Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2009
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Hörgerichtete Früherziehung und Förderung in Theorie und Praxis
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2009
Gottfried Diller
Für hörgeschädigte Kinder stehen heute medizinische, technische und pädagogische Fördermöglichkeiten zur Verfügung, die unabhängig vom Ausmaß der Schädigung das Hörenlernen ermöglichen. Pädagogisch-didaktisch wird der Weg eines natürlichen Lernens – und damit verbunden - eines natürlichen hörgerichteten Hör-Spracherwerbs verfolgt. Langjährige Praxiserfahrungen und entsprechende Untersuchungen zeigen, dass hörgeschädigte Kinder besondere quantitative und qualitative Förderbedürfnisse haben. Wie auf diese Bedürfnisse in der Phase des frühkindlichen Lautspracherwerbs eingegangen werden kann, wird an zwei Beispielen exemplarisch beschrieben.
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Frühförderung interdisziplinär, 28. Jg., S. 169 - 178 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Hörgerichtete Früherziehung und Förderung in Theorie und Praxis Gottfried diller Zusammenfassung: Für hörgeschädigte Kinder stehen heute medizinische, technische und pädagogische Fördermöglichkeiten zur Verfügung, die unabhängig vom Ausmaß der Schädigung das Hörenlernen ermöglichen. Pädagogisch-didaktisch wird der Weg eines natürlichen Lernens - und damit verbunden eines natürlichen hörgerichteten Hör-Spracherwerbs verfolgt. Langjährige Praxiserfahrungen und entsprechende Untersuchungen zeigen, dass hörgeschädigte Kinder besondere quantitative und qualitative Förderbedürfnisse haben. Wie auf diese Bedürfnisse in der Phase des frühkindlichen Lautspracherwerbs eingegangen werden kann, wird an zwei Beispielen exemplarisch beschrieben. Schlüsselwörter: Hörenlernen, Intuitives Elternverhalten, Besondere Bedürfnisse, Natürlich hörgerichteter Ansatz Theory and Practice of Natural Aural Approach Summary: Independently from the dimension of hearing loss, children who are hard of hearing are able to learn hearing and listening by the right medical, technical and pedagogical support. The didactical aim is natural learning and therefore a natural hearing and speaking approach. After long lasting research and practical experiences we know that hearing impaired children need special quantitative and qualitative support. How to cope with these special needs for acquisition of speech during the infantile phase should be revealed on the basis of two examples. Keywords: Learning to hear, Intuitive parenting, Special needs, Natural aural approach Einleitung Heutzutage beruht jegliche verantwortungsvolle und kompetente hörpädagogische Praxis basal auf objektiven Erkenntnissen der Neurobzw. Hörphysiologie sowie auf weitgehend anerkannten Modellen aus der Kognitionspsychologie und Lerntheorie. So ist bekannt, dass schon vor der Geburt und insbesondere im ersten Lebensjahr wichtige Prozesse in der physiologischen Reifung der Hörbahn stattfinden, die die Voraussetzung einer normalen auditiven Wahrnehmung sind. Die optimale Leistungsfähigkeit der Hörbahn ist bei Normalhörenden schon am Ende des zweiten Lebensjahres erreicht, während die Reifung der Hörrinde vermutlich auch im fünften Lebensjahr noch nicht abgeschlossen ist. Unter funktionellem Aspekt folgt daraus, dass Hörenlernen und Lautsprachverstehen sich nicht auf beliebige Zeitpunkte verschieben lassen. Die Entwicklung dieser Fähigkeiten ist davon abhängig, dass sie in ihrer jeweils optimalen Phase stimuliert werden. Das Zentralnervensystem (ZNS) ist im Verlauf der sensitiven Phasen in der Lage, selbst mit - im Vergleich zu Normalhörenden - rudimentären Höreindrücken für die Sprache verwertbare Kodiersysteme zu entwickeln und zu nutzen. Durch die rechtzeitige Versorgung mit modernen Hörgeräten bzw. Cochlea-Implantaten können auditive Informationsanteile in ausreichender Menge und Adäquanz an das ZNS übertragen werden, sodass selbst hochgradig hörgeschädigte Kinder über eine hinreichende akustische Wahrnehmung verfügen. Dass aus den auditiven Stimuli jedoch ein Höreindruck wird, hängt von sehr vielen kognitiven Verarbeitungsprozessen im ZNS und Lernvorgängen ab, denn der Mensch hört nicht mit den Ohren, sondern mit dem ZNS. Da dessen Funktionen beim hörgeschädigten 170 Gottfried Diller FI 4/ 2009 Kind zumeist nicht eingeschränkt sind, kann eine hörpädagogische Förderung wesentlich dazu beitragen, dass es trotz vorhandener physiologischer Schädigung des Ohres zu einem sehr guten, normal hörenden Menschen ähnlichen Hörenlernen kommt. Worauf dabei aus Sicht einer natürlichen hörgerichteten Förderung besonders zu achten ist, beschreiben die folgenden Ausführungen. 1. Natürlich hörgerichtete Förderung Das von Papousˇek & Papousˇek (1998) beschriebene und von Horsch (2004) und Horsch & Bischoff (2008) für die Hörgeschädigtenpädagogik bearbeitete „intuitive parenting“ geht von einer intuitiven, als natürlich zu verstehenden Interaktionsform zwischen Eltern und Kind aus. Grundsätzlich ist eine solche natürliche Interaktions- und Kommunikationsform als Vorbild auch in der Hörgeschädigtenpädagogik relevant und zielführend. Allerdings steht man im Falle einer frühkindlichen Hörschädigung vor einer Vielzahl von besonderen Erschwernissen, die diesen natürlichen, intuitiven Prozess stören können. Eine Reihe von Untersuchungen (vgl. Diller et al. 2000, Diller & Graser 2005, 2009 a und 2009 b, Horsch & Bischoff 2008) zeigen, dass im Falle kindlicher Hörschädigung sowohl das natürliche Hörenlernen (Diller & Graser 2005) als auch die dialogischen Verhaltensweisen zwischen Kind und Eltern nachhaltig nicht mehr dem entsprechen, was als allgemeingültige Verhaltensweisen dem „intuitive parenting“ entspricht. Allein das Wissen, dass beim Kind eine Hörschädigung vorliegt, kann das elterliche Verhalten deutlich modifizieren. Die eingeschränkte Hörfähigkeit beeinflusst direkt das kommunikative Verhalten, was sich in der Veränderung des dialogischen Verhaltens zwischen Eltern und Säugling zeigen kann. Daraus ergeben sich für die heutige Hörgeschädigtenpädagogik als dringend zu bewältigende pädagogisch-didaktische Aufgaben: • Förderung des Hörenlernens • Entwicklung dialogischer Kompetenzen Diese Aufgabenfelder greifen ineinander und sind in der Realität kaum voneinander zu trennen. Sie haben aber in ihrer je individuellen Bestimmtheit und Einzigartigkeit für Eltern und Fachkräfte - sei es die Frühförderin, Erzieherin im Kindergarten oder die Lehrerin - sowie für das Klein-, Kindergarten- und Schulkind ihre spezifische Bedeutung und Akzentuierung. Im Folgenden wird vorwiegend auf die Phase der ersten Lebensjahre Bezug genommen. 1.1 Hörgerichtetheit als Basis funktionellen Hörenlernens Die Hörkapazität des hörenden Menschen ist so umfangreich, dass er gleichzeitig eine Vielzahl von Hörereignissen bewusst und unbewusst wahrnimmt und speichert. Hören ist eben selbstverständlich und ohne größere Anstrengungen möglich. Ein hörgeschädigtes Kind befindet sich allerdings zunächst nicht in dieser komfortablen Situation. Es ist u. U. wesentlich mehr darauf angewiesen, dass es durch seine Umwelt auf vermeintlich selbstverständliche Höreindrücke - sprachlicher wie nicht-sprachlicher Art - im natürlichen Kontext aufmerksam gemacht wird. Um dies zu ermöglichen, sind Eltern und Pädagogen aufgefordert, zunächst selbst bewusst hören zu lernen und die Hörwelt neu zu entdecken. Sie müssen hörsensibel sein, um diese spezielle Hörwelt dann auch dem hörgeschädigten Kind zugänglich zu machen. Es liegt an ihnen, die primäre auditorische Bewusstheit des hörgeschädigten Kindes zu fördern. Folgende beobachtbare Verhaltensweisen deuten bei sehr kleinen Kindern darauf hin, dass sie eine Hörgerichtetheit entwickeln: • das Kind hält kurz in der Bewegung der gerade vollzogenen Handlung oder des Plapperns, Murmelns etc. ein, • es gibt Veränderungen in der Augenbewegung, FI 4/ 2009 Hörgerichtete Früherziehung 171 • es gibt eine Veränderung in der Atemfrequenz, • das Kind schreit, • es bewegt die Augen, • es dreht den Kopf in Richtung der Schallquelle, • es lächelt, • es beginnt zu brabbeln, • es versucht, die Laute nachzuahmen, • es versucht, die gehörte Sprechmelodie, den Rhythmus nachzuahmen, • es zeigt durch Hindeuten oder Ausführen der entsprechenden Handlung, dass es die Bedeutung des Gehörten verstanden hat, • es wird in seinen verbalen Äußerungen lauter, • es erkennt, wer gerade spricht, • es führt eine Aufforderung aus, die nur über das Hören verstanden wurde, und benennt evtl. selbst, wie die Dinge heißen oder was gerade geschieht, • es gibt Gehörtes in der gleichen Reihenfolge wieder (die Sprechweise ist dabei nicht wichtig, nur Sprachmelodie und Rhythmus). 1.2 Nicht natürliches, nicht hörgerichtetes Verhalten Der erste Gebrauch von Sprache, die erste Kommunikation findet gewöhnlich zwischen Mutter und Kind statt, und Sprache wird in der Beziehung zwischen diesen beiden im Idealfall intuitiv erworben. Die Verhaltensweisen des hörgeschädigten Kindes sind aufgrund der mangelnden Hörfähigkeit oder der späteren und z. T. verlangsamten Hörentwicklung jedoch u. U. nicht so, wie es die Eltern erwarten. Entweder bleiben die kindlichen Signale aus oder scheinen zu unspezifisch, um ein elterliches Reaktionsbedürfnis zu entwickeln. Die Eltern selbst verbinden mit der Feststellung eines Hörschadens bei ihrem Kind Erwartungshaltungen an das Kind, die überbzw. unterfordernd wirken können. In den Fällen, in denen das hörgeschädigte Kind eine langsamere Sprachentwicklung durchläuft, ist die Gefahr groß, dass immer wieder zu sprachlichen Vereinfachungen gegriffen wird, da bewusst oder unbewusst angenommen wird, das hörgeschädigte Kind benötige diese Form des sprachlichen Verhaltens. Hier kann es zu einer Störung des intuitiven Verhaltens kommen. Wenn der sprachliche Umgang mit dem Kind überwiegend durch eine solche Übungssprache bestimmt wird, ist der Umfang der sprachlichen Äußerungen erheblich vermindert. Neben der negativen Beeinflussung der kognitiven Entwicklung werden die sprachlichen Aktivitäten der Kinder durch dieses Vorgehen stark eingeschränkt. Der kreative Umgang mit Sprache wird erschwert. Hierzu ein Beispiel aus der Praxis von Clark (2009, 54): Situation: Die häusliche Küche, Zubereitung einer Suppe. Das Kind 2; 2 Jahre, mit 15 Monaten Hörgeräteversorgung. M: „Setz’ dich jetzt an den Tisch.“ (Mutter wendet sich der Frühförderin zu - „Ich achte darauf, dass er immer am Tisch sitzt, wenn ich ihm etwas beibringe“.) Mutter hält eine Zwiebel hoch: „Schau, das ist eine Zwiebel. Es ist eine Zwiebel. Hör mal, eine Zwiebel. Was ist das? “ K: Keine Antwort M: „Hör noch mal - eine Zwiebel. Sag das für mich, eine Zwiebel.“ K: „u“ M: „Zwiebel. Na ja, lass uns sehen, ob es mit der Karotte besser klappt.“ Kind streckt seine Hand nach der Karotte aus. Mutter nimmt die Karotte zu sich: „Nein, hör zu, das ist eine Karotte, eine Karotte. Hör, eine Karotte. Was ist das? “ Das Kind streckt wieder seine Hand aus und sagt: „a“. M: „Nein, das kannst du jetzt nicht haben. Wir haben hier noch andere Sachen - schau! “ Sie hält einen Lauch hoch: „Das ist ein Lauch. Hör, es ist ein Lauch, ein Lauch. Was ist das? “ Das Kind versucht, aus dem Hochstuhl heraus zu kommen. M: „Nein, bleib da. Sag Lauch. Hör, Lauch! “ Kind weint und schlägt nach der Mutter. Die Mutter hat den Willen, das Kind zu fördern, aber erreicht sie das, was sie will? Was lässt sich beobachten? 172 Gottfried Diller FI 4/ 2009 • Fehlendes dialogisches Verhalten Die o. g. Beschreibung lässt eine wirklich natürliche Kommunikation zwischen Mutter und Kind vermissen. Man ist sich nicht sicher, ob im gewählten Format (Gemüsezubereitung) wirklich ein gemeinsames Interesse an der Tätigkeit vorliegt. Die Frage bleibt, ob Mutter und Kind sich inhaltlich mit dem gleichen Thema beschäftigen wollten oder man aneinander vorbeigeredet hat? • Fehlendes imitatives hörgerichtetes Sprachverhalten Hörende Kinder imitieren vollständig oder modifizieren ganze Äußerungseinheiten und nutzen diese Sprachmuster dann aktiv und konstruktiv für den eigenen sprachlichen Ausdruck (Grimm 1995). Kinder mit Hörschädigung wird dies u. U. durch unangemessenes Verhalten erschwert. Oftmals werden hörgeschädigte Kleinkinder zur Wiederholung des Gehörten gedrängt. Die Aufforderung an das Kind, nachzusprechen oder zu wiederholen, wird als unnatürlich empfunden. Beobachtet man aber eine Mutter mit ihrem gut hörenden Kind, finden sich die gleichen Verhaltensweisen, ohne dass man sie als unnatürlich empfindet. Worin liegt der Unterschied begründet? Bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass in solchen Kommunikationssituationen Mutter und Kind viel entspannter miteinander umgehen, da die Mutter weiß und auch das Vertrauen hat: „ Mein Kind wird reagieren und ich werde es wahrnehmen können“. Es handelt sich um authentische Situationen, in denen Sprache zum Anlass gehört und nicht gesprochen wird, weil Sprechen erzwungen werden soll. Sprache - auch individuell vom Entwicklungsstand des Kindes abhängige Sprache - dient dann zur Klärung der Situation oder ggf. der Bedürfnisbefriedigung und ist nicht Selbstzweck. Mit Blick auf das hörgeschädigte Kind ist z. B.: - länger auf Hörreaktionen des Kindes zu warten, - mehr Raum und Zeit zum Hören zu geben (Platzhalter schaffen) oder - ggf. die Hörsituation eindeutiger zu gestalten. Diese Verhaltensweisen konnten im beschriebenen Fall kaum beobachtet werden. • Häufige Verwendung von Fragen Häufige Fragen durch die Mutter, die das Kind zu einer Äußerung provozieren sollen, erreichen oft das Gegenteil. Die Form der gezielten, nicht offenen Frage lässt zudem nur geringen Raum zur Antwort. Ständiges Fragen wirkt negativ auf den aktiven Sprachgebrauch des Kindes. Die Antworten bleiben dann meist sehr kurz und einsilbig. Oft reagieren Kinder lediglich, indem sie auf einen Gegenstand oder ein Bild zeigen oder die Handlung andeuten. Das Kind erkennt primär keinen verbalen Anreiz. Kinder erkennen echte und unechte Fragen, d. h. Fragen, die nicht der Fortführung eines Gesprächs dienen, sondern den Zweck haben, seine sprachlichen Äußerungen zu kontrollieren. Diese Fragen erreichen das Gegenteil von dem, was man will. Kinder reagieren in einer solchen Situation oft verunsichert. Sie scheinen sich durch dieses Verhalten unter Druck gesetzt zu fühlen. Oft führen wiederholte Fragen zu einem unruhigen Verhalten der Kinder, zu Unaufmerksamkeit und Unkonzentriertheit, manchmal zum totalen Desinteresse an der Situation. Bei gut hörenden Kindern kann man beobachten, dass sie auf ein solches Verhalten häufig ablehnend reagieren; hörgeschädigte Kinder tun nichts anderes. Also wundern wir uns nicht, wenn es mit den „ewigen“ W-Fragen nicht klappt. Besser ist es, echte Fragen zu stellen anstatt das Kind abzufragen. Damit kommen wir mit dem Kind in ein echtes, handlungsleiten- FI 4/ 2009 Hörgerichtete Früherziehung 173 des Gespräch. Die Analyse der geschilderten Situation verdeutlicht und bestätigt die generelle Bedeutung der getroffenen Aussagen. • Substantivisch geprägtes Sprachangebot Besonders bei Kindern, die in ihrer Sprachentwicklung noch wenig fortgeschritten sind, lässt sich der häufige Gebrauch von Substantiven beobachten. Andere sprachliche Satzbestandteile (Verben, Adjektive etc.) werden dagegen oft nur rudimentär benutzt (vgl. u. a. Diller & Graser 2009 b). Den Kindern werden Gegenstände oder Bilder präsentiert, um diese zu benennen. Durch diese substantivische Prägung wird das sprachliche Angebot stark reduziert. Diese Situation ist nicht natürlich, sondern verschult und eintönig. Für freie Äußerungen der Kinder ist kein Raum vorhanden. Entsprechend schnell ermüden die Kinder und verlieren das Interesse. 1.3 Spracherwerb - natürliches hörgerichtetes Verhalten Im Idealfall tauschen in einem Gespräch zwei gleichberechtigte Partner ihre Gedanken aus. Für den Gesprächsfluss ist es unerlässlich, dem anderen zuzuhören, zu versuchen, seine Äußerungen zu verstehen, wenn nötig, nachzufragen und sich in den eigenen Antworten darauf zu beziehen. Wesentlich für ein Gespräch mit dem Kind ist es, dass man selber einen sinnvollen Beitrag zum Thema leistet und damit das Kind anregt, von sich aus noch mehr dazu zu erzählen. Für den Bereich der Sprache ist es das Ziel, hörgeschädigten Kindern entsprechend ihrem Alter und ihrem Sprachentwicklungsstand gemäße Entwicklung der Lautsprache zu ermöglichen. „Intuitive parenting“ und die Beachtung besonderer Bedürfnisse hörgeschädigter Kinder führen zum natürlichen hörgerichteten Verhalten. Auch hierfür ein Beispiel aus Clark (2009, 55ff): Situation: In der häuslichen Küche mit dem Kind 2; 2 Jahre, mit 16 Monaten Hörgeräteversorgung. Die Mutter hält eine volle Plastiktüte in Richtung des Kindes: „Oh, die Tüte ist aber schwer, lass uns mal schauen, was da drin ist.“ Das Kind kommt angelaufen, um zu schauen, und greift mit seiner Hand in die Tüte. M: „Genau, hol dir was raus.“ Das Kind holt eine Karotte heraus, zeigt auf den Schmutz auf der Karotte und verzieht das Gesicht. Die Mutter berührt den Schmutz und sagt: „Oh ja, die Karotte ist sehr schmutzig.“ Auf die Spüle zeigend fährt sie fort: „Wir müssen die Karotte waschen.“ Das Kind bringt sie zu der Abtropffläche der Spüle, legt die Karotte dort hin und läuft zurück zur Mutter. Die Mutter schaut in die Tüte: „Was haben wir denn da noch? “ Das Kind holt Petersilie raus. Es riecht daran. Die Mutter sagt, „Riecht das gut? Das ist Petersilie.“ Die Mutter riecht auch daran und sagt: „ Mm, ich mag den Geruch von Petersilie auch. Schau, wir können die Blättchen von der Petersilie abzupfen. Wir geben die ganze Petersilie in diese kleine Schüssel. Du zupfst ein bisschen Petersilie und ich zupfe ein bisschen Petersilie.“ Das Zupfen der Petersilie wird von viel Lachen begleitet. Die Mutter riecht an ihren Händen und das Kind imitiert es. M: „Jetzt riechen unsere Hände nach Petersilie.“ Das Kind riecht an seinen Händen und sagt: „Pedile“. M: „Ja, richtig. Sie riechen nach Petersilie.“ Zwar ist das Vokabular des kleinen Mädchens noch zu gering, um seine Gedanken auszudrücken, aber seine kommunikativen Fähigkeiten sind bereits sehr gut entwickelt. 2. Intuitives Verhalten + Beachtung besonderer Bedürfnisse = Natürliches hörgerichtetes Verhalten Mit einer vereinfachten Formel soll im Folgenden deutlich gemacht werden, wie einfach und zugleich schwierig es im Detail sein kann, sich im Umgang mit dem hörgeschädigten Kind dialogisch und natürlich hörgerichtet zu verhalten. Anhand eines grobma- 174 Gottfried Diller FI 4/ 2009 schigen Kriterieninventars werden Aspekte aufgezeigt, die für eine Analyse der o. g. Handlungs- und Gesprächssituation dienen können. Dabei wird Wissen zur allgemeinen Sprachentwicklung eines gut hörenden Kindes vorausgesetzt. Zu folgenden Bereichen wird Stellung genommen: • Dialog von Mutter/ Vater und Kind • Hör- und Sprachförderung • Hörgerichtetes Verhalten des Kindes 2.1 Dialog zwischen Mutter/ Vater und Kind Wichtig in diesem Zusammenhang ist es, dass dialogische Verhaltensweisen nicht nur einseitig aufseiten der Eltern zu beobachten sind, sondern auch seitens des Kindes. Unter diesem Aspekt kann es zu einer gleichberechtigen Situation kommen. Aus vielen Einzelbeobachtungen ist bekannt, dass das normale nonverbale und das - oftmals hörgerichtete - verbale Verhalten der Mutter/ des Vaters dem Kind hilft zu verstehen, was gemeint ist und was von ihm erwartet wird. Aber auch das Kind macht seine Kommunikationsintentionen deutlich. Vor allem sie werden von der Mutter/ dem Vater situativ angemessen gedeutet, was die einzelnen Reaktionen zeigen. 2.2 Hör- und Sprachförderung In diesem Bereich wird mehr von den Eltern als von den Kindern erwartet. Was die Sprachkompetenz anbelangt, verfügen Eltern über ein Sprachsystem, das vom Kind erst noch zu erwerben ist. Die obige Tabelle zeigt auf, welche Aspekte man beachten sollte und welche besonderen Bedürfnisse beim hörgeschädigten Kind vorliegen können. Vergleicht man die Tabelle mit der unten folgenden Detailanalyse von Clark (2009, 56ff), so wird deutlich, dass es der Mutter in vorbildlicher Weise gelungen ist, auf der Basis des „Intuitive parenting“ die besonderen Bedürfnisse ihres hörgeschädigten Kindes zu beachten und darauf angemessen natürlich hörgerichtet zu reagieren: dialogische Verhaltensweisen Beachtung der besonderen Bedürfnisse des hg. Kindes Natürliches dialogisches Verhalten Kommunikationsinteresse/ -motivation der Eltern/ des Kindes Zeigen von Interesse in vielfacher Weise In vielen Situationen Kommunikationsinteresse zeigen Affektive Elemente im Sprachgebrauch Verbindung von Lautsprache mit emotionalen Elementen, Gestik, Mimik und taktiler Erfahrung Situation immer wieder nutzen, um emotionale Botschaften zu senden, z. B. Grußbotschaften „Turn“-eröffnende Angebote von beiden Seiten Schaffen von „Turn“eröffnenden Angeboten Vorwiegend Hörsignale zur „Turn“-Eröffnung/ „Turn“-Übernahme nutzen „Turn“-Übernahme Signalisierung der „Turn“- Übernahme Aufgreifen der Mitteilungsintention des Kindes und umgekehrt Auch kleinere, scheinbar unbedeutende Signale sollten erkannt werden Auch Reaktionen auf kleinere, „schwache“ Signale zeigen „Turn“-Taking Zugewandte, mit der Kommunikation kongruente Körperhaltung Kein Körperkontakt bei „Turn“-Taking FI 4/ 2009 Hörgerichtete Früherziehung 175 „Grundsätzlich fiel auf, dass die Stimme durchgehend freundlich und ermutigend war, flüssig und mit natürlicher Intonation, Rhythmus und Betonung, wie für ein etwa gleichaltriges, normal hörendes Kind. Die genauere Analyse zeigt: • Einen respektvollen Umgang mit dem Kind, indem die Mutter es liebevoll auffordert, mit ihr gemeinsam etwas zu tun: „Lass uns mal schauen, was da drin ist! “ • Eine Bestätigung des Kindes, indem seine Beiträge beachtet werden: „Genau, hol dir was raus.“ • Eine bewusste Wahrnehmung dessen, was das Kind genau ausdrücken wollte, und die Erweiterung seiner nonverbalen Beiträge durch eine passende Versprachlichung: „Oh ja, die Karotte ist sehr schmutzig.“ • Eine Erweiterung des Themas, das vom Kind kam, und die Verstärkung des Wortes „Karotte“, indem sie sagt: „Wir müssen die Karotte waschen.“ • Das Geschick, die Beschäftigung mit einem einfachen „Was haben wir denn da noch? “ aufrechtzuerhalten. • Das Eingehen auf das kindliche Interesse am Geruch der Petersilie und den damit einhergehenden passenden sprachlichen Kommentar: „Riecht das gut? Das ist Petersilie. Mm, ich mag den Geruch von Petersilie auch.“ • Die Ausweitung einer Beschäftigung, um das aufzugreifen, woran das Kind besonderes Interesse zeigt: „Schau, wir können die Blättchen von der Petersilie abzupfen. Wir geben die ganze Petersilie in diese kleine Schüssel. Du zupfst ein bisschen Petersilie und ich zupfe ein bisschen Petersilie.“ • Eine nochmalige Ausweitung des Themas durch: „Jetzt riechen unsere Hände nach Petersilie.“ • Ein positives Feedback für den spontanen Imitationsversuch des Kindes mit „Pedile“: „Ja, richtig. Sie riechen nach Petersilie“.“ (Clark 2009, 56ff) Natürliches Verhalten Beachtung der besonderen Bedürfnisse des hg. Kindes Natürliches hörgerichtetes Verhalten im Alltag: • Hörangebote • Hörerziehung • „Hören lernen“ • Erschwertes Hörverstehen • Gewährleistung der Hörfähigkeit • Notwendigkeit erhöhter Höraufmerksamkeit • Nutzung von Hörhilfen • Kongruenz von Hören - Sprache und Handlung • Bewusste Hörangebote Kind-gerichtete Sprache (KGS): Prosodie • Etwas langsamere und deutlichere Aussprache • Höhere Stimmlage • Sehr rhythmische, melodische Intonation • Charakteristische Intonationsmuster • Bedarf an klarer Kontur und Prägnanz des sprachlichen Inputs • Emotional geleitete Sprechweise • Erhöhte Aufmerksamkeit auf gute Hörverständlichkeit • Unterstützung durch Gestik, Mimik • prosodisches Markieren, z. B. affektiv getönter Stimmklang, Pausensetzung etc. • keine Gebärden ➝ 176 Gottfried Diller FI 4/ 2009 2.3 Hörgerichtetes Verhalten des Kindes Im Hinblick auf das o. g. Beispiel lässt sich unschwer ableiten, dass das hörgeschädigte Kind ein hörgerichtetes Verhalten entwickelt und eine gute Hörfähigkeit erworben hat. Das o. g. Beispiel eines natürlichen hörgerichteten Verhaltens hat keineswegs etwas mit einem extremen oder exklusiven Hören auf Geräusche oder gar Geräuschtraining zu tun. Dieser Aspekt bleibt völlig unberücksichtigt, ja er ist geradezu überflüssig. Stattdessen sind Natürliches Verhalten Beachtung der besonderen Bedürfnisse des hg. Kindes Natürliches hörgerichtetes Verhalten KGS: Komplexität • Kürzere, weniger komplexe Sätze • Viele Fragen und Aufforderungen • Weniger Nebensätze und Vergangenheitsformen • Reduktion der Komplexität, ohne zu simplifizieren • Echte Fragen stellen • Nicht zu lange die gleichen Satzstrukturen anwenden • Erhöhte Aufmerksamkeit auf klare, gut zu verstehende Sprache • Informationsfragen, W- Fragen, Ja/ Nein-Fragen in ausgeglichenem Verhältnis • Kontinuierliche Syntaxerweiterung • Gespräche im Rahmen von Formaten und darüber hinaus • Passung des Schwierigkeitsgrades • Kommunikation in der „Zone der nächsten Entwicklung“ • Gespräche beziehen abstrakte Inhalte mit ein • Fehlende lautsprachliche Mittel werden dem Kind übergangsweise „in den Mund gelegt“ • Gesprächsfluss durch dialogisches Verhalten immer wieder unterstützt • Kommunikative Intention wird durch auditiv-lautsprachliche Mittel mitgeteilt KGS: redundanz • Häufigere Wiederholungen (wörtlich oder inhaltlich) • Wiederholungen unkorrekter Äußerungen in korrigierter Form, evtl. mit Erweiterungen • Sehr großer Bedarf nach inhaltlicher und formeller Redundanz • Mehr explizite Bestätigung der Äußerungen durch Hörreaktionen • Erhöhte Gesprächskohärenz am kindlichen Thema • Vollständige und/ oder partielle Wiedergabe der kindlichen Äußerungen als Anknüpfung zur Fortführung des Gesprächs, zur Erweiterung oder zur impliziten Korrektur • Techniken der Artikulation durch Hörvorbilder • Tagebuch/ Hörbuch: Verbindung von Hör- und Schriftbild ➝ FI 4/ 2009 Hörgerichtete Früherziehung 177 alle anderen Kriterien und Funktionen des Lernens betroffen. Sie zeigen, wie anspruchsvoll Hörenlernen ist und zu welchem Ergebnis es führen kann. 3. Schlussbemerkung Hörenlernen ist heute unabhängig von der Art und dem Umfang des Hörschadens in nahezu allen Fällen kindlicher Hörstörungen möglich geworden. Damit sind die Möglichkeiten für eine altersgemäße Lautsprachentwicklung hörgeschädigter Kinder so gut wie noch nie. Um diese Chancen zu realisieren, ist die Etablierung eines flächendeckenden Neugeborenen-Hörscreenings, die frühestmögliche technische Versorgung mit Hörhilfen und der frühe Beginn der familiären Begleitung im Rahmen der Förderung des hörgeschädigten Kindes unverzichtbar. Ohne die Erfüllung dieser Bedingungen ist das genannte Ziel kaum zu erreichen. Hörgerichtetes Verhalten das Kind reagiert implizit oder explizit, indem es Blickkontakt • sucht und den Blickkontakt hält Hört bewusst, ist hörgerichtet • sich auf das Gehörte konzentriert, höraufmerksam ist, lauscht, innehält, beim Thema bleibt, sich dialogisch verhält Versteht durch Hören, erkennt bekannte Geräusche, Sprache etc. • folgerichtig reagiert Kind hört zu, nimmt Stimme und Sprache der Bezugsperson wahr • durch sein Verhalten zeigt, dass es die Bedeutung von Lautsignalen schrittweise erkennt und nutzt • Verhaltensweisen wie Innehalten, Blickkontakt suchen, sich den Personen oder Dingen zuwenden praktiziert, Kennt Regeln des Gesprächs, z. B. Turn-taking, Platzhalter schaffen, Babbeling, elliptische Silben u. a. • mit seiner Stimme lautsprachlich agiert Erweitert kontinuierlich Sprech- und Gesprächskompetenz in einem kreativen Prozess • mit Lauten (Vokalen und Silben) spielt, plappert, neue Laute produziert und erste Wörter gebraucht Zeigt Mitteilungsbedürfnis • sich vorwiegend lautsprachlich unter Einbeziehung natürlicher Mimik und Gestik mitteilt • keine Gebärden benutzt Initiiert Kommunikation ohne Berührung • lautsprachliche Formen wie z. B. Lautsignale, Rufen, Namensnennung u. a. nutzt, um die Kommunikationsintention deutlich zu machen • nicht durch visuelle oder taktile Mittel auf eine Gesprächsintention aufmerksam macht Kind als gleichberechtigter Kommunikationspartner • unterschiedliche lautsprachliche Formen zur Mitteilung zur Verfügung hat • dialogische Signale nutzt 178 Gottfried Diller FI 4/ 2009 Das Wissen um neurophysiologische Prozesse des Hörenlernens, die Bedeutung der Eltern-Kind-Interaktion und die linguistischen, psychologischen und pädagogischen Kenntnisse zum Hör-Spracherwerb begründen eine erfolgreiche pädagogisch-didaktische Förderkompetenz, die ihren Schwerpunkt in der Förderung der Ressourcen des hörgeschädigten Kindes hat. All das heißt nichts anderes, als dass dem hörgeschädigten Kind die Chance zu geben ist, auf „ natürlichem “ Weg zu lernen. Zahlreiche Studien belegen, dass im Falle einer Hörschädigung natürliche Interaktions- und Lernprozesse gestört, behindert oder verunmöglicht werden können. Genau an diesen Stellen, die individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt sein können, ist es die Aufgabe der Hörgeschädigtenpädagogik zu intervenieren - sei es in Form von Elternbegleitung oder der Analyse des hörgerichteten, dialogischen und sprachlichen Verhaltens. Literatur Clark, M. (2009): Interaktion mit hörgeschädigten Kindern - Der Natürliche Hörgerichtete Ansatz in der Praxis. München Diller, G., Graser, P. (2009 a): Zur Rolle des Arbeitsgedächtnisses im Sprachlernprozess von Kindern mit Cochlea-Implantat. Teil 1, Z Audiol 2009; 48 (1) 6 - 14 Diller, G., Graser, P. (2009 b): Zur Rolle des Arbeitsgedächtnisses im Sprachlernprozess von Kindern mit Cochlea-Implantat. Teil 2, Z Audiol 2009; 48 (2) 80 - 89 Diller, G., Graser, P. (2005): CI-Rehabilitation prälingual gehörloser Kinder. Heidelberg Diller, G., Graser, P., Schmalbrock, C. (2000): Hörgerichtete Frühförderung hochgradig hörgeschädigter Kleinkinder. Heidelberg Grimm, H. (1995): Spezifische Störungen der Sprachentwicklung. In: Oerter & Montada (Hrsg.) Entwicklungspsychologie, 943 - 959. Weinheim Horsch, U. (2004): Frühe Dialoge als Elemente der Hör- Sprachentwicklung. In: Horsch (Hrsg.) Frühe Dialoge - Früherziehung hörgeschädigter Säuglinge, 122ff. Hamburg Horsch, U., Bischoff, S. (2008): Bildung im Dialog. Heidelberg Papousˇek, M., Papousˇek, H. (1998): Stimmliche Kommunikation im frühen Säuglingsalter als Wegbereiter der Sprachentwicklung. In: Keller (Hrsg.) Handbuch der Kleinkindforschung, 465 - 489. Heidelberg Prof. dr. Gottfried diller Pädagogische Hochschule Heidelberg Institut für Sonderpädagogik - Hörgeschädigtenpädagogik Keplerstraße 87 D-69120 Heidelberg E-Mail: Diller@ph-heidelberg.de
