellen Stand der Wissenschaft zum Thema „Resilienz“ näher befassen möchte - und das ist im wahrsten Sinne des Wortes „spannend“ - dem sei das 2007 im Reinhardt Verlag in München in 2. Auflage erschienene Buch „Was Kinder stärkt - Erziehung zwischen Risiko und Resilienz“, herausgegeben von Günter Opp und Michael Fingerle, dringend empfohlen. Ein Kapitel von Hans Weiß ist darin ausschließlich der Frühförderung gewidmet. Jürgen Kühl
