Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2009
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Aus der Praxis: Harl.e.kin-Nachsorge
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Sabine Höck
Eine Erfolgsgeschichte vom lokalen Pilotprojekt zum Synonym für ein bayernweites Modell niedrigschwelliger, frühzeitiger, interdisziplinär-interinstitutioneller Betreuung von Familien mit Früh- und Risikogeborenen
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Aus der Praxis Harl.e.kin-Nachsorge Eine Erfolgsgeschichte vom lokalen Pilotprojekt zum Synonym für ein bayernweites Modell niedrigschwelliger, frühzeitiger, interdisziplinärinterinstitutioneller Betreuung von Familien mit Früh- und Risikogeborenen Sabine Höck Seitens der Frühförderung wird immer wieder berichtet, dass Familien mit ehemaligen Frühgeborenen und eindeutigem Beratungs- und Förderbedarf erst sehr spät, d. h. jenseits des ersten, häufig sogar des dritten Lebensjahres zu ihnen kommen, wobei ein erheblicher Teil zwar im ersten Lebensjahr medizinische Therapie erhielt, dies aber häufig auf den motorischen Bereich beschränkt blieb und elternbezogene Angebote kaum vorkamen. Seitens der Kliniken wird aus eigenem Erleben (Wiederaufnahmen, telefonische Beratungsbitten …) und nach Rückmeldungen von den betroffenen Familien ein deutlicher Bedarf an umfassender Übergangsbetreuung von der hochprofessionellen und stark strukturiert-gestützten Betreuung des Klinikkontextes in die häusliche Umgebung beschrieben. Das Angebot der Harl.e.kin-Nachsorge setzt überlappend an den jeweiligen Schnittstellen an: zwischen neonatologischen und häuslichen Bedingungen; zwischen Prävention und Intervention; zwischen kind-, eltern-, und netzwerkbezogenem Betreuungsbedarf und zwischen Klinik, Frühförderung, SPZ und Hausarztbetreuung. Für ein derartiges Angebot existiert keine Regelfinanzierung, da es weder auf die Krankenkassenleistungen der sozialmedizinischen Nachsorge (SGB V, § 43 (2)) noch auf die Eingliederungshilfe (SGB IX, §§ 30, 56) oder Jugendhilfe (SGB VIII, §§ 28; 35 a …) zurückgreifen kann. Um überhaupt eine derartige interdisziplinäre und interinstitutionelle Betreuung als Regel-/ Routineangebot langfristig d. h. über einen Projektstatus hinaus finanzieren zu können, muss eine Mischfinanzierung kalkuliert werden, die staatliche Unterstützung seitens zuständiger Ministerien, Gemeinden, bürgerschaftliches Engagement und Sponsoren einschließt. Da es sich bei dem Projekt der Harle.kin-Nachsorge um ein neuartiges Modell der Vernetzung von Klinik und Frühförderung handelt, wird es mit einer Anschubfinanzierung seitens des Bayerischen Sozialministeriums unterstützt und fachlich von der Arbeitsstelle Frühförderung Bayern begleitet. Erfahrungen aus der Geschichte des Projekts Das Startmodell wurde von Prof. Dr. R. Roos (Direktor der Kinderklinik des Harlachinger Krankenhauses und Neonatologe) und Dr. S. Höck (psychotherapeutische Liasontätigkeit dort und geschäftsführende Leiterin der Medizinischen Abteilung der Arbeitsstelle Frühförderung Bayern) entwickelt. Neben der Interdisziplinarität des Angebots sollte es vor allem niedrigschwellige Zugangsbedingungen für Betroffene und Professionelle bieten: • Für die Familien durch die Form eines obligaten Angebots, unbürokratisch, kostenfrei, durch den Einsatz der ihnen bekannten Neoschwestern im Casemanagement, durch das beratende Angebot des mobilen Dienstes der Frühförderstelle mit interaktionsorientiertem Schwerpunkt und von beiden Diensten mit Hausbesuchen; • für die Schwestern der Neugeborenen-Intensivpflegestation (NIPS) mit praxisbegleitender Fortbildung und interkollegialer Beratung zu den pädagogisch-psychologischen Aspekten ihrer Tätigkeit. Dabei griffen wir auf bewährte Modelle und Erfahrungen der jeweiligen Institutionen zurück: seitens der Klinik auf das Case-Management und die ambulante Kinderkrankenpflege, seitens der Frühförderung auf den mobilen Dienst der Frühförderstellen (Erfahrungen in Kitas) und die Entwicklungspsychologische Beratung EPB, seitens der Arbeitsstelle Frühförderung Bayern auf Erfahrungen in organisatorischer Leitung und fachlicher Begleitung umschriebener Praxisprojekte. Durch die fachlichen und institutionellen Einbindungen beider war es möglich, schnell Interesse und Unterstützung in Klinik, Frühförderung, dem gemeinnützigen Verein der Klinik und Sozialministerium zu finden. So ist der Begriff der Harl.e.kin-Nachsorge ursprünglich verbunden mit eben dieser Institution, dem Harl.e.kin-Verein, und den konkreten Fachpersonen, die anknüpfen an eine gemeinsame Geschichte erfolgreicher/ gelungener Zusammenarbeit auf der NIPS. Frühförderung interdisziplinär, 28. Jg., S. 130 - 132 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel FI 3/ 2009 Harl.e.kin-Nachsorge 131 In der Münchner Kinderklinik Harlaching wurden über viele Jahre gute Erfahrungen im stationären Bereich gemacht mit einem zusätzlichen psychosozialen Angebot neben hochspezialisierter medizinischer Therapie. Diese gemeinsamen Erfahrungen mit den Familien und unter uns Professionellen auf Station und das Erleben der Notwendigkeit der Betreuung im Übergang von der Klinik nach Hause schaffte die Basis und Bereitschaft, sich auf ein Projekt mit einem anderen, nicht vertrauten System, nämlich dem der Frühförderung, einzulassen. Das Pilotprojekt der „Harl.e.kin-Frühgeborenen Nachsorge“ (2003 bis 2006) konnte an diese gemeinsam entwickelte Arbeitsstruktur anknüpfen und diese auf die Übergangsbetreuung der Familien nach Hause durch die Kinderkrankenschwestern und ein weiteres fachliches Angebot durch den mobilen Dienst der Frühförderstelle übertragen. Für den neuen Part der Frühförderung erfolgte die Erweiterung der Handlungsweise zuerst über die fachliche Akzeptanz einer ähnlich fachlich arbeitenden Person, später über die konkrete Fallerfahrung mit dem Erleben der persönlichen und fachlichen Kompetenz und persönlicher Akzeptanz und Wertschätzung (U. Köhler-Sarimski, Lebenshilfe München III). Neue Standorte In einem weiteren Schritt stellte sich die Frage, ob ein hohes Interesse von Kliniken und Frühförderstellen an einer frühzeitigen Begleitung von Familien mit Früh- und Risikogeborenen als gemeinsamer Nenner ausreicht, um an anderen Standorten ohne die fachlich-persönlich gewachsene Kooperation vergleichbare Strukturen aufzubauen, und welche Voraussetzungen dafür erforderlich sind (Projekt „Implementierung der Harl.e.kin-Nachsorge in Bayern“ ab 2006). 2006 starteten wir mit den Standorten Rosenheim, Nürnberg und Garmisch-Partenkirchen, 2007 folgten Würzburg, Kaufbeuren und Landshut, und 2008 begannen Bamberg und Regensburg. Bewusst wählten wir Kliniken zur Kooperation aus, die als Perinatalzentren in unterschiedlichen Levels eingestuft sind. Wie beim Pilotprojekt gingen wir von einem hohen logistischen und personellen Aufwand für die Koordination aus. Dies betrifft die zentrale Projektleitung (zusätzliche Verstärkung ab 2007 durch Frau Dr. R. Berger) und auch die Rolle der StandortkoordinatorInnen. Dies fanden wir bei jedem Standort neu bestätigt. Die fachliche und persönliche Akzeptanz der zentralen Koordination, bei der beide Ärztinnen Erfahrungen in den jeweiligen Systemen haben, spielte dabei kein unwesentliche Rolle. Beginnend mit der Einführung der Projektidee in die jeweiligen Systeme über die Stützung der interinstitutionellen Vernetzung in Leitungs- und Arbeitsebenen bis zur Beratung und Begleitung der neu gebildeten Teams müssen diese zentralen Koordinatorinnen oft über längere Zeiträume eine tragende Rolle einnehmen, wobei für das Gelingen die Individualität und Autonomie des einzelnen Standortes ausreichend berücksichtigt werden muss. Für die einzelnen Standorte ist vor allem der Prozess bedeutsam, von eher additivem zu interdisziplinärem Arbeiten in Beratung, Begleitung und Unterstützung der Familien seitens Schwestern und mobiler Dienst zu kommen und eine eigene Identität mit aufgabenbezogener Teamstruktur und adäquater Arbeitskultur zu entwickeln bei klar dominierender Einbindung in die jeweilige Institutionshierarchie. Hilfreich erlebt wurden dabei die Projektvorgaben und gemeinsamen Erarbeitungen von Qualitätskriterien, die sich inzwischen von der „Blaupause“ des Pilotprojektes gelöst, weiterentwickelt und zu einer gemeinsamen Identität der Projektstandorte der „Harl.e.kin-Nachsorge“ geführt haben. Konzeptionelle Kernpunkte Die Niedrigschwelligkeit ist weiter tragendes Element für das Angebot einer Betreuung im Übergang von Klinik nach Hause. In der Klinik erfolgt die Einführung als Angebot ausdrücklich nicht für Hochrisikokonstellationen, sondern allgemein für Frühgeborene mit dezenten Regulationsproblemen und verunsicherten Eltern, bis zu komplexeren Problemstellungen, egal ob kind- oder elternbezogen. Der Bezug zu den Familien erfolgt durch Schwestern, die ihnen vertraut sind, die im stationären Bereich bereits eine Vertrauensbeziehung aufgebaut haben, die das Kind und die Familie, Höhen und Tiefen bisheriger Entwicklung kennen. Das Angebot erfolgt lebensbereich- und alltagsbezogen, d. h. als eine prinzipielle Gehstruktur (nach Hause), Begleitstruktur (reales Begleiten zum Hausarzt, zu Therapeuten, zu Institutionen, wenn stützend erforderlich) und fachliche Vernetzungsstruktur (der erste Hausbesuch als „Tandem“ empfohlen, Beratung in pflegerischen Dingen durch die vertraute Schwester, psychosoziale Beratung durch die Fachkraft des mobilen Dienstes der Frühförderstelle). Ausführliche Telefonberatungen (mind. 10 bis 30 min), die „Alltagskrisen“ direkt erfassen können, werden viel gewünscht und angeboten. Als Kernsatz für alle Beteiligten gilt: „Hilfe zur Selbsthilfe - so viel wie nötig, so wenig wie möglich.“ 132 Sabine Höck FI 3/ 2009 Für die in pflegerischen Aspekten hochkompetenten Kinderkrankenschwestern bietet zu psychosozialen Aspekten ihrer Tätigkeit die Fachlichkeit des mobilen Dienstes der Frühförderstelle ein „Sicherheitsnetz“ und auch umgekehrt. Eine Casemanagement-Ausbildung ist wünschenswert, aber nicht Einstiegsvoraussetzung für die Kinderkrankenschwestern. Inzwischen haben aber einzelne beteiligte Kliniken begonnen, Schwestern diese Ausbildung zu ermöglichen. Für die Fachkraft aus dem Bereich der Frühförderung bleiben weiterhin - neben der persönlichen Eignung - höhere fachliche Anforderungen mit spezifischen Fachkenntnissen in Elternberatung, Gesprächsführung, mit Erfahrungen mit abweichender kindlicher Entwicklung, mit Vernetzungserfahrung, mit hochspezialisierter Kompetenz in interaktionsorientierter videogestützter Beratung (EPB), sowie die Verankerung im System der Interdisziplinären Frühförderung mit konkreter Frühförder-Arbeit. Erfahrungen Die Erfahrungen in der Begleitung der Familien, die von den neuen Standorten berichtet werden, decken sich mit denen im Pilotprojekt: Das Angebot eines Hausbesuchs durch die vertraute Schwester, die Beratung in pflegerischen Fragen, Stützung im Übergang in den eigenen Alltag zu Hause wird als sehr hilfreich erlebt und gerne angenommen. Bei Unsicherheiten in der Ernährung, Umgang mit Schreien, Schlaf- und Wachphasen sind diese nach der Entlassung aus der Klinik die bevorzugten Ansprechpartnerinnen. Hier erleben sich die Schwestern auch als sicher und gefragt. Erfahrungen sammeln müssen alle mit dem neuen Rollenverständnis: beratend, begleitend und vermittelnd zu arbeiten, wenn es den pflegerischen Rahmen überschreitet: Wie diese Themen ansprechen, aufgreifen, und wie die psychosoziale Fachkraft gut einführen? Hier hat sich das Tandem beim Erstbesuch bewährt, und auch eine sehr aktive, zugehende Information der Fachkraft des mobilen Dienstes über die eigenen fachlichen Ansätze. Die Angebote der Entwicklungspsychologischen Beratung, auch videogestützt, Information zu Regulationsbesonderheiten und Entwicklungsbedürfnissen der Kinder, Krisenintervention bis hin zur Beratung zur Verarbeitung von Behinderungen/ Auffälligkeiten der Kinder, und die Vermittlung zu anderen Institutionen wie Sozialpädiatrische Zentren oder Frühförderstellen werden dann viel und hilfreich eingesetzt, wenn die Kooperation im Team funktioniert. Die enge Ankopplung an die Klinik, der Umgang mit der ganz anderen Arbeitsweise im Klinikalltag sind Hürden, die die Fachkräfte der mobilen Dienste der Frühförderstellen überwinden müssen. Strukturelle Gesichtspunkte Im Schnitt sind im Harl.e.kin-Nachsorge-Team tätig: • drei bis fünf Schwestern in Nebentätigkeit mit 80 Stunden/ Jahr, • der mobile Dienst (Sozialpädagogik; Psychologie, Ergotherapie) mit 10 Stunden, • der/ die KoordinatorIn (Sozialpädagogik, Casemanagement) mit 10 Stunden. • Ein ärztlicher Ansprechpartner kommt alle 4 Wochen mit ins Team. Interessant ist, dass nach ca. 2 Jahren Aufbauphase von allen Standorten (d. h. unabhängig von der Risikokonstellation der Klinik) um 30 Familien betreut werden. Die Zahl der Hausbesuche pro Familie, der Betreuungszeitraum und die gemeinsamen Betreuungen mit dem mobilen Dienst steigen mit der Erfahrung der Schwestern, „zwischen den Worten“ zu verstehen, und mit der gemeinsam gefundenen Arbeitsstruktur mit dem mobilen Dienst im zweiten Jahr an. Gut funktionierende Arbeitsstrukturen, auch mit den Klinikärzten und den Versorgungsstrukturen der Region, sehen wir erst ab dem dritten Jahr. Erfreulicherweise konnten wir den Projektzeitraum von zwei auf drei Jahre erhöhen und bereiten gerade mit den ersten Standorten eine Evaluation mittels Fragebögen an die betreuten Eltern, an Kooperanden und MitarbeiterInnen vor. Die bisherigen Rückmeldungen zeigen aber eine hohe Akzeptanz bei Ärzten und Schwestern, sowie Mitarbeiterinnen der Frühförderung, aber vor allem bei den Familien mit Früh(st)- und Risikoneugeborenen, erfreulich hoch auch bei Familien mit psychosozialen Risikokonstellationen. Die Koordinierung der Hilfen im Vorfeld und die gesetzten Ziele der Stärkung der Elternkompetenz, der frühzeitigen Erkennung von familiären Belastungssituationen und kindlichen Entwicklungsauffälligkeiten, der Minderung re-stationärer Betreuung, sowie der gezielten und persönlichen Vermittlung bei erforderlicher Therapie/ Förderung ließen sich deutlich besser umsetzen. Dr. med. Sabine Höck Arbeitsstelle Frühförderung Bayern, Med. Abt. Seidlstr. 18 a D-80335 München E-Mail: hoeck@astffby.de
