eJournals Frühförderung interdisziplinär 28/1

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2009
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Umsetzung der Komplexleistung Frühförderung - bereits vollzogene und weiterhin notwendige Veränderungen in den Leistungsstrukturen

11
2009
Heike Engel
Dietrich Engels
Frank Pfeuffer
Die Komplexleistung Frühförderung wird in vielen Bundesländern nur zögerlich umgesetzt. Zum einen, weil die hierfür notwendigen Landesrahmenempfehlungen erst kürzlich in Kraft traten oder noch immer nicht vorliegen, zum anderen aber auch, weil die Umsetzung häufig gravierender organisatorischer und struktureller Umstellungsprozesse vor Ort bedarf. Der vorliegende Artikel basiert auf den Ergebnissen zu den Leistungsstrukturen des Forschungsprojekts „Datenerhebung zu den Leistungs- und Vergütungsstrukturen in der Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder“ im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Er widmet sich vor dem Hintergrund der rechtlichen Rahmenbedingungen zur Komplexleistung Frühförderung den derzeitigen Leistungsstrukturen sowie den verschiedenen Leistungsangeboten. Abschließend werden die Veränderungen, die im Rahmen der Umsetzung der Komplexleistung Frühförderung notwendig sind bzw. die die Umsetzung vermutlich mit sich bringen wird, aufgezeigt.
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Frühförderung interdisziplinär, 28. Jg., S. 3 - 11 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Originalarbeiten Umsetzung der Komplexleistung Frühförderung - bereits vollzogene und weiterhin notwendige Veränderungen in den Leistungsstrukturen Heike engel, DietricH engels, Frank PFeuFFer Zusammenfassung: Die Komplexleistung Frühförderung wird in vielen Bundesländern nur zögerlich umgesetzt. Zum einen, weil die hierfür notwendigen Landesrahmenempfehlungen erst kürzlich in Kraft traten oder noch immer nicht vorliegen, zum anderen aber auch, weil die Umsetzung häufig gravierender organisatorischer und struktureller Umstellungsprozesse vor Ort bedarf. Der vorliegende Artikel basiert auf den Ergebnissen zu den Leistungsstrukturen des Forschungsprojekts „Datenerhebung zu den Leistungs- und Vergütungsstrukturen in der Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder“ im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Er widmet sich vor dem Hintergrund der rechtlichen Rahmenbedingungen zur Komplexleistung Frühförderung den derzeitigen Leistungsstrukturen sowie den verschiedenen Leistungsangeboten. Abschließend werden die Veränderungen, die im Rahmen der Umsetzung der Komplexleistung Frühförderung notwendig sind bzw. die die Umsetzung vermutlich mit sich bringen wird, aufgezeigt. Schlüsselwörter: Komplexleistung Frühförderung, Frühförderungsverordnung, Interdisziplinäre Frühförderstelle Implementation of Combined Services of Early Childhood Intervention in Germany - Already Effected and Further Necessary Changes to the Structure of Services Summary: The implementation of the combined services of early childhood intervention (ECI) is proceeding at a slow pace in most federal states. This is partly due to the fact that the required framework recommendations of the federal states only came into force recently or are still not available. At the same time the implementation processes require extensive organisational and structural changes on the ground. This paper builds on the results concerning the structures of the services of a research project entitled “data collection on the structuring of services and payments in early intervention for children with disabilities or at risk of disability“ which has been carried out on behalf of Federal Ministry of Labour and Social Affairs. Against the backdrop of the legal framework conditions the combined services of early childhood intervention, the paper deals with current benefit structures and the different services offered. The paper concludes with the changes which the implementation of the combined services ECI will require or will likely entail. Keywords: Combined services ECI, regulation on ECI, interdisciplinary ECI-centres Einleitung In Deutschland erhielten am Jahresende 2006 rd. 107.000 1 behinderte oder von Behinderung bedrohte Kinder bis 7 Jahre Leistungen der Frühförderung in den bundesweit 635 bestehenden Frühförderstellen und 127 Sozialpädiatrischen Zentren. Sofern diese Kinder sowohl (heil-) pädagogische als auch medizinisch-therapeutische Leistungen erhalten, sollen diese nach § 30 SGB IX als Komplexleistung erbracht werden. Auf dieser Grundlage wurde die Verordnung zur Früherkennung und Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder (Frühförderungsverordnung - FrühV) erlassen, die seit dem 1. Juli 2003 in Kraft ist. Darin sieht § 2 Satz 3 FrühV vor, Näheres zu den Anforderungen an Interdisziplinäre Frühförderstellen (IFF) und Sozialpädiatrische Zentren (SPZ) durch Landesrahmenempfehlungen zu regeln (vgl. auch Breitkopf/ Sommer 2005). Zum Sommer 2006 waren in nur 8 Bundesländern Landesrahmenempfehlungen vereinbart. Zur Beförderung der zögerlichen Umsetzung der Komplexleistung Frühförderung hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales 4 Heike Engel et al. FI 1/ 2009 dem Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik, Köln (ISG) den Auftrag erteilt, das Forschungsprojekt „Datenerhebung zu den Leistungs- und Vergütungsstrukturen in der Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder“ durchzuführen. Im Rahmen dieses Projekts wurden alle Frühförderstellen und SPZ schriftlich befragt. Aufgrund der Rücklaufquoten (42 % der Frühförderstellen und 67 % der SPZ) und ihrer Verteilung sind die Ergebnisse der Befragung repräsentativ. Zudem wurden kriteriengeleitet 30 mitwirkungsbereite Einrichtungen (25 Frühförderstellen und 5 SPZ) ausgewählt. In diesen wurden vertiefende schriftliche und telefonische Befragungen durchgeführt, die teilnehmenden Einrichtungen haben jeweils 30 Akten von zufällig ausgewählten Kindern anhand eines Leitfadens analysiert, die Elternbefragung durch ihre Unterstützung ermöglicht und an zwei Workshops mit intensiven Diskussionen teilgenommen. Zudem wurden in sieben Regionen Diskussionsrunden mit den Frühförderstellen vor Ort und weiteren an der Frühförderung beteiligten Akteuren durchgeführt. Besonderer Dank gilt diesen 30 Einrichtungen für die sehr offene und konstruktive Zusammenarbeit. Die folgenden Ausführungen nehmen insbesondere die Veränderungen in den Leistungsstrukturen in den Blick, die mit der Umsetzung der Komplexleistung Frühförderung bereits vollzogen wurden oder sich abzeichnen. Weitere Aspekte, die im Rahmen des Forschungsprojekts bearbeitet wurden, werden an dieser Stelle nicht berücksichtigt. Rechtliche Vorgaben und Umsetzung in den Ländern Gemäß § 2 der FrühV wurden bis Anfang 2008 weitere Landesrahmenempfehlungen vereinbart und liegen in 13 Bundesländern vor (Bayern, Berlin, Brandenburg, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen- Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen). Die Landesrahmenempfehlungen der Länder unterscheiden sich in der Regelungstiefe, aber auch in der inhaltlichen Ausgestaltung. So gibt es auf der einen Seite Landesrahmenempfehlungen, die die Umsetzungsdetails weitestgehend an die Kommunen delegieren (z. B. Nordrhein-Westfalen). Auf der anderen Seite finden sich Landesrahmenverträge, in denen alle Umsetzungsdetails bis hin zur genauen Festlegung der Vergütungsregelungen und Vergütungssätze auf Landesebene vertraglich vereinbart wurden (z. B. Bayern). Inhaltlich enthalten die Landesrahmenempfehlungen neben anderen auch Regelungen zum Zugang zu den Leistungen sowie zur Qualitätssicherung. Zugang zu den Leistungen Das offene Beratungsangebot wird als ein wichtiges Leistungsmodul der familien- und wohnortnahen Frühförderstellen beschrieben: Die Eltern können mit ihren Kindern eine Beratung in der Frühförderstelle wahrnehmen und sofern ein Bedarf angezeigt scheint, der eine Frühförderung als Komplexleistung impliziert, werden weitere Schritte eingeleitet. In den Landesrahmenempfehlungen von sieben Ländern (Bayern, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Saarland, Sachsen, Schleswig-Holstein und Thüringen) ist das offene Beratungsangebot explizit Leistungsbestandteil einer Interdisziplinären Frühförderstelle. Um Komplexleistungen erhalten zu können, bedarf es immer eines Förder- und Behandlungsplans, welcher Ergebnis der interdisziplinären Eingangsdiagnostik ist und in der Interdisziplinären Frühförderstelle oder im Sozialpädiatrischen Zentrum unter pädagogischer und ärztlicher Verantwortung erstellt wird. Sofern die Eingangsdiagnostik in der Interdisziplinären Frühförderstelle durchgeführt wird, übernehmen die ärztliche Verantwortung in der Regel niedergelassene FI 1/ 2009 Umsetzung der Komplexleistung Frühförderung 5 Ärzte/ Ärztinnen, in einigen Bundesländern sind auch Ärzte/ Ärztinnen des öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) zugelassen. In Schleswig-Holstein sind dagegen als einzigem Bundesland ausschließlich Ärzte/ Ärztinnen des ÖGD zugelassen, während in Nordrhein-Westfalen neben den genannten auch eigene Ärzte/ Ärztinnen der Interdisziplinären Frühförderstelle die ärztliche Verantwortung übernehmen können. Qualitätssicherung Frühförderstellen, die in Zukunft Leistungen als Komplexleistung erbringen und damit IFF werden möchten, müssen interdisziplinär zusammenarbeiten und entsprechende räumliche und sächliche Ausstattungen vorweisen. Die Frühförderstellen müssen hierfür oftmals eine Zulassung beantragen und die entsprechenden Ausstattungsmerkmale nachweisen (Bayern, Brandenburg, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Thüringen). Die personelle Ausstattung in den IFF muss zur Durchführung der Komplexleistung geeignet sein, die nach § 30 SGB IX je nach Bedarf nichtärztliche therapeutische, psychologische, heilpädagogische, sonderpädagogische und psychosoziale Maßnahmen sowie die Beratung der Erziehungsberechtigten umfassen kann. Hierzu finden sich in einigen Bundesländern konkrete Vorgaben. Hamburg, das Saarland und Sachsen- Anhalt stellen auf die Festanstellung von mindestens drei Fachkräften ab, in Thüringen müssen zusätzlich zur Leitung drei Fachkräfte vorgehalten werden, von denen zwei fest angestellt sein müssen. Schleswig-Holstein sieht vier fest angestellte Fachkräfte vor, Brandenburg fünf und Mecklenburg-Vorpommern sechs. Kooperationen mit in den jeweiligen IFF nicht fest angestellten Berufsgruppen sind ausdrücklich geboten, wobei diese vertraglich gebunden sein müssen und die Kooperationspartner in die Arbeit der Interdisziplinären Frühförderstelle eingebunden werden sollen. Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt formulieren hier explizit, dass „virtuelle Interdisziplinäre Frühförderstellen“ ausgeschlossen sind. Thüringen untersagt Kooperationsverträge mit einem Umfang von weniger als 10 Stunden je Woche. Umsetzungsstand Zum Jahresende 2007 setzten bundesweit etwa 149 Frühförderstellen (rd. 24 %) die Komplexleistung Frühförderung nach § 30 SGB IX um, mit deutlichen regionalen Unterschieden: Knapp 90 % der Frühförderstellen in Bayern (112 IFF), jeweils die Hälfte der Frühförderstellen in Sachsen (20 IFF) und im Saarland (5 IFF) sowie 14 % der Frühförderstellen in Mecklenburg-Vorpommern (4 IFF) und 7 % der Einrichtungen in Nordrhein-Westfalen (8 IFF). Zudem setzten alle Zentren für Sozialpädiatrie und Frühförderung in Rheinland-Pfalz sowie alle Sozialpädiatrischen Zentren (KJA/ SPZ) in Berlin die Komplexleistung Frühförderung um.Die Unterschiede des Umsetzungsgrades in den Bundesländern hängen dabei zum einen von der Regelungstiefe der Landesrahmenvereinbarungen ab (s. o.) und zum anderen von den bestehenden Leistungsstrukturen. Leistungsstrukturen In den Bundesländern bestehen unterschiedliche Organisationsformen in der Frühförderung sowie in der therapeutischen Ausrichtung, die sich in der personellen Besetzung und in den Kooperationen widerspiegeln. 6 Heike Engel et al. FI 1/ 2009 Organisationsformen Einige Bundesländer weisen organisatorische Besonderheiten auf, die die Leistungsstrukturen, das Leistungsangebot und/ oder den Umsetzungsgrad beeinflussen: So konnten in Berlin und in Rheinland-Pfalz mit Unterzeichnung der jeweiligen Landesrahmenempfehlung alle Kinder- und Jugendambulanzen (Berlin) sowie Zentren für Frühförderung und Sozialpädiatrie (Rheinland-Pfalz) die Komplexleistung Frühförderung unmittelbar anbieten. Dies liegt daran, dass hier Frühförderstellen und Sozialpädiatrische Zentren eine organisatorische Einheit bilden, die formal Sozialpädiatrische Zentren nach § 119 SGB V sowie interdisziplinär besetzt sind und unter ärztlicher Leitung stehen. Andere Organisationsformen haben Einfluss auf das Angebotsspektrum. Zu nennen sind hier die Integrationshilfen in Kindertageseinrichtungen sowie Schwerpunkteinrichtungen, die in Bremen und in Hamburg die Frühförderung für Kinder ab 3 Jahren umsetzen. Hier sind die Frühförderstellen für Kinder von der Geburt bis zum dritten Lebensjahr zuständig. Schließlich ist die Frühförderung in den östlichen Bundesländern, in Berlin und in Rheinland-Pfalz traditionell stark an integrative Kindertageseinrichtungen angebunden. Personelle Besetzung Die Frühförderstellen arbeiten in vielfältiger Weise interdisziplinär (vgl. Behringer/ Höfer 2005, S. 5ff.), sie können aber (heil-)pädagogisch oder interdisziplinär besetzt sein. Im Rahmen der Analysen des ISG basieren die Kriterien für die interdisziplinäre Besetzung von Frühförderstellen auf dem Empfehlungsentwurf der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) (2002). Hiernach handelt es sich um eine interdisziplinär besetzte Frühförderstelle, sofern sie über mindestens drei fest angestellte Mitarbeiter/ innen mit 1,5 Vollzeitäquivalenten sowohl aus der pädagogisch-psychologischen als auch aus der medizinisch-therapeutischen Berufsgruppe verfügt. Zu unterscheiden sind hierbei interdisziplinär besetzte Frühförderstellen (nach den Kriterien des BAR-Entwurfs) und IFF nach der FrühV. Letztere sind nur in den Bundesländern zu finden, die bereits eine Landesrahmenempfehlung haben und entsprechend anerkannt sind. Werden die Kriterien des Entwurfs der BAR zugrunde gelegt, handelt es sich bei 39 % der befragten Einrichtungen um rein heilpädagogisch besetzte Frühförderstellen. Diese beschäftigen ausschließlich Fachkräfte aus dem pädagogisch-psychologischen Bereich. Für einen Teil von ihnen gilt, dass sie die Kriterien schon deshalb nicht erfüllen, weil sie weniger als drei fest angestellte Mitarbeiter/ innen beschäftigen bzw. über weniger als 1,5 Vollzeitäquivalente verfügen. 61 % der Frühförderstellen sind dagegen interdisziplinär besetzt. Dabei sind bei 21 % der Frühförderstellen sowohl Sprachals auch Ergo- und Physiotherapeut/ innen in das interdisziplinäre Team eingebunden und bei 40 % der Frühförderstellen sind zumindest ein bis zwei der therapeutischen Fachrichtungen vertreten. Insgesamt können folgende Gruppen ausgemacht werden: In Berlin sind alle Sozialpädiatrischen Zentren und in Rheinland-Pfalz alle Zentren für Frühförderung und Sozialpädiatrie interdisziplinär besetzt (s. o). In Baden-Württemberg und in Bayern sind ebenfalls fast alle allgemeinen Frühförderstellen interdisziplinär besetzt. In Hessen, Nordrhein-Westfalen und in Sachsen sind dagegen neben rein oder überwiegend heilpädagogisch besetzten Frühförderstellen etwa ein Drittel bis zur Hälfte der Einrichtungen interdisziplinär besetzt, während in den übrigen Bundesländern ein relativ hoher Anteil der Frühförderstellen rein heilpädagogisch besetzt ist. FI 1/ 2009 Umsetzung der Komplexleistung Frühförderung 7 Rein heilpädagogisch besetzte Frühförderstellen leisten eine interdisziplinär abgestimmte Frühförderung, sofern sie mit niedergelassenen Therapeut/ innen kooperieren. Das trifft auf fast alle der heilpädagogischen Frühförderstellen zu, allerdings nur zu einem geringen Anteil auf der Grundlage eines Kooperationsvertrages. Wird dieses Kriterium herangezogen, dann sind 72 % der Frühförderstellen interdisziplinär besetzt oder arbeiten durch vertraglich gestaltete Kooperationsbeziehungen interdisziplinär. Kooperationen Die Frühförderstellen unterhalten vielfältige Kooperationsbeziehungen und sind stark in die jeweiligen örtlichen und überregionalen Netzwerke früher Hilfen eingebunden. Kooperationen mit anderen Einrichtungen basieren dabei in der Regel (noch) nicht auf entsprechenden vertraglichen Vereinbarungen. Nach den Befragungsergebnissen des ISG unterhalten 5 % der Frühförderstellen Kooperationsbeziehungen mit anderen (allgemeinen oder speziellen) Frühförderstellen auf vertraglicher Grundlage. Jeweils 7 % der Frühförderstellen haben Kooperationsverträge mit einem SPZ bzw. niedergelassenen Ärzt/ innen geschlossen. Vergleichsweise viele Frühförderstellen (21 %) arbeiten vertraglich gebunden mit therapeutischen Praxen zusammen. Eine Vielzahl der befragten Frühförderstellen nannte weitere Kooperationspartner, beispielsweise kommunale Dienste wie Jugend- und Gesundheitsämter, mit denen zum Teil vertragliche Vereinbarungen zur Zusammenarbeit abgeschlossen wurden. Auffällig ist, dass insbesondere interdisziplinär besetzte Frühförderstellen vertraglich abgesicherte Kooperationen mit therapeutischen Praxen eingegangen sind. Dies trifft für 37 % der vollständig interdisziplinär besetzten und für 15 % der teilweise interdisziplinär besetzten Frühförderstellen zu. Die heilpädagogischen Frühförderstellen arbeiten zwar regelmäßig interdisziplinär mit therapeutischen Praxen zusammen, von ihnen haben aber nur 15 % dazu eine vertragliche Vereinbarung abgeschlossen. Die bislang verabschiedeten Landesrahmenempfehlungen nach § 2 FrühV sehen vor, dass die interdisziplinäre Eingangsdiagnostik als Bestandteil der Komplexleistung Frühförderung durch niedergelassene Kinderärzte/ Kinderärztinnen eingeleitet wird, zum Teil kann ein Zugang auch über einen Arzt/ eine Ärztin des öffentlichen Gesundheitsdienstes erfolgen. Der Förder- und Behandlungsplan wiederum muss von dem/ der für die Diagnostik verantwortlichen Arzt/ Ärztin und einer Fachkraft der Interdisziplinären Frühförderstelle unterzeichnet werden. Nach den Befragungsergebnissen setzten zum Jahresende 2006 34 % der Frühförderstellen aktuell ein Kooperationsmodell mit Ärzten/ Ärztinnen um, das den genannten Anforderungen genügt. 66 % der Frühförderstellen gaben zum Befragungszeitpunkt an, dass sich ihre Zusammenarbeit mit Ärzten/ Ärztinnen darin erschöpft, sich im Bedarfsfall z. B. telefonisch über einzelne der geförderten Kinder auszutauschen. Leistungsangebote Je nach struktureller und organisatorischer Ausrichtung der Einrichtungen bieten die Einrichtungen verschiedenen Leistungsspektren an, die Beratung, Diagnostik, Förderleistungen, therapeutische Leistungen sowie ärztliche Leistungen umfassen können. Das jeweilige Leistungsangebot bedingt dabei oftmals den Ort der Leistungserbringung. Beratungsleistungen und diagnostische Leistungen Die Frühförderstellen bieten verschiedene Beratungsleistungen an: Beratungsleistungen, die für die Eltern bzw. Erziehungsberechtig- 8 Heike Engel et al. FI 1/ 2009 ten erbracht werden, und fachliche Beratungsleistungen für andere Akteure im System der Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder. Zur Elternberatung zählt neben der offenen Erstberatung die Beratung, Unterstützung und Anleitung der Eltern während des laufenden Förderprozesses. Letztere realisiert sich in nicht formalisierten Beratungs- und Unterstützungsgesprächen, die sich im Rahmen einer Fördereinheit für das Kind ergeben, in gesonderten Einzelberatungsgesprächen mit Eltern sowie in einer Beratung, Unterstützung und Anleitung begleiteter Elterngruppen. Elternberatung kann sich auch als allgemeine Sozialberatung, psychologische Beratung oder Beratung in Erziehungsfragen realisieren. Die Beratungsleistungen werden überwiegend der Arbeit mit dem Kind gleichgestellt. Dies bedeutet in Einrichtungen mit einer Einzelleistungsabrechnung, dass sowohl die Arbeit mit dem Kind als auch Beratungsleistungen als Fördereinheit abgerechnet werden können. Eine Minderheit vertritt hier die Auffassung, dass allein die Arbeit mit dem Kind leistungsauslösend sein kann und während dieser Fördereinheit auch Elterngespräche geführt werden. Diese Minderheitenmeinung widerspricht allerdings den Vorgaben des Gesetzgebers. Diagnostische Leistungen spielen als Eingangsdiagnostik am Anfang des Förderprozesses eine herausgehobene Rolle. Aber auch die Verlaufs- und Abschlussdiagnostik hat einen hohen Stellenwert. Je nach personellen Kapazitäten einer Einrichtung ist die (heil-) pädagogische und psychologische Diagnostik einerseits von der medizinisch-therapeutischen und ärztlichen Diagnostik andererseits zu unterscheiden. Interdisziplinär aufgestellte Einrichtungen führen in der Regel eine interdisziplinäre Eingangsdiagnostik durch, wobei auch bereits vorliegende ärztliche Diagnostiken vom jeweiligen Sozialpädiatrischen Zentrum oder vom niedergelassenen Kinder- oder Facharzt einbezogen werden. Förder- und Behandlungsleistungen Die Förderung und Behandlung der Kinder umfasst (heil-)pädagogische Förderleistungen, medizinisch-therapeutische Leistungen sowie ärztliche Leistungen. „Heilpädagogische Förderleistungen“ nach § 56 SGB IX umfassen neben heilpädagogischen Leistungen auch sonderpädagogische, sozialpädagogische, pädagogische, psychologische Leistungen sowie motopädische bzw. motologische Leistungen. Fast alle Frühförderstellen bieten heilpädagogische Frühförderleistungen (auch oder ausschließlich) als Einzelleistungen an (86 %). Die Differenz zu 100 % erklärt sich hierbei durch den Umstand, dass ein Teil der Frühförderstellen die Auffassung vertritt, dass ihre Leistungen immer in einem interdisziplinären Rahmen erbracht werden und deshalb nicht als Einzelleistungen qualifiziert werden können. Medizinisch-therapeutische Behandlungsleistungen umfassen physiotherapeutische, sprachtherapeutische und ergotherapeutische Leistungen. Ob alle genannten Therapieformen oder nur einige davon seitens der Frühförderstelle erbracht werden, hängt davon ab, ob die Einrichtung über entsprechend qualifiziertes Personal in Festanstellung verfügt oder ob sie niedergelassene Heilmitteltherapeut/ innen auf Kooperationsbasis in das Team der Einrichtung einbezieht. Medizinisch-therapeutische Maßnahmen als Einzelleistungen werden von 27 % der Frühförderstellen erbracht. Auch bei diesem Befragungsergebnis kommt zum Tragen, dass einige Frühförderstellen den Begriff Einzelleistung ablehnen. 13 % der Frühförderstellen erbringen zum Befragungszeitpunkt die Komplexleistung Frühförderung nach den Regelungen der jeweiligen Rahmenvereinbarung, wobei ein Teil der Frühförderstellen mit entsprechender vertraglicher Vereinbarung ausschließlich die Komplexleistung Frühförderung anbieten. FI 1/ 2009 Umsetzung der Komplexleistung Frühförderung 9 Die Frühförderstellen beschäftigen nur in Ausnahmefällen Ärzte/ Ärztinnen und bieten weit überwiegend keine eigenen ärztlichen Leistungen an. Die SPZ stehen dagegen unter ärztlicher Leitung und sollen nach dem Altöttinger Papier (Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin e.V. 2001) über zwei sozialpädiatrische Teams mit jeweils einem Kinderarzt mit spezieller Qualifikation verfügen. Neben diesen Leistungen im direkten Kontakt mit den Kindern und ihren Eltern erbringen die Einrichtungen indirekte Leistungen, also Leistungen bzw. Tätigkeiten ohne unmittelbaren Kontakt mit den geförderten Kindern und begleiteten Eltern. Ort der Leistungserbringung Die Leistungen der Frühförderung können ambulant in der jeweiligen Einrichtung oder mobil-aufsuchend im Elternhaus oder in der Kindertagesstätte/ dem Kindergarten erbracht werden, wobei die mobile Leistungserbringung traditionell ein Grundmerkmal allgemeiner Frühförderstellen bildet (vgl. auch Thurmair/ Naggl 2003, S. 187ff.). Ein wichtiges Argument für eine mobil-aufsuchende Frühförderung stellt die erforderliche Abstimmung der Leistungen auf die lebensweltliche Umgebung dar. Zudem spielt die mobilaufsuchende Frühförderung in ländlichen Regionen eine besondere Rolle. Im Bundesdurchschnitt werden aktuell rd. zwei Drittel der Leistungen mobil-aufsuchend erbracht, rd. ein Drittel dagegen ambulant. Dabei zeigen die Befragungsergebnisse, dass in interdisziplinär besetzten Frühförderstellen die Leistungserbringung in ambulanter Form dominiert. In Ländern mit hohen Anteilen interdisziplinär besetzter Frühförderstellen werden die Leistungen der Frühförderung überdurchschnittlich häufig in ambulanter Form erbracht. Dies gilt für Baden-Württemberg (70 %), Bayern (54 %), Hessen (48 %), Nordrhein-Westfalen (44 %) und Thüringen (48 %). In den anderen Ländern überwiegt dagegen eine Schwerpunktsetzung auf mobilaufsuchender Frühförderung. Besonders hoch sind diese Anteile in Brandenburg (91 %) und in Schleswig-Holstein (92 %). Veränderungen - ein Ausblick Mit der Komplexleistung Frühförderung sollen nach der Intention des Gesetzgebers die unterschiedlichen Leistungsarten inhaltlich abgestimmt, optimiert und die Inanspruchnahme dieser Leistungen erleichtert werden. Die mit dieser Intention getroffenen Regelungen im Rahmen des SGB IX und der Frühförderungsverordnung wurden in den Bundesländern unterschiedlich umgesetzt und treffen vor Ort auf verschiedene Ausgangssituationen. So entsprachen in Berlin und in Rheinland-Pfalz die bereits existierenden Strukturen den Erfordernissen der Frühförderungsverordnung, sodass hier keine Umstrukturierungsprozesse benötigt wurden. Besonders deutlich zeigt sich dies darin, dass die Landesrahmenempfehlung in Rheinland-Pfalz im November 2007 unterzeichnet wurde und rückwirkend zum 1. 1. 2006 in Kraft treten konnte. In Bayern wurde ein Landesrahmenvertrag mit einem sehr hohen Detaillierungsgrad (bis hin zu den Entgelten) geschlossen, der für alle Frühförderstellen in Bayern gilt. In Sachsen wurde ähnlich verfahren. In diesen beiden Ländern setzen entsprechend auch die meisten Einrichtungen die Komplexleistung Frühförderung um. In den übrigen Bundesländern mit Landesrahmenvereinbarungen erfolgt eine schrittweise Umsetzung. Starkem Veränderungsdruck unterliegen dabei insbesondere die bislang rein oder überwiegend (heil-)pädagogisch ausgerichteten Frühförderstellen. Sie müssen sich nämlich interdisziplinär besetzen, entweder durch in- 10 Heike Engel et al. FI 1/ 2009 terne interdisziplinäre Besetzung oder durch vertraglich gebundene Kooperationen mit niedergelassenen Praxen. Damit ändern sich auch die Rahmenbedingungen für die niedergelassenen Therapeut/ innen entscheidend. Sofern sie einen Kooperationsvertrag mit einer Frühförderstelle eingehen, können sie sowohl Kinder mit Komplexleistungsbedarf als auch mit isoliertem Bedarf an medizinisch-therapeutischen Leistungen therapieren. Haben sie keinen Kooperationsvertrag, hängt ihre zukünftige Arbeitweise und ihre zukünftige Klientel davon ab, ob Wahlmöglichkeiten zwischen einer Komplexleistung und Einzelleistungen bestehen: Erhalten Kinder mit heilpädagogischem und medizinisch-therapeutischem Förderbedarf ohne Wahlmöglichkeit eine Komplexleistung, so werden diese Kinder nicht mehr in niedergelassenen Praxen ohne Kooperationsvertrag therapiert. Zwei Drittel der Frühförderstellen haben zudem noch kein Kooperationsmodell für die zukünftige Zusammenarbeit mit den Ärzten/ Ärztinnen, die bei der Interdisziplinären Eingangsdiagnostik und der Erstellung des Förder- und Behandlungsplans im Rahmen der Komplexleistung Frühförderung zwingend erforderlich ist. Hierfür kommen im Prinzip vier Modelle in Frage: eine Festanstellung von Ärzten/ Ärztinnen („internes Modell“), eine enge Zusammenarbeit mit Ärzten/ Ärztinnen eines Sozialpädiatrischen Zentrums („Delegationsmodell SPZ“) oder mit Ärzten/ Ärztinnen des öffentlichen Gesundheitsdienstes („Delegationsmodell ÖGD“) sowie eine systematische Zusammenarbeit mit einzelnen niedergelassenen Kinderärzten/ Kinderärztinnen, die in der Frühförderstelle tätig werden („externes Modell“). Alle vier Modelle werden aktuell umgesetzt. Insbesondere heilpädagogisch ausgerichtete Frühförderstellen arbeiten mobil-aufsuchend, und diese Arbeitsweise nimmt mit zunehmender Interdisziplinarität der Einrichtungen ab. Dies bedeutet auch, dass die mobil-aufsuchende Arbeitsweise durch die Umsetzung der Komplexleistung möglicherweise zurückgedrängt wird. Mobil-aufsuchende Förderung muss aber aus zwei Gründen in der bisherigen Form bestehen bleiben: Zum einen ist die mobil-aufsuchende Förderung ein integraler Bestandteil der lebensweltorientierten Arbeit der Frühförderstellen. Zum anderen haben in ländlichen Regionen die Eltern oftmals Schwierigkeiten, mit ihrem Kind in die Frühförderstelle zu kommen. In einigen Fällen muss mit Umsetzung der Komplexleistung Frühförderung die mobile Förderung allerdings gesondert begründet werden und wird somit keine Regelleistung mehr sein. Die besondere Begründung für eine mobile Leistungserbringung fordern vor allem die Krankenkassen, die aufgrund ihrer gängigen Praxis ambulante Leistungen finanzieren.Sozialpädiatrische Zentren, die den im Altöttinger Papier festgelegten Qualitätskriterien folgen, erfüllen die Anforderungen zur Umsetzung der Komplexleistung Frühförderung. Allerdings sehen einige SPZ die fallbezogene gemeinsame, sich ergänzende Arbeit der SPZ und Frühförderstellen mit der Umsetzung der Komplexleistung bedroht, sofern IFF und SPZ bei der Erbringung einer Komplexleistung gegenseitig ausgeschlossen werden. Die Frühförderverordnung stellt diesbezüglich allerdings nicht auf einen Ausschluss der Einrichtungen, sondern auf den Ausschluss von Doppelleistungen ab. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich alle an der Frühförderung beteiligten Akteure (Frühförderstellen, Sozialpädiatrische Zentren, niedergelassene Therapeuten/ Therapeutinnen, Kinderärzte/ Kinderärztinnen) im Zuge der Umsetzung der Komplexleistung Frühförderung organisatorischen und strukturellen Herausforderungen stellen müssen. Besonders deutliche Umstellungsprozesse dieser Art wird es dabei in Regionen mit überwiegend (heil-) pädagogisch arbeitenden Frühförderstellen geben. FI 1/ 2009 Umsetzung der Komplexleistung Frühförderung 11 Literatur Behringer, L. u. R. Höfer (2005). Wie Kooperation in der Frühförderung funktioniert. Ernst Rheinhardt, München/ Basel. Breitkopf H. und R. Sommer (2005). Komplexleistung Frühförderung - Was wurde bisher erreicht, was ist noch zu tun? Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, 10/ 2005, 365 - 369. Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (2002): Diskussionsentwurf. Gemeinsame Empfehlung zur Früherkennung und Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder nach § 30 Abs. 3 SGB IX (Gemeinsame Empfehlung „Früherkennung/ Frühförderung“). Stand: 11. November 2002. Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin e.V. (2001): Grundlagen und Zielvorgaben für die Arbeit im Sozialpädiatrischen Zentrum - Strukturqualität, Diagnostik, Therapie - „Altöttinger Papier“. FrühV (2003): Verordnung zur Früherkennung und Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder (Frühförderungsverordnung - FrühV) vom 24. Juni 2003, BGBl I, S. 998 vom 30. Juni 2003, in Kraft seit dem 1. Juli 2003. Thurmair, M. und M. Naggl (2003): Praxis der Frühförderung. Ernst Reinhardt, München/ Basel. Anmerkung 1 Eigene Hochrechnung des ISG auf Basis der Befragungsergebnisse von Frühförderstellen und SPZ. Die Kinder mit Leistungen in Frühförderstellen und SPZ sind herausgerechnet. Kinder mit Sinnesbehinderungen, die Leistungen in speziellen Frühförderstellen erhalten, konnten hier aufgrund der unsicheren Datenlage nicht berücksichtigt werden. Dr. Heike engel Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik, Köln Barbarossaplatz 2 D-50674 Köln E-Mail: engel@isg-institut.de