eJournals Frühförderung interdisziplinär 27/3

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
71
2008
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Von der Qualitätsentwicklung zum evidenzbasierten Handeln der Frühförderung?

71
2008
Franz Peterander
Im Vordergrund der Arbeit stehen die in der interdisziplinären Frühförderung diskutierten Fragen zur Qualitätsentwicklung, Effektivität und Effizienz pädagogisch-psychologischen Handelns. Unübersehbar sind zunehmende Forderungen nach wissenschaftlich gesicherten Qualitäts- und Effektivitätsnachweisen auf der Basis des im Rahmen der Gesundheitsökonomie in der Medizin entwickelten Konzepts des „evidenzbasierten Handelns“. Diskutiert wird mit Blick auf Erfahrungen in Nachbardisziplinen die Übertragbarkeit dieses medizinischen Konzepts auf die interdisziplinäre Frühförderung. Aufgrund ihres ganzheitlichen, individualisierten sowie systemischen Ansatzes erscheinen in diesem Zusammenhang methodische Vorgehensweisen, die die Ziele, Prinzipien, Aufgaben und Rahmenbedingungen der Frühförderung umfassend berücksichtigen, zum Nachweis der Effektivität besser geeignet.
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Frühförderung interdisziplinär, 27. Jg., S. 107 - 114 (2008) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Von der Qualitätsentwicklung zum evidenzbasierten Handeln der Frühförderung? Franz Peterander Zusammenfassung: Im Vordergrund der Arbeit stehen die in der interdisziplinären Frühförderung diskutierten Fragen zur Qualitätsentwicklung, Effektivität und Effizienz pädagogisch-psychologischen Handelns. Unübersehbar sind zunehmende Forderungen nach wissenschaftlich gesicherten Qualitäts- und Effektivitätsnachweisen auf der Basis des im Rahmen der Gesundheitsökonomie in der Medizin entwickelten Konzepts des „evidenzbasierten Handelns“. Diskutiert wird mit Blick auf Erfahrungen in Nachbardisziplinen die Übertragbarkeit dieses medizinischen Konzepts auf die interdisziplinäre Frühförderung. Aufgrund ihres ganzheitlichen, individualisierten sowie systemischen Ansatzes erscheinen in diesem Zusammenhang methodische Vorgehensweisen, die die Ziele, Prinzipien, Aufgaben und Rahmenbedingungen der Frühförderung umfassend berücksichtigen, zum Nachweis der Effektivität besser geeignet. Schlüsselwörter: Qualität, Effektivität, Effizienz, Evidenzbasierte Praxis, Frühförderung, Medizin, Psychotherapie From Quality Development to Evidence-Based Practice? Summary: The work places an emphasis on the issues of quality development, effectiveness and the efficiency of educational-psychological practice - all of which are dealt with in interdisciplinary early childhood intervention. It has become obvious that there is an increasing demand for scientifically proved evidence of quality and effectiveness which is based on the concept of evidence-based practice which was developed within the field of health economy in medicine. The transferability of the medical concept to interdisciplinary early childhood intervention is discussed with regard to experience gathered in related disciplines. In this context, methodological approaches which keep in mind the holistic, individualized and systemic basis of early childhood intervention seems to be better suited to take into consideration the aims, principles, tasks and prevailing conditions of early childhood intervention when it comes to proving effectiveness. Keywords: Quality, effectiveness, efficiency, evidence-based practice, early childhood intervention, medicine, psychotherapy Eine intensive Diskussion um Qualität, Qualitätssicherung und -management kennzeichnete in den letzten Jahren die Arbeit in der interdisziplinären Frühförderung und hat zu zahlreichen organisatorischen und fachlichen Veränderungen geführt. Hintergrund dieser Entwicklungen bildet der veränderte ökonomische und gesellschaftliche Rahmen, unter dem heute interdisziplinäre Frühförderung stattfindet. In diesem Zusammenhang sind auch die von unterschiedlichen Seiten verstärkt vorgetragenen Forderungen nach einer verbesserten Transparenz von Effektivität und Effizienz der Kindförderung und der Kooperation mit den Familien zu sehen. Es besteht zunehmender Konsens, dass es neben der Betonung des Wertes einer Förderung (Peterander 2006), der Unterstützung für die Lebensqualität des Einzelnen auch eines verstärkten Nachweises der Effektivität der jeweiligen Intervention bedarf. Die Frühförderung verfügt heute über eigens entwickelte Qualitätsnachweise (Guralnick 1997) sowie Möglichkeiten zur Evaluation ihrer Arbeit (Weiss 2004). Auch in anderen Disziplinen sind diesbezügliche Ansätze zu beobachten. So gibt es heute in der Medizin wie auch in unterschiedlichen Bereichen der sozialen Arbeit Entwicklungen, um Qualitätsmanagement, Effektivität und Effizienz miteinander zu verknüpfen und daraus Leitlinien und Konzepte für die Praxis zu entwickeln, die einerseits eine hohe Qualität der angebotenen Leistungen ermöglichen und andererseits in 108 Franz Peterander FI 3/ 2008 einer günstigen Kosten-Nutzen-Relation stehen. In diesem Zusammenhang wird zunehmend das in der Medizin entwickelte Konzept einer Evidenzbasierten Praxis (evidence based practice) auch im Sozialbereich diskutiert. Ziel dieses Ansatzes ist es, durch empirische Wirksamkeitsnachweise und Maßnahmen zur Qualitätssicherung eine als notwendig erachtete Modernisierung der Medizin anzustreben. Unter evidenzbasiertem Handeln lässt sich die Integration individueller Expertise der Fachleute mit der bestmöglichen externen Evidenz aus empirischer Forschung verstehen (Lauterbach & Schrappe 2004). Mit Blick auf Nachbardisziplinen sollen Fragen von der Qualitätsentwicklung bis hin zur „evidenzbasierten Praxis“ in der Frühförderung diskutiert werden. Der Fokus ist auf die Frage gerichtet, von welcher Relevanz dieses Konzept für die Frühförderung sein kann. Qualität pädagogisch-psychologischen Handelns Die Ausgangssituation bei der Anwendung und dem Nutzen des Konzepts evidenzbasierten Handelns ist in der Medizin und Frühförderung recht unterschiedlich. Natürlich kann es hilfreich sein, den Fachleuten z. B. bei einer Herzoperation diejenigen Entscheidungskriterien und Arbeitsschritte zu spezifizieren, die sich in wissenschaftlichen Wirksamkeitsstudien als effektiv erwiesen haben. Die Qualität des pädagogisch-psychologischen Handelns lässt sich indes nur im Kontext einer gesellschaftlichen Wertebasis definieren. Anthropologische und ethische Grundorientierungen bilden hierfür einen weit gefassten und anerkannten normativen Rahmen. Nicht selten lassen sich daher in den Handbüchern zur Qualität, die in der Praxis als Leitlinien des fachlichen Handelns entwickelt worden sind, solche normativen Grundlagen erkennen. Ziel ist es, die Lebensqualität von Menschen zu verbessern, Kompetenzen zu stärken, Entwicklungsprozesse zu fördern, die Leistungsfähigkeit zu erhöhen. Heute wird je nach fachlichem Kontext von der Notwendigkeit organisationaler, interaktionaler, professioneller, sozialer, pädagogischer Qualität gesprochen (Speck 1999). Bereits hier kann ein Konflikt zwischen der „möglichen“ Qualität einer fachlichen Leistung und dem damit verbundenen Kosten-Nutzen-Verhältnis gegeben sein. Die Qualität ist somit untrennbar mit einer ökonomischen Frage verbunden - ein wichtiger Aspekt beim Nachweis der Effektivität. Im Zusammenhang mit der Qualitätsdiskussion blieb bisher u. a. unbeantwortet, ob die beschriebenen Qualitäten per se zu den intendierten Wirkungen führen. Um diese Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, sind in den letzten Jahren von der Frühförderung bis zur Altenhilfe differenzierte Systeme zur Qualitätsentwicklung bzw. zum Qualitätsmanagement entwickelt worden. Sie umfassen Initiativen, mit denen die Qualität geklärt, überprüft und verbessert werden kann: interne und externe Evaluationen, die Bildung von Qualitätszirkeln bis hin zur Zertifizierung von Einrichtungen (Peterander & Speck 2004). Ob mit diesen Konzepten tatsächlich die Effektivität erhöht werden kann, bleibt unklar (Merchel 2004). Effektivität Auch im Hinblick auf die Feststellung der Effektivität der Frühförderung lassen sich im Vergleich von Frühförderung und Medizin signifikante Unterschiede feststellen. Die streng wissenschaftlich definierten Kriterien einer evidenzbasierten Praxis können den Aufgabenstellungen in der interdisziplinären Frühförderung häufig nicht gerecht werden. Hier wird unter Effektivität nicht, wie z. B. bei einem chirurgischen Eingriff, die optimal standardisierte Durchführung verstanden, sondern das Ausmaß der Veränderungen, die auf der Grundlage der Definition von Zielen durch einen ganzheitlichen und im hohen Maße auf den Einzelfall abgestimmten Förder- FI 3/ 2008 Von der Qualitätsentwicklung zum evidenzbasierten Handeln 109 und Beratungsprozess erreicht worden sind. Im Sozialbereich und auch in der Frühförderung liegen in diesem Sinne - zumindest im deutschsprachigen Raum - nur wenige gut kontrollierte Studien zur Effektivität vor. Anders verhält es sich z. B. in den USA, wo es eine Vielzahl solcher wissenschaftlicher Studien über die Kurz- und Langzeiteffekte der Frühförderung gibt (Guralnick 1997). Dies liegt vor allem an den unterschiedlichen Konzepten der Förderung: während hier die Frühförderung im hohen Maße individualisiert durchgeführt wird, werden in den USA zumeist standardisierte Förderprogramme bei den Kindern eingesetzt, deren Effektivität sich einfacher „messen“ lässt, was zweifelsohne konzeptionell auch so intendiert ist. Es verwundert daher wenig, dass versucht wird das Konzept des evidenzbasierten Handelns auch in verschiedenen pädagogischen Feldern anzuwenden (Thomas & Pring 2004). Angesichts der Komplexität des Zusammenwirkens von Qualität und Effektivität z. B. bei Förderung und Beratung bleibt der Nutzen des evidenzbasierten Ansatzes zumindest fraglich. Das enge Zusammenspiel von Qualität und Effektivität lässt sich am Beispiel von Studien zur Qualität von Kindertagesstätten aufzeigen. Kindertagesstätten: Hellmann (2004) untersuchte z. B. in der Schweiz Qualitätskriterien für Tageseinrichtungen für Kinder im Vorschulalter. Er kommt dabei zu Ergebnissen, die trotz ihrer Eindeutigkeit sehr differenziert zu betrachten sind: ein günstiges Erzieherin-Kind-Zahlenverhältnis (1 : 5) und die Ausbildung der Erzieherinnen haben sich als sehr gute Indikatoren für eine gute pädagogische Arbeit in Tagesstätten erwiesen. Im gleichen Sinne lauten die Ergebnisse der NICHD-Studie (1996): In Einrichtungen mit einem ungünstigen Zahlenverhältnis zeigten Tests bezüglich der sprachlichen, kognitiven und sozialen Kindsentwicklung schlechtere Ergebnisse als Tests mit weniger Kindern pro Erzieherin. Obwohl diese Ergebnisse zur Qualität der Arbeit in Kindestagestätten eine große Bedeutung für die Gestaltung einer effektiven Arbeit haben, zeigen die von Rossbach (2004) berichteten Ergebnisse, dass familiale Merkmale mit 30 % aufgeklärter Varianz signifikant bedeutsamer für die Kindsentwicklung sind als der Anteil der Kindergartenqualität, die nur mit 6 - 8 % zur Effektivität beiträgt, d. h. die Entwicklungen der Kinder sind in signifikant höherem Ausmaß von den Familienbedingungen abhängig als von der Qualität des Kindergartens. In diesem Sinne würde eine engere Kooperation zwischen Kindertagesstätte und Familie die Qualität der Kindertagesstätte bedeutsam erhöhen. Die interdisziplinäre Frühförderung mit ihrer systemischen Familienorientierung versucht diesen wichtigen Aspekt in das Förderkonzept zu integrieren und kann dadurch nicht nur die Qualität, sondern auch die Effektivität der Förderung signifikant erhöhen (Peterander 2000). Kinderpsychotherapie: In einem der Frühförderung nahen Arbeitsfeld, der Psychotherapie von Kindern, ist in den letzten 30 Jahren eine intensive Forschungstätigkeit zur Effektivität von therapeutischen Methoden und Verfahren festzustellen. Insoweit kommt dieser Interventionsbereich den hohen wissenschaftlichen Standards im Sinne des Konzepts zum evidenzbasierten Handeln sehr nahe. In der Kinderpsychotherapie wurde in empirischen Studien umfassend untersucht, welche Konzepte und Ansätze sich bei welchen Störungsbildern als wirksam erwiesen haben, und welche Indikatoren der Wirksamkeit im Einzelnen benannt werden können (Döpfner & Lehmkuhl 2002; Scheithauer & Petermann 2000). In seiner Arbeit mit dem Titel „(Wie) kann Psychotherapie durch empirische Validierung wirksamer werden? “ kommt Grawe (2005) zu 110 Franz Peterander FI 3/ 2008 dem Ergebnis, dass die Kenntnis empirisch validierter Wirkfaktoren für den Erfolg einer Therapie bedeutsamer ist als eine bestimmte Therapiemethode. Er hat eine Reihe psychotherapeutischer Wirkfaktoren induktiv aus den tatsächlichen Wirkungen der einzelnen psychotherapeutischen Vorgehensweisen abgeleitet, wie sie in empirischen Wirksamkeitsuntersuchungen und Prozess-Outcome- Studien festgestellt wurden. Therapien, die eine besonders gute Wirkung erzielten, wiesen eine Reihe gemeinsamer Merkmale auf: Ressourcenaktivierung, Problemaktualisierung, Problembewältigung, Klärung der Motivation, Therapiebeziehung. Die Analysen zeigten, dass vor allem eine gute Therapiebeziehung und eine erfolgreiche Ressourcenaktivierung eine notwendige Voraussetzung für ein gutes Therapieergebnis sind. Ihr Einfluss kann störungs- und methodenübergreifend als gesichert angesehen werden. Nach den Ergebnissen dieser Studien zeigte sich weiterhin, dass Fachleute empirisch validierte Leitlinien benötigen, die ihnen bei der Entscheidung helfen, an welchen Punkten sie bei einem individuellen Patienten ansetzen können, um möglichst gute therapeutische Wirkungen zu erzielen. Da heute bei der Planung und Durchführung von Psychotherapien oft wichtige empirisch validierte Perspektiven und Wirkfaktoren unberücksichtigt bleiben, leisten viele Therapieverfahren weniger, als sie dies aufgrund der Kenntnis der empirisch validierten Wirkfaktoren tun könnten (Grawe 2005). Es zeigt sich allgemein die Schwierigkeit die Frage nach der Wirksamkeit von Therapien und Beratung hinreichend zu beantworten. Wie sehr die Wirksamkeit auch bei empirischen Studien zu hinterfragen ist, zeigen die Anmerkungen von Scheithauer & Petermann (2000): „Metaanalysen zur Wirksamkeit psychotherapeutischer Interventionen bestätigen zwar, dass beispielsweise im Kindes- und Jugendalter vor allem kognitiv-behaviorale Verfahren wirksam sind, … man weiß aber nach wie vor nicht genau, warum und wie diese Effekte entstehen“ (215). Effektivität und Wirksamkeit Im Rahmen der Diskussion um eine evidenzbasierte Praxis im Sozialbereich wird neben empirischen Studien zur Wirksamkeit auch die Durchführung von Effektivitätsstudien notwendig sein. In der öffentlichen Diskussion werden diese beiden Begriffe häufig unpräzise verwendet, was mit Blick auf die oben erwähnte Forderung nach evidence based practice einer kritischen Reflexion bedarf. Von Wirksamkeit (efficacy) wird gesprochen, wenn es sich um eine wissenschaftlich kontrollierte Untersuchung auf der Basis von kontrollierten Forschungsdesigns handelt, bei denen bestimmte Methoden oft manualisiert eingesetzt werden, um ein bestimmtes Förderziel zu erreichen - also ganz im Sinne einer evidence based practice, wobei jedoch offensichtlich die Gefahr einer Vernachlässigung der Individualisierung der Förderung von Kindern in Alltagssettings besteht. Von Effektivität wird hingegen gesprochen, wenn die Förderung/ Therapie in der Alltagsroutine untersucht wird. In diesem Fall ist daher zu fragen, ob und unter welchen Bedingungen der Transfer der sich als wirksam erwiesenen Förderkonzepte in der Alltagsroutine der Einrichtungen gelingen kann und welche Formen der Qualitätssicherung nötig sind, um eine effektive Förderung, Therapie, Beratung etc. zu gewährleisten (Döpfner & Lehmkuhl 2002) - somit besteht hier ein weites Feld für Kooperationen von Forschung und Praxis. Gesundheitsökonomie und evidenzbasiertes Handeln In der Medizin gibt es seit vielen Jahren eine Diskussion über Fragen der Qualität, Effektivität und Effizienz fachlichen Handelns. Unter dem Begriff der „Gesundheitsökonomie“ werden diese Themen umfassend und intensiv diskutiert (Lauterbach & Schrappe 2004). In FI 3/ 2008 Von der Qualitätsentwicklung zum evidenzbasierten Handeln 111 der Medizin (und in der Psychotherapie) geschieht dies in der Regel durch einen ökonomischen Druck seitens der Krankenversicherungen, die im Zusammenhang mit der Kostenerstattung traditionell einen Nachweis der Wirksamkeit und Effektivität der eingesetzten Methoden fordern. Die Diskussion um Fragestellungen und Themen im Zusammenhang mit der Gesundheitsökonomie scheint inzwischen auch für den Sozialbereich - und damit für die Frühförderung - von zunehmender Relevanz zu werden. Und dies, obwohl sich die Ausgangsbedingungen und Inhalte der Arbeit grundlegend unterscheiden. Mit Blick auf die Qualität einer Leistung wird in der Medizin der Versuch unternommen Fragen der Effektivität und Effizienz miteinander zu verknüpfen (Hajen et al. 2004; Vogel & Wasem 2004). „Gesundheitsökonomische Analysen tragen zur Verbesserung der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität bei. Hierbei steht zentral die Frage der Effizienz im Mittelpunkt, d. h. die relative Wirksamkeit im Verhältnis zum Aufwand, der für das beobachtete Ereignis geleistet wird“ (Lauterbach & Schrappe 2004, 136). In der Gesundheitsökonomie wird zudem gefragt, inwieweit das medizinische Handeln evidenzbasiert ist, d. h. inwieweit sich der Mediziner/ Therapeut bei seinem Handeln auf exzellente wissenschaftliche Evidenz (Nachweis/ Beweis) für seine Entscheidungen berufen kann. Hierbei gibt es eine strenge Hierarchie bei der Bewertung der Qualität der Effektivitätsstudien. Als stärkste Evidenz gelten systematische Reviews auf der Basis methodisch hochwertiger randomisierter kontrollierter Studien (randomized controlled treatment: RCT). Als schwächste Evidenz gelten Meinungen und Überzeugungen von Autoritäten und Expertenkommissionen bzw. beschreibende Studien (Schöffski & Schulenburg 2002). Auf dieser letztgenannten Evidenzebene beruhen jedoch viele der im Sozialbereich entwickelten Qualitätsentwicklungs- und Managementsysteme. Die Gründe hierfür sind unterschiedlich: einerseits verfügt der Sozialbereich über keine diesbezügliche Forschungstradition und bislang auch nicht über vergleichbare finanzielle Forschungsmittel, wie dies in der Medizin der Fall ist. Auch stand die Forderung zum Nachweis der Wirksamkeit von bestimmten Konzepten der Förderung und Beratung nicht im Vordergrund. Da ein Überblick über die weltweit verfügbaren wissenschaftlichen Studien für den einzelnen Mediziner/ Therapeuten nicht möglich ist, hat 1993 die Cochrane Collaboration (http: / www.cma.ca/ webmed/ evi.htm) als ein weltweites Kooperationsnetzwerk die Aufgabe übernommen, in systematischen Übersichtsarbeiten das aktuell verfügbare Wissen den Anwendern zur Verfügung zu stellen. Diese Metaanalysen dienen auch als Grundlage für die Entwicklung von Leitlinien für evidenzbasiertes Handeln in der Medizin. Kritik am Konzept der evidenzbasierten Medizin (EBM) Insbesondere in der Psychotherapie, deren fachliches Handeln sich eher am Sozialbereich als an den Aufgabenstellungen in der Medizin orientiert und die bereits Erfahrungen mit der EBM sammeln konnten, gibt es zunehmend Kritik an der Übertragung dieses Konzepts auf die Psychotherapie. In erster Linie betrifft dies die Anwendung rigider EBM-Prinzipien zur Evaluation der Wirksamkeit von Psychotherapien. Dies gilt in noch stärkerem Maße hinsichtlich einer ausschließlichen bzw. bevorzugten Anerkennung randomisierter kontrollierter Studien (RCTs) in der Psychotherapieforschung: „Sie sind nachweislich dem Gegenstandsbereich psychotherapeutischer Behandlung unangemessen“ (Tschuschke 2005, 106). Gefordert wird daher, dass der Rückgriff auf empirische Wirksamkeitsnachweise und Maßnahmen zur Qualitätssicherung die Besonderheiten therapeutischen Handelns verstärkt berücksichtigen sollte. Dies gilt in besonderer Weise für den dialogischen Aspekt 112 Franz Peterander FI 3/ 2008 einer Psychotherapie, der auch in der Arbeit der interdisziplinären Frühförderung im Vordergrund steht. Nach den Ergebnissen von Wirksamkeitsstudien in der Psychotherapie hängt der Erfolg einer Intervention in bedeutsamer Weise von den spezifischen Strategien der Fachleute und ihrer Beziehung zum Patienten ab (Döpfner 2005). Nicht anders verhält es sich in der Frühförderung. In diese Richtung weisende Alternativen zum evidenzbasierten Vorgehen in der Medizin wurden deshalb im Sinne einer „Ökologisch-basierten Psychotherapie“ bereits formuliert (Tschuschke 2005) und stellen ein auch für die Untersuchung der Wirksamkeit der Arbeit in der Frühförderung zutreffendes Argument dar: „Bei zunehmender Kompetenz wird das anfängliche Regelwissen nicht einfach verinnerlicht, sondern es kommt zum Erwerb eines neuartigen, situationsgebundenen und ganzheitlichen Erfahrungswissens, … bei dem es nicht um rationales Problem-Lösen, sondern um das kritische Betrachten der eigenen Intuition geht“ (Zuhorst 2003, 102). Legewie (2000) resümiert, dass im Falle der Nichtbeachtung der Besonderheiten der Psychotherapie bei der Einführung Evidenzbasierter Medizin (EBM) sich diejenigen wissenschaftlich anerkannten Psychotherapieverfahren durchsetzen, die ein simples Regelsystem für Anfänger (Manualisierung) an die Stelle der „Kunstlehre heilkundlicher Psychotherapie“ darstellen. Auch in den USA gibt es neben Befürwortern der Übertragung der EBM auf pädagogische Felder eine zunehmende Kritik dieses Ansinnens (Thomas & Pring 2004). Evidenzbasierte Leitlinien Allgemein als positiv erachtet wird hingegen die Entwicklung und Nutzung evidenzbasierter Leitlinien für die fachliche Arbeit in sozialen Einrichtungen. Sie genießen im Gesundheitswesen eine hohe Anerkennung und spielen bei Entscheidungsprozessen eine wichtige Rolle. Im Gegensatz zu Richtlinien beinhalten Leitlinien eher unverbindliche Empfehlungen für die Praxis, die aus der Zusammenstellung wichtiger Forschungsergebnisse und den Erfahrungen von Expertengruppen entstanden sind. In den letzten Jahren wurden mehr als 1.000 solcher Leitlinien erstellt, wobei etwa 70 dem Bereich Psychiatrie/ Psychotherapie zuzuordnen sind (http: / / www.awmf-leitlinien.de) - ein zukünftig auch für die Frühförderung interessanter Aspekt zur Weiterentwicklung ihrer schon bislang erfolgreichen Kindförderung und Kooperation mit den Familien. Effektivität und Effizienz Letztlich besteht ein zunehmender Konsens über die Notwendigkeit verstärkter Bemühungen um eine „evidenzbasierte Outcome- Orientierung“ in sozialen Einrichtungen. Im Mittelpunkt solcher Kosten-Nutzen-Analysen steht die Frage, wie etwas besser, effektiver und auch kostengünstiger gemacht werden kann (Wendt 2000). In der Zukunft wird die Optimierung des Einsatzes verfügbarer Ressourcen, das Transparentmachen des gesellschaftlichen Werts sozialer Dienstleistungen und die Verbesserung der gesellschaftlichen Legitimation für notwendige Hilfen für Menschen mit besonderen Bedürfnissen vermutlich eine größere Bedeutung gewinnen. Diese Argumentation hat in die Diskussion um die Qualität der Behindertenarbeit schon Eingang gefunden. In neueren Arbeiten wird die ökonomische Frage sozialer Dienstleistungen zentral angesprochen (Klug 2005). Verknüpfungen dieser Forderungen werden nicht selten mit der Situation in den USA vorgenommen, wo die Frage nach den Kosten einer Behandlung seit jeher im Mittelpunkt von Analysen steht. Diese rasanten Entwicklungen im Hinblick auf die Notwendigkeit zur Durchführung von Kosten- Nutzen-Analysen haben bei uns weder die FI 3/ 2008 Von der Qualitätsentwicklung zum evidenzbasierten Handeln 113 Ebene einer Fachnoch einer öffentlichen Diskussion erreicht. In der gesundheitsökonomischen Literatur werden mit Blick auf die jeweilige spezifische Fragestellung unterschiedliche Ansätze zur Ermittlung der Effizienz medizinischer Interventionen diskutiert (Kurscheid 2004; Vogel & Wasem 2004). Bei allen Forschungstypen werden die Kosten monetär erfasst. Bei der Kosten-Nutzen-Analyse werden sowohl die Kosten als auch der Nutzen monetär festgestellt und ins Verhältnis zueinander gesetzt. Ohne Zweifel ist es nicht einfach, den Nutzen einer Förderung, Beratung, Behandlung etc. im sozialen Bereich zu monetarisieren, da der Nutzen häufig mehrdimensional ist, verzögert eintreten kann und oft Bereiche betrifft, die im Rahmen von Forschungsarbeiten nicht hinreichend erfasst werden können. Gleichwohl gibt es bereits einige empirische Studien zu Kosten-Nutzen-Analysen im Bereich der Jugendhilfe wie z. B. die Jugendhilfe-Effekte-Studie (JES) (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2002). In diesem Praxisforschungsprojekt wurden die Effekte untersucht, die sich über verschiedene Hilfearten verteilten, und dabei festgestellt, in welchem monetären Kosten-Nutzen-Verhältnis sie stehen. Auch aus der Frühförderung liegen die Ergebnisse aus zahlreichen Kosten-Nutzen- Analysen vor, allerdings nur von in englischsprachigen Ländern durchgeführten empirischen Studien. Dort werden bereits seit Mitte der 70er Jahre Kosten-Nutzen-Analysen zur Frühförderung durchgeführt (Barnett 2000), während sie bei uns bislang weitgehend fehlen. Es zeigte sich übereinstimmend, dass die untersuchten Frühförderprogramme neben einer höheren Lebensqualität der Kinder (Peterander 2006, 164f) in einem hohen Maße einen bedeutenden volkswirtschaftlichen Nutzen erbringen. Die Ergebnisse der Studien zeigten aber auch, dass insbesondere Langzeitstudien den großen Nutzen von Frühfördermaßnahmen transparent machen (Karoly 2001). Ausblick Evidenzbasierte Praxis - selten ist ein Konzept so kontrovers diskutiert worden. Es kann sein, dass sich die an hohen wissenschaftlichen Standards orientierten, randomisiert-kontrollierten Studien (RCTs) zum effektiven und effizienten Handeln in der Praxis in vielen Bereichen der Medizin bewährt haben. Dieser Ansatz ist auf pädagogisch-psychologische Handlungsfelder so nicht übertragbar. Die erwähnte pointierte Kritik seitens der Psychotherapie an einer Übertragung des evidenzbasierten Konzepts der Medizin auf ihren Fachbereich kann auch aus Sicht der Frühförderung geteilt werden. Zudem besteht zu wenig Klarheit darüber, welche wissenschaftlichen Ergebnisse letztlich als Nachweis für die Effektivität eines pädagogisch-psychologischen Handelns akzeptabel sind (Kriz 2008). In diesem Bereich ist die Frage der Effektivität einer Intervention/ Förderung vor allem durch die Beantwortung unterschiedlicher Fragestellungen mithilfe unterschiedlicher Methoden sinnvoll. Natürlich bedarf die Praxis in der Frühförderung einer noch stärkeren wissenschaftlichen Fundierung. Einen Beitrag hierzu können verschiedene an ihren Zielen und Aufgaben orientierte Forschungsmethoden leisten: Studien mit Experimental- und Kontrollgruppen, Korrelationsstudien, Einzelfallstudien wie auch qualitative Untersuchungsdesigns. Jede dieser Forschungsmethoden kann zur Spezifizierung von Qualitäts- und Effektivitätskriterien beitragen. Vergleichbar dem methodischen Vorgehen von Grawe (2005) können daraus induktiv frühförderrelevante Indikatoren abgeleitet werden, die den Standards empirischer Effektivitätsstudien entsprechen. Reviews dieser Studien eröffnen zudem die Möglichkeit, empirisch validierte Leitlinien auch für die interdisziplinäre Frühförderung zu entwickeln und somit einen gleichermaßen sinnvollen wie wichtigen Beitrag zur Qualitätsentwicklung zu leisten. Durch einen interdisziplinären Dialog mit Fachdisziplinen wie der Psychotherapie, Sozialpädagogik, Medizin, 114 Franz Peterander FI 3/ 2008 etc., die sich mit Fragen der Qualitätsentwicklung und Effektivität intensiv auseinandersetzen, könnten zukünftig in der Frühförderung wichtige Entwicklungen in diesem Bereich weitergeführt werden, stets wissend um ihre ureigensten Ziele und Aufgabenstellungen. Literatur Barnett, W. S. (2000). Economics of Early Childhood Intervention. In: J. P. Shonkoff & S. J. Meisels (Eds.). Handbook of Early Childhood Intervention. Cambridge: Cambridge University Press Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.). (2002). Effekte erzieherischer Hilfen und ihre Hintergründe. Stuttgart: Kohlhammer Döpfner, M. (2005). Wie wirksam ist Kinder- und Jugendpsychotherapie? Psychotherapeutenjournal. 2, 4, 258 - 266 Döpfner, M., Lehmkuhl, G. (2002). Die Wirksamkeit von Kinder- und Jugendpsychotherapie. 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Psychotherapeutenjournal 7, 2, 117 - 119 Kurscheid, T. (2004). Formen gesundheitsökonomischer Analysen. In: K. M. Lauterbach & M. Schrappe (Hg.). Gesundheitsökonomie, Qualitätsmanagement und Evidence-based Medicine. Stuttgart: Schattauer Lauterbach, K. M & Schrappe, M. (Hg.). (2004). Gesundheitsökonomie, Qualitätsmanagement und Evidencebased Medicine. Stuttgart: Schattauer Merchel, J. (2004). Zertifizierung und Qualitätssiegel: Risiken für den Prozess der Qualitätsentwicklung in der sozialen Arbeit. In: F. Peterander, O. Speck (Hg.). Qualitätsmanagement in sozialen Einrichtungen. 2. Auflage. München/ Basel: Ernst Reinhardt, 44 - 63 NICHD Early Child Care Research Network, Characteristics of Infant Child Care (1996). Factors Contributing to Positive Caregiving. Early Childhood Research Quarterly, 11, 269 - 306 Peterander, F. (2000). The best Quality cooperation between parents and experts in Early Intervention. Infants and Young Children, 12, 3, 32 - 45 Peterander, F. (2002). 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Peterander Ludwig-Maximilians Universität Department Psychologie Frühförderung Leopoldstr.13 D-80802 München E-Mail: peterander@lrz.uni-muenchen.de