Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2008
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Aktivitäten des täglichen Lebens schwerstbehinderter Kinder
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2008
Andreas Fröhlich
Schwerstbehinderte Kinder stellen an ihre Bezugspersonen wie auch an die professionellen Begleiter besondere Ansprüche und brauchen eine spezielle Unterstützung in allen Aktivitäten des täglichen Lebens. Diese Aktivitäten des täglichen Lebens stehen im Zentrum der Überlegungen, da sich in ihnen pflegerische und pädagogische Förderung trifft und ergänzt. Normale Alltagsaktivitäten müssen den Kindern vermittelt werden, selbst die einfachsten Ansätze der Körperpflege oder der Nahrungsaufnahme stellen enorme Lernherausforderungen für sie dar. Eltern benötigen dabei fachkundige Unterstützung; sie können nicht von Anfang an die „Experten für das eigene Kind“ sein, sondern müssen sich Wissen und Können erst aneignen. Die professionelle Frühförderung sollte ihnen gerade dabei gezielte Hilfen geben können – doch auch dort ist das spezifische Wissen um die Bedürfnisse von Kindern mit schwersten Mehrfachbehinderungen nicht überall abrufbar. Eine über die Fachdisziplinen hinausgehende Zusammenarbeit unter Einbezug von Elternvereinigungen und Elternforen wird angeregt.
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Frühförderung interdisziplinär, 27. Jg., S. 99 - 106 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Aktivitäten des täglichen Lebens schwerstbehinderter Kinder AndreAs Fröhlich Zusammenfassung: Schwerstbehinderte Kinder stellen an ihre Bezugspersonen wie auch an die professionellen Begleiter besondere Ansprüche und brauchen eine spezielle Unterstützung in allen Aktivitäten des täglichen Lebens. Diese Aktivitäten des täglichen Lebens stehen im Zentrum der Überlegungen, da sich in ihnen pflegerische und pädagogische Förderung trifft und ergänzt. Normale Alltagsaktivitäten müssen den Kindern vermittelt werden, selbst die einfachsten Ansätze der Körperpflege oder der Nahrungsaufnahme stellen enorme Lernherausforderungen für sie dar. Eltern benötigen dabei fachkundige Unterstützung; sie können nicht von Anfang an die „Experten für das eigene Kind“ sein, sondern müssen sich Wissen und Können erst aneignen. Die professionelle Frühförderung sollte ihnen gerade dabei gezielte Hilfen geben können - doch auch dort ist das spezifische Wissen um die Bedürfnisse von Kindern mit schwersten Mehrfachbehinderungen nicht überall abrufbar. Eine über die Fachdisziplinen hinausgehende Zusammenarbeit unter Einbezug von Elternvereinigungen und Elternforen wird angeregt. Schlüsselwörter: Schwerste Behinderung, Aktivitäten des täglichen Lebens, Väter, Mütter, Pflegeeltern, Entwicklungsunterstützung Severely and Profoundly Retarded Children and their Daily-Life-Activities Summary: Severely and profoundly retarded children have specific special educational needs and nursing demands on their parents and professional carers likewise. This includes all Daily Life Activities - these form the centre of our considerations because aspects of education and nursing meet here and influence each other. The Daily Life Activities are the main field of education and development. Every activity is also a learning challenge, needing educational assistance. Parents are looking for information and help. They cannot be“experts” for their child right from the beginning. Professionals should be able to provide this help but even they are often no specific experts in severe and profound retardation and the adjoining problems. We suggest the collaboration across professional fields including parents associations and specific parental web-sites and platforms. Keywords: Severe and profound retardation, daily life activities, fathers, mothers, foster parents, developmental support Schwerstbehinderte Kinder Vor etwa dreißig Jahren wurden diese Kinder gewissermaßen von der Pädagogik „entdeckt“. Zuvor waren sie eher als sogenannte Dauerpflegefälle gekennzeichnet und waren weitestgehend einer liebevollen Pflege überlassen, die jedoch kaum pädagogische Zielstellungen, pädagogische Angebote für diese Kinder entwickelte und sie somit in ihrem Alltag sich selbst oder pädagogischen Laien überließ. Zu Beginn der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wurde dann zunehmend deutlich, dass auch scheinbar „bildungsunfähige“ Kinder Lernmöglichkeiten haben, dass es damit also auch zur Verpflichtung einer Pädagogik für alle gehören müsste, sich dieser Kinder anzunehmen. Das Konzept Basale Stimulation (Fröhlich 1999) war ein solcher Versuch, Kindern Entwicklungs-, Lern- und Bildungsmöglichkeiten anzubieten. Mittlerweile hat sich das Angebot sehr weit ausdifferenziert, therapeutische, pädagogische und pflegerische Aspekte haben zueinander gefunden und ein ganzheitliches Konzept entstehen lassen, das heute unter dem Begriff „Basale Stimulation“ weite Verbreitung gefunden hat. Aber nicht nur dieses Konzept, viele andere pädagogische Herangehensweisen stehen heutzutage für Kinder mit schwerster Behinderung bereit. Anfänglich wurden diese Kinder im Wesentlichen als „Defizitträger“ beschrieben. Man war fasziniert und gefangen von der Schwere der Be- 100 Andreas Fröhlich FI 3/ 2008 hinderung, von der Fülle all dessen, was diese Kinder im Vergleich zu nichtbehinderten Kindern nicht konnten. Diese defizitorientierte Sicht ist überwunden und man versucht heute, ihre Möglichkeiten in den Vordergrund zu stellen: • Diese Kinder brauchen viel körperliche Nähe, um direkte Erfahrungen machen zu können. • Sie brauchen körperliche Nähe, um andere Menschen wahrnehmen zu können. • Sie brauchen Eltern, Pädagogen, Therapeuten, die ihnen die Welt, ihren Alltag und ihre Umgebung strukturieren und auf einfache Weise nahebringen. • Sie brauchen Menschen, die ihnen Fortbewegung und Lageveränderung ermöglichen. • Sie brauchen jemanden, der sie auch ohne Sprache versteht und zuverlässig versorgt, pflegt, der ihnen auf ihre Bedürfnisse angepasste Spiele und Lernangebote macht. • Sie brauchen für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse wenige Bezugspersonen, die sie so gut kennen und verstehen, immer besser kennenlernen und verstehen lernen wollen, dass sie den Anforderungen der Kinder gerecht werden können. Die Welt sehr schwer beeinträchtigter Kinder ist nach unserem derzeitigen Kenntnisstand konzentriert auf die unmittelbare Körpersphäre und ein ganzheitliches, körperlichseelisches Leben. Dies ist eine Lebensform, die wir alle im Säuglingsalter natürlich durchlaufen haben. Wir haben mit dieser Lebensform Erfahrungen gesammelt und können diese Erfahrungen auch wieder aktivieren und sie für andere nutzbar machen. Ursachen, Formen und Entwicklungen von schwerster Behinderung Schwerste Behinderung entsteht nach unserem derzeitigen Wissen genau durch die gleichen ungünstigen Einflüsse, wie eine andere Behinderung auch. Pränatale Schädigungen, Krankheiten der Mutter, eine extrem schwierige, hochriskante Geburt, nachgeburtliche Schädigungen aller nur denkbaren Art, Unfälle, Krankheiten etc. Es gibt keine spezifische Ursache für schwerste Behinderung, genauso wie es keine einheitliche Ausprägung dieser Behinderung gibt. Immer aber ist das kindliche, in der Entwicklung begriffene Gehirn der eigentliche Ort der Schädigung, meist kommen noch zusätzliche organische und funktionelle Beeinträchtigungen hinzu. Die Entwicklung insgesamt ist in besonders schwerer Weise gehemmt, häufig haben diese Kinder mit dem Überleben zu kämpfen, verbrauchen gewissermaßen einen Großteil ihrer Energie, um überhaupt am Leben bleiben zu können. Die moderne Medizin hat sehr viel dazu getan, dass Kinder, die früher nicht am Leben erhalten werden konnten, heute überleben. Ein kleiner Teil von ihnen überlebt mit schweren und schwersten Beeinträchtigungen. Ein größerer Teil profitiert aber unmittelbar von dem medizinischen Einsatz, sodass es völlig verkehrt wäre, der modernen Neonatal-, Perinatal- und Neugeborenen- Medizin so etwas wie eine „Schuld“ zuzuweisen. Schwerste Behinderung ist nicht „wegzutherapieren“, es gibt keine Medikamente, es gibt keine Therapien, die ursächlich wirken würden. Aber es gibt therapeutische und pädagogische Angebote, die die Entwicklung dieser Kinder helfen auszudifferenzieren. Nach unserem derzeitigen Überblick allerdings wird sich auch mit pädagogischtherapeutischen Mitteln schwerste Behinderung nicht aus der Welt schaffen lassen, diese Kinder bleiben schwerstbehinderte Menschen, können aber sehr viel dazulernen, gerade im Bereich der Kommunikation und der Alltagskompetenz zeigen sich oft ganz erstaunliche Entwicklungen. In der Pädagogik bei schwerster Behinderung herrscht übereinstimmend die Überzeugung, dass jeder Mensch, sei er auch noch so schwer behindert, ein Recht auf Lernen, auf FI 3/ 2008 Schwerstbehinderte Kinder 101 geeignete Lernangebote und Bildung hat. Es liegt an den Professionellen, solche Angebote individuell zu schaffen und für geeignete Lernorte zu sorgen. Viele dieser Kinder sind aber auch krank bzw. häufig von Krankheiten bedroht, die sie erheblich und langfristig belasten oder auch zu einem frühen Tod führen. Hierzu zählen zunächst einmal Anfallskrankheiten, aber auch schwerwiegende Ernährungsstörungen, immer wiederkehrende Atemwegsinfekte sowie Folgeerscheinungen einer Dauermedikamentierung. Diese Kinder haben es nicht einfach, aber erstaunlich viele dieser Kinder zeigen große Vitalität, leben gerne und sind Kinder, Jugendliche und später Erwachsene mit mehr „normalen“ Anteilen, als wir uns auf den ersten Blick vorstellen können. Die Eltern und Pflegeeltern schwerstbehinderter Kinder - Konsequenzen für die Frühförderung Zur Situation der Eltern schwerstbehinderter Kinder liegen mittlerweile eine ganze Zahl von Untersuchungen und Analysen vor. Die Familie des Kindes ist nach seiner Geburt, bzw. nach der Diagnose „schwerste Behinderung“ in vielerlei Hinsicht vor besondere Herausforderungen gestellt. In diesem Zusammenhang spielen Gefühle wie Schmerz, Wut, Trauer und Enttäuschung darüber, nicht das gewünschte Kind bekommen zu haben, aber auch Zukunftsängste eine wichtige Rolle. Dabei muss betont werden, dass die Reaktionen der Eltern nicht in ein generelles Schema eingeordnet werden können und immer von vielen Faktoren, wie Persönlichkeit der Eltern, deren Beziehung zueinander und der familiären Situation insgesamt, abhängig sind (vgl. Neuhäuser 2000) - hier deutet sich die unbedingte Notwendigkeit einer sehr individuellen Unterstützung bereits an. Besonders die Mütter schwerstbehinderter Kinder scheinen oftmals psychisch und physisch überlastet. Dabei spielen sowohl eigene Erwartungen, auch im Zusammenhang mit ambivalenten Gefühlen dem Kind gegenüber, als auch Erwartungen aus dem sozialen Umfeld, nicht zuletzt von Mitarbeitern der Frühförderstellen, eine erhebliche Rolle. Als Folge kann es zur Unterdrückung elementarer Gefühle und schließlich zu deren Somatisierung mit erheblichen Folgen für das gesundheitliche Befinden der Mütter kommen (vgl. Fröhlich 1986). Aber auch der Vater sieht aller Wahrscheinlichkeit nach seine Vorstellungen und Wünsche bezüglich der Vaterschaft nicht erfüllt. Schließlich können die schwere Beeinträchtigung und der damit verbundene hohe Pflegebedarf des Kindes nicht nur Auswirkungen auf die Partnerschaft der Eltern, sondern auf das gesamte System Familie haben. So sind auch die denkbaren Gefährdungen für eine unauffällige Entwicklung der Geschwisterkinder zu nennen, die nicht nur zu Hoffnungsträgern der Familie oder zum Partnerersatz für ein Elternteil werden können, sondern auch Gefahr laufen, von den Eltern vernachlässigt oder von der sozialen Umwelt stigmatisiert zu werden. Häufig fungieren sie als Vermittler nach außen und sorgen für Spannungsausgleich zwischen ihren Eltern (Fröhlich 1989, 195). Eine Befragung von Müttern schwerstbehinderter Kinder in Hinblick auf ihre subjektiv empfundene Belastung (Peterander & Speck 1995) untermauert die Annahme einer möglichen Überlastung der betroffenen Frauen und eines stärker als negativ empfundenen Familienklimas. Die im Rahmen dieser Befragung gewonnenen Ergebnisse lassen auch Rückschlüsse auf eine stärker an den individuellen Bedürfnissen der einzelnen Familien orientierte professionelle Begleitung zu. So wünschen sich stark belastete Mütter von den Mitarbeiterinnen der Frühförderstellen mehr Zeit 102 Andreas Fröhlich FI 3/ 2008 für persönliche Gespräche und wollen weniger in die konkrete Arbeit der Mitarbeiterinnen einbezogen werden (Peterander & Speck 1995). Insgesamt sind jedoch die großen Unterschiede im Empfinden und Erleben der Belastungen noch einmal hervorzuheben, sodass auf die Notwendigkeit einer am Einzelfall orientierten Beratung und Zusammenarbeit hinzuweisen ist. Zur Situation von Familien mit angenommenen oder in Pflege aufgenommenen Kindern liegen vergleichbare Erhebungen nicht vor. Studierende des Instituts für Sonderpädagogik der Universität Landau haben im vergangenen Jahr begonnen, einige Informationen zu sammeln, diese sind jedoch noch außerordentlich unsystematisch und reichen nicht aus, um allgemeine Aussagen zu machen. Natürlich, und dies kann als der große Vorteil von Pflegefamilien aufgefasst werden, stellt sich die Frage nach der eigenen Schuld am Zustand des Kindes nicht. Hier können die neuen Eltern freier und unbeschwerter an ihre Erziehungs- und Versorgungsaufgabe herangehen. Sollte jedoch die schwere Behinderung durch einen späteren Unfall, durch eine Krankheit oder dergleichen eintreten, so unterscheiden sich ganz sicherlich natürliche von Pflegeeltern nicht. Die ganze Last des Grübelns, des Sorgens, des Rätselns, ob ein anderes Handeln andere Folgen nach sich gezogen hätte, bleibt auch diesen Eltern nicht erspart. Aus eigener Beobachtung kann festgestellt werden, dass die „Wahleltern“ sehr schnell all die Nöte und Sorgen, Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen kennenlernen, die auch natürliche Eltern zu durchleben haben. Es kann sogar vermutet werden, dass die Eltern, die sich in vollem Wissen um die schwere Behinderung für ein Kind entschieden haben, durch ihr großes Engagement, durch ihre Überzeugung tatsächlich auf noch mehr Widerstand stoßen als andere Eltern. Die Beobachtungen unserer kleinen Landauer Arbeitsgruppe weist darauf hin, der Autor selbst kennt seit vielen Jahren drei Familien mit angenommenen schwerstbehinderten Kindern und kann feststellen, dass diese Familien besonders engagiert, aber auch besonders schmerzhaft für die Rechte ihrer Kinder kämpfen bzw. glauben kämpfen zu müssen. Interessant bei dieser kleinen beobachteten Gruppe ist, dass gerade die Väter es sich zur Lebensaufgabe gemacht haben, für diese Kinder all das einzufordern, was eine moderne Pädagogik und Therapie, Pflege und medizinische Versorgung anzubieten in der Lage ist. Die mögliche „Gefährdung“ nichtbehinderter Geschwisterkinder ist in diesen Familien genauso gegeben wie in den Familien mit natürlichen Geschwistern, die Auseinandersetzung mit der Verwandtschaft sicherlich in gleicher Weise. Die einmalige oder prozesshafte freie Entscheidung für ein schwerstbehindertes Kind bei Pflegeeltern setzt diese nicht grundsätzlich in eine bessere Lage als die langsame, krisenhafte Auseinandersetzung mit der Schwerstbehinderung des in die Familie hineingeborenen Kindes. Natürliche Eltern und Pflegeeltern schwerstbehinderter Kinder benötigen besondere Aufmerksamkeit, besondere Professionalität und Begleitung in ihrem familiären Arbeiten. Ursula Haupt betont, dass die „Unterstützung einer guten Beziehung zwischen Eltern und Kind, die Förderung der häuslichen Lebensqualität“ Vorrang hat vor „Fördermaßnahmen, die zu Hause durchgeführt werden“ (Haupt 1991, 35). Führt man sich vor Augen, wie der konkrete Alltag einer Familie mit einem schwerstbehinderten Kind aussehen kann, etwa wenn das Kind einer apparategestützten Pflege bedarf (vgl. hierzu Sarimski 2000 b, 143 - 151), dann erscheint folgende Feststellung von Haupt als Handlungsleitende Maxime für die FI 3/ 2008 Schwerstbehinderte Kinder 103 Frühförderung unabdingbar: „Eltern schwerstbehinderter Kinder sind manchmal erschöpft. Sie müssen sich dann erst physisch und psychisch erholen, ehe sie sich mit neuen Anforderungen auseinandersetzen können. Manchmal sind Entlastungen für den häuslichen Alltag die wichtigste Hilfe für eine Familie“ (Haupt 1991, 35). Es gilt, die emotionale und körperliche Befindlichkeit der Eltern zu berücksichtigen und gegebenenfalls für entsprechende Hilfen zur Verbesserung der familiären Situation zu sorgen. Doch bei aller Notwendigkeit der Unterstützung und Begleitung sollte es sich bei den Bemühungen der Frühforderung nie um Eingriffe in das familiäre System handeln, sondern vielmehr muss die Autonomie der Familien im Vordergrund stehen. Wir sprechen in diesem Zusammenhang von einer „Optimierung“ für Eltern, Geschwister und Kind: „Durch den Begriff „Optimierung“ ist angedeutet, dass es nicht um eine Normerreichung, um eine Annäherung an fiktive Durchschnittswerte geht, sondern dass es sich um eine sehr individuelle Unterstützung der jeweils Beteiligten handeln muss“ (Fröhlich 1997 b, 181). Für die Familie des beeinträchtigten Kindes bedeutet dies konkret eine Optimierung der Hilfe bei der emotionalen Stabilisierung, d. h. beim Umgang und der Auseinandersetzung mit dominierenden Gefühlen und Hilfen zu einer realistischen Zukunftsplanung. Es geht folglich um eine Unterstützung, die hilft, den Alltag der Familie zu organisieren und, ohne dabei ihre Mitglieder zu überfordern, an ihren Kompetenzen und Ressourcen orientiert bleibt (vgl. Fröhlich 1994, 44 - 48). „Oberstes Gebot (dabei, d. Verf.) ist der Respekt vor der Selbständigkeit und Selbstbestimmtheit eines behinderten Menschen und seiner Familie. Hilfeleistung darf nicht zur Entmündigung führen! “ (ebd., 48; Hervorh. i. Original). Die Aktivitäten des täglichen Lebens Weiter oben haben wir auf Ursula Haupt verwiesen, die darauf Wert legt, dass die Förderung der häuslichen Lebensqualität Vorrang hat vor Fördermaßnahmen, die zu Hause durchgeführt werden. Aus diesem Grund scheint es uns besonders wichtig, die Aktivitäten des täglichen Lebens hervorzuheben, in denen sich der Alltag eines schwerbehinderten Kindes und seiner Familie realisiert. Eltern sind nach unserer Überzeugung keine Hilfslehrer, keine Hilfstherapeuten, sie haben keine Hausaufgaben von den Fachleuten zu übernehmen, sondern sie müssen ihr familiäres Leben, das eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt, gestalten. In unserem Kulturkreis haben sich auch für Aktivitäten des täglichen Lebens bestimmte Formen und Standards entwickelt. Daneben gibt es physiologische Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit ein Mensch leben kann, z. B. eine ausreichende Menge Flüssigkeit pro Tag. Es gibt aber auch Aktivitäten des täglichen Lebens, die das „seelische“ und „geistige“ Leben betreffen, ohne eine hinreichende Bedürfnisbefriedigung „verkümmert“ der Mensch - kleine Kinder werden in einer ausgeglichenen Entwicklung gehemmt - eine zweite Behinderung für schon beeinträchtigte Kinder. Also geht es - um es mit einem aktuellen Stichwort zu sagen - um die Partizipation am Alltag unter Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse, unter den Bedingungen einer schweren Entwicklungsbeeinträchtigung. Wachsein und Schlafen: Viele Kinder mit schweren Hirnschädigungen haben ausgesprochene Tag-Nacht-Rhythmus-Probleme, Einschlaf- und Durchschlafstörungen. Für Eltern und weitere Familienmitglieder ist dies oft in hohem Maße belastend. Hier müssen spezifische Hilfen gegeben werden. Sich bewegen: Die Nutzung und Weiterentwicklung vorhandener Bewegungsfähigkeit muss unter Einschluss sehr spezieller 104 Andreas Fröhlich FI 3/ 2008 physiotherapeutischer Hilfen gesichert werden, da anderenfalls die Schwierigkeiten bei der alltäglichen Pflege zunehmen und sich weitere gesundheits- und befindensbeeinträchtigende Einschränkungen einstellen. Waschen und Kleiden: Gerade in diesem Bereich wurden durch neue Überlegungen in der Krankenpflege Konzepte entwickelt, die in der Körperpflege sehr gute Anregungsmöglichkeiten für die Entwicklung eines Körperselbstbildes, der Identität etc. anbieten. Eltern können in diesen notwendigen Alltagsaktivitäten ihr Kind in seiner Entwicklung sehr gut unterstützen, wenn man ihnen die entsprechenden Möglichkeiten gezeigt hat. Essen und Trinken: Die Nahrungsaufnahme stellt für sehr schwer behinderte Kinder häufig eins der schwierigsten Probleme dar, Aspiration (Verschlucken) und unzureichende Mengenaufnahme lassen die Kinder immer wieder in schwierige gesundheitliche Gefährdungen kommen. Das Aspirieren von Nahrung führt zu akut lebensbedrohlichen Zuständen, auf Dauer zu einer Einschränkung der Lungenfunktion. Das Legen von Sonden stellt manchmal eine gute Alternative dar, bringt aber andererseits Einschränkungen der Lebensqualität, die ebenfalls durch neuere Erkenntnisse aus der Pflege relativ gut kompensiert werden können. Dies ist aber mit den Eltern gemeinsam zu erarbeiten (Maier, 2006). Ausscheiden: Durch die veränderte Nahrungsaufnahme, das Fehlen von Kauaktivitäten, das unregelmäßige Schlucken durch den allgemeinen Bewegungsmangel kommt es auch zu schwerwiegenden Verdauungsstörungen. Sehr viele Kinder leiden ernsthaft unter Verstopfung, können dies oft nicht zum Ausdruck bringen und so kommt es auch hier zu vermeidbaren Aufregungen, Spannungen, Schmerzen. Eltern sollten frühzeitig und vorsorglich lernen, mit Verdauungsproblemen ihrer schwer behinderten Kinder umzugehen. Körpertemperatur regulieren: Sehr schwer behinderte Kinder können sich z. B. nicht eigenaktiv anziehen oder ausziehen, oft können sie sich nicht einmal aufdecken. Die Regelung der Körpertemperatur kann durch Hirnschädigung verändert sein, aber gerade der Temperaturregelung kommt eine hohe Bedeutung zu, Eltern sind anzuleiten, Eltern sind Hilfen zu geben. Atmen: Die Atmung schwerstbehinderter Kinder ist häufig verändert, abgeflacht und durch Spastizität eingeschränkt. Immer mehr Kinder werden maschinell teil- oder vollbeatmet. Eltern müssen mit der Atemsituation ihrer Kinder vertraut gemacht werden, sie müssen Sicherheit gewinnen im Umgang mit Maschinen, sie müssen dieses Wissen sogar an andere weitergeben können. Sich sicher fühlen: Die spezielle Situation der fast vollständigen Abhängigkeit von anderen Menschen, das ständige Berührt- und Manipuliertwerden schränkt die Persönlichkeitsentwicklung häufig ein. Mit den Eltern muss ein individuelles Konzept erarbeitet werden, dass sich ihre Kinder wirklich sicher fühlen können, dass sie in ihrem Verhalten auf vertrauenswürdige und verlässliche Partner stoßen und mit ihnen gemeinsam ihre Welt erkunden und erobern. Raum und Zeit gestalten - spielen, sich entwickeln und bilden: Durch die eingeschränkten Aktivitätsmöglichkeiten kommt es dazu, dass sehr schwer behinderte Kinder den Raum um sich herum selten zu einem Spielraum, zu einem Lern- und Lebensraum eigenaktiv entwickeln können. Dazu ist Bewegungsfähigkeit unter Einbezug der Sinnesaktivitäten unbedingt erforderlich. Die Bezugspersonen sollten von professioneller Seite unterstützt werden, einen Nahraum mit dem jeweiligen Kind zu gestalten, in dem dieses sich mit seinen Wahrnehmungs- und Aktivitätsmöglichkeiten orientieren und von dem aus es zunehmend auch mit minimalem Aufwand selbst aktiv werden kann. Eine Tagesstruk- FI 3/ 2008 Schwerstbehinderte Kinder 105 tur kann mit dem jeweiligen Kind entwickelt werden, welche es diesem erlaubt, Gewohnheiten und zuverlässige Erwartungen aufzubauen. Kinder müssen Zeit und angemessene Anregung zum Spielen erhalten. Auch Spielen muss gelernt werden, nur im Spiel kann das Kind seine Entwicklungsmöglichkeiten entfalten. Kommunizieren: Die bisherigen Forschungen zeigen, dass Kommunikationsprobleme zwischen Eltern und ihrem schwer behinderten Kind zum entscheidenden Kriterium für das Gelingen von Beziehung und Entwicklung werden. In der Regel setzt Kommunikationsförderung zu spät ein, bereits mit dem Neugeborenen kann spezifisch kommuniziert werden. Diese Kommunikation weicht häufig von dem normal Erwarteten ab, sodass Eltern ermutigt werden müssen, andere Kommunikationswege zu beschreiten (vgl. Fröhlich, Simon 2004). Kind, Frau, Mann sein: Zur menschlichen Entwicklung gehört auch die Geschlechtsidentität, die schon als Kind beginnt. Wir wissen, dass Behinderung, insbesondere schwerste Behinderung, die nichtbehinderte Umwelt häufig dazu veranlasst, die Geschlechtlichkeit, die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht zu ignorieren. Dies führt im Erwachsenenleben zu schwerwiegenden und tiefgreifenden Störungen. Auch hier können Eltern unterstützt werden, schon früh das Geschlecht ihres Kindes trotz seiner Schwerbehinderung zu akzeptieren und auch Ausdrucksformen für ihr Mädchen oder ihren Jungen zu finden. Sinn finden im Werden - Sein - Vergehen: Die über allem liegende Frage nach dem Sinn eines solchen Lebens, nach den Perspektiven muss mit den Eltern angesprochen werden, es muss ihnen vermittelt werden, dass sie auch zu solchen zentralen Fragen, die quälend sein können, die Ansprechpartner finden. Verzweiflung, Wut muss ebenso Ausdruck finden können wie Hoffnung oder auch Angst. Spirituelle Hilfen sind anzubieten, nicht aufzudrängen. Alltagskompetenzen und professionelle Unterstützung Familien mit einem schwerstbehinderten Kind benötigen je nach ihrer eigenen Kompetenz Unterstützung, Hilfe, Information, Rat, ganz sicherlich aber Begleitung bei der Gestaltung all der genannten Alltagsaktivitäten. Es kann nicht angehen, dass Eltern sich alle Kompetenzen selbst aneignen müssen, dass sie zusammen mit ihrem Kind durch Versuche und Irrtum gehen müssen, dass sie Fehler machen müssen, die schon längst als Fehler bekannt sind. Gerade im Bereich der Ernährung, des Schlafens, aber auch anderer Aktivitäten gibt es schon wichtige, erfahrungsbasierte Hinweise, die das Zusammenleben wesentlich erleichtern können. So gibt z. B. die Stiftung „leben pur“ in München nicht nur über ihre Publikationen, sondern auch durch direkte Vermittlung von Kompetenzen Hilfestellungen für Eltern oder Professionelle. Über verschiedene Vereinigungen betroffener Familien und deren professionelle Partner können spezifische Informationen zu Alltagsproblemen besorgt werden, z. B. • Kindernetzwerk (www. kindernetzwerk.de) • Sondenkinder (www.sondenkinder.de) • beatmete Kinder (www.lebens-welten.com) • Intensivkinder zu Hause (intensivkinder.de) Im Einzelnen wird es notwendig sein, dass sich Anbieter von früher Förderung in ihrem Umfeld aktiv der Zusammenarbeit mit Kinderkrankenschwestern, Ernährungsfachleuten und erfahrenen Eltern versichern. Je weniger Energie in die aktuelle Bewältigung des Alltags fließen muss, desto mehr Ressourcen bleiben für die anderen Kinder, für die Lebenspartner und für das schwerbehinderte Kind selbst. Wenn eine Familie nur das reine Überleben verwirklichen kann, so fehlt vieles von dem, was wir uns für familiäres Zusammenleben wünschen, von dem wir wissen, dass es für eine gute Entwicklung aller Beteiligten notwendig ist. 106 Andreas Fröhlich FI 3/ 2008 Daher muss professionelle Hilfe so organisiert werden, dass Eltern möglichst frühzeitig und ohne als Bittsteller auftreten zu müssen, solche Informationen, Hilfestellungen und Unterstützungen, Beratung und Begleitung abrufen können, die das Alltagsleben eines schwerstbehinderten Kindes betreffen. Eltern, die ein solches Kind in Pflege nehmen oder es adoptieren, müssen ein Anrecht darauf haben, dass Fachleute ihnen zur Seite stehen, ohne sich allerdings in das Familienleben einzumischen, ohne ihre kulturellen Werte, ohne ihre Normalitätsvorstellungen in diese Familie hineintragen zu wollen. Respekt einerseits ist gefordert und bedingungslose Unterstützung andererseits. Für die Professionellen stellt es durchaus eine Herausforderung dar, sich in den Dienst von Familien und ihren Kindern zu stellen, ihre Kompetenzen anzubieten und einzubringen, ohne in die Autonomie der Familie einzugreifen. Hieran werden wir in Zukunft noch viel zu arbeiten haben. Literatur Fröhlich, A. (1999 a): Basale Stimulation. Das Konzept. (2. Aufl.). Düsseldorf. Fröhlich, A. (1997 b): Zu früh für diese Welt? Pädagogische Überlegungen zu einem angemessenen Lebensbeginn frühgeborener Kinder. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 48, Heft 5, S. 178 - 183. Fröhlich, A. (1994): Lass’ mich wie ich bin - komm’ und hilf mir! Überlegungen zur frühen Förderung geistigbehinderter Kinder. In: Th. Hoffmann & B. Klingmüller (Hrsg.): Abhängigkeit und Autonomie. Neue Wege in der Geistigbehindertenpädagogik. Berlin, S. 33 - 50. Fröhlich, A. (1989): Müde - leer - allein. Überlegungen zur Genese von systemischen Beziehungsstörungen in Familien schwerstbehinderter Kinder. In: A. Fröhlich (Hrsg.): Lernmöglichkeiten. Aktivierende Förderung für schwer mehrfachbehinderte Menschen. (2., völlig überarb. Aufl.). Heidelberg, S. 186 - 198. Fröhlich, A. (1986): Die Mütter schwerstbehinderter Kinder. Heidelberg. Fröhlich, A. & Simon, A. (2004): Gemeinsamkeiten entdecken. Mit schwerbehinderten Kindern kommunizieren. Düsseldorf. Haupt, U. (1991): Entwicklung und Lernmöglichkeiten bei Kindern und Jugendlichen mit schwerster Behinderung. In: Fröhlich; A. (Hrsg.): Pädagogik bei schwerster Behinderung. (Handbuch der Sonderpädagogik, Band 12). Berlin, S. 15 - 38. Maier, N. J. (2006) (Hrsg.): Leben pur - Ernährung für Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen, Düsseldorf Maier, N. J. (2008) (Hrsg.): Leben pur - Schlaf, Düsseldorf Neuhäuser, G. (2000): Schwere Entwicklungsstörung beim Säugling - Was heißt das für das Kind und für seine Familie? In: J. Kühl (Hrsg.): Die Autonomie des jungen Kindes in der Frühförderung. Würzburg, bentheim, S. 181 - 192. Peterander, F. & Speck, O. (1995): Subjektive Belastungen. Mütter schwerbehinderter Kinder in der Frühförderung. In: Geistige Behinderung, Jg. 34, Heft 2, S. 95 - 107. Sarimski, K. (2000 b): Frühgeburt als Herausforderung. Psychologische Beratung als Bewältigungshilfe. (Klinische Kinderpsychologie, Band 1). Göttingen, Bern, Toronto, Seattle. Sarimski, K. (1998): Pädagogisch-psychologische Begleitung von Eltern chromosomal geschädigter Kinder. In: Geistige Behinderung, Jg. 37, Heft 4, S. 323 - 334. Thiemes Pflege (2004): Hrsg. Von Kellnhauser, E. u. a.: Entdecken - erleben - verstehen - professionell handeln. Begründet von Liliane Juchli. Stuttgart, New York. Wolf-Stiegemeyer, D. (2001): Ein Leben so normal wie möglich? Plädoyer für ein Normalisierungsprinzip für Mütter schwer behinderter Kinder. In: Geistige Behinderung, Jg. 40, Heft 2, S. 145 - 155 Prof. dr. Andreas Fröhlich Wolfsangel 10 D-67663 Kaiserslautern E-Mail: Polyhandycap@aol.com
