eJournals Frühförderung interdisziplinär 28/2

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
41
2009
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Interdisziplinäre Kooperation und Vernetzung für eine verbesserte Prävention im Kinderschutz

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2009
Ute Ziegenhain
Jörg M. Fegert
Säuglinge und Kleinkinder sind aufgrund ihrer besonderen Verwundbarkeit bei Misshandlung und Vernachlässigung besonders gefährdet. Insofern ist frühe Prävention zwingend und notwendig. Die sogenannten Frühen Hilfen zur Förderung elterlicher Beziehungskompetenzen werden als große Chance früher Prävention im Kinderschutz gesehen. Dabei kann der frühe Zugang zu Familien und ihre Unterstützung nur interdisziplinär erreicht werden. Dies stellt besondere Anforderungen an Kooperation und Vernetzung zwischen Helfern und Hilfesystemen. Insbesondere zwischen dem Gesundheitswesen und der Kinder- und Jugendhilfe ist eine systematische Kooperation mit geregelten Absprachen und Verfahrenswegen notwendig. Gründe für mögliche Reibungsverluste in der interdisziplinären Kooperation und Vernetzung werden diskutiert. Am Beispiel des Modellprojektes "Guter Start ins Kinderleben" werden Wege der Etablierung interdisziplinärer kommunaler Netzwerkstrukturen vorgestellt.
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71 Frühförderung interdisziplinär, 28. Jg., S. 71 - 81 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Interdisziplinäre Kooperation und Vernetzung für eine verbesserte Prävention im Kinderschutz Ute Ziegenhain, Jörg M. Fegert Zusammenfassung: Säuglinge und Kleinkinder sind aufgrund ihrer besonderen Verwundbarkeit bei Misshandlung und Vernachlässigung besonders gefährdet. Insofern ist frühe Prävention zwingend und notwendig. Die sogenannten Frühen Hilfen zur Förderung elterlicher Beziehungskompetenzen werden als große Chance früher Prävention im Kinderschutz gesehen. Dabei kann der frühe Zugang zu Familien und ihre Unterstützung nur interdisziplinär erreicht werden. Dies stellt besondere Anforderungen an Kooperation und Vernetzung zwischen Helfern und Hilfesystemen. Insbesondere zwischen dem Gesundheitswesen und der Kinder- und Jugendhilfe ist eine systematische Kooperation mit geregelten Absprachen und Verfahrenswegen notwendig. Gründe für mögliche Reibungsverluste in der interdisziplinären Kooperation und Vernetzung werden diskutiert. Am Beispiel des Modellprojektes „Guter Start ins Kinderleben“ werden Wege der Etablierung interdisziplinärer kommunaler Netzwerkstrukturen vorgestellt. Schlüsselwörter: Frühe Hilfen, Kinderschutz, interdisziplinäre Kooperation Practicing an IFC-CY Checklist in Early Intervention: Experiences and Evaluation Summary: Because of their vulnerability infants and toddlers are especially at risk to abuse and neglect. Therefore early prevention is obligatory and necessary. Promoting parental attachment competencies seem to be a successful intervention in child protection. However, early access to families and early service provision is dependent on interdisciplinary cooperation and networking. This implies the development of systematic interdisciplinary structures of cooperation and regulated procedural methods. Causes for possible obstacles in interdisciplinary cooperation and networking are discussed. The project “A good start to life” is presented as an example to establish ways of interdisciplinary networks in communities. Keywords: Early interventions, child protection, interdisciplinary cooperation Besondere Anforderungen an Kooperation und Vernetzung zwischen Gesundheitswesen und Kinder- und Jugendhilfe in der frühen Kindheit Säuglinge und Kleinkinder genießen im Kinderschutz besondere Aufmerksamkeit. Sie sind bei Vernachlässigung oder Misshandlung aufgrund ihrer großen Verwundbarkeit besonders gefährdet. Säuglinge und Kleinkinder sind existenziell auf eine umfassende Betreuung und Versorgung angewiesen. Die fehlende Versorgung mit Flüssigkeit etwa kann für einen Säugling sehr schnell lebensbedrohlich werden und aggressiver Umgang und Schütteln hat ein hohes Risiko innerer Blutungen mit nicht selten fatalen entwicklungsneurologischen beziehungsweise auch tödlichen Folgen (Trocmé et al., 2003; Kindler et al., 2006). Tatsächlich ist die Gefahr von Vernachlässigung und Kindeswohlgefährdung in den ersten fünf Lebensjahren am größten. Hinzu kommt, dass gemäß neueren Forschungen frühe Kindheitserfahrungen die folgende körperliche und sozial-emotionale Entwicklung manchmal irreversibel beeinflussen können. Damit ist ein präventives Vorgehen zwingend und notwendig. In der frühen Unterstützung von Familien und insbesondere in der frühen Förderung elterlicher Erziehungs- und Beziehungskompetenzen liegt eine große Chance, mögliche kritische Entwicklungsverläufe zu verhindern oder zumindest abzupuffern. So verstandener Kinderschutz bedeutet frühe und präventive Angebote für alle Eltern ab Schwangerschaft und Geburt bereitzustellen. Die Grenzen zwischen Nor- 72 Ute Ziegenhain, Jörg M. Fegert FI 2/ 2009 malität, Belastung und Entwicklungsgefährdung sind fließend. Der Unterstützungsbedarf von Eltern reicht von Informationen über die Entwicklung, die Bedürfnisse und das Verhalten von Säuglingen und Kleinkindern bis hin zu gezielter Unterstützung und Anleitung. Vor dem Hintergrund eines solchen präventiv orientierten Kinderschutzes nehmen Fälle von tatsächlicher Kindeswohlgefährdung, so tragisch sie in jedem Einzelfall sind, nur einen sehr geringen Prozentsatz von geschätzten 5 - 10 % ein (Esser & Weinel, 1990). Solche frühen präventiven Angebote und Hilfen sind häufig eine interdisziplinäre Angelegenheit, die nicht mit einer isolierten Maßnahme und nicht mit den Kompetenzen einer einzelnen fachlichen Disziplin oder Zuständigkeit abgedeckt und gelöst werden kann. Damit verbunden sind besondere Anforderungen an Kooperation und Vernetzung zwischen Helfern und Hilfesystemen. Insbesondere zwischen dem Gesundheitswesen und der Kinder- und Jugendhilfe ist eine systematische Kooperation mit geregelten Absprachen und Verfahrenswegen notwendig. In dieser frühen Entwicklungsphase haben häufig nur Fachkräfte im Gesundheitswesen, etwa Gynäkologen, Hebammen oder Kinderärzte Kontakt zum Kind und seinen Eltern. Zuständig für weitergehende Hilfen wie z. B. die Vermittlung eines Platzes in der Kindertagesstätte oder die einer Sozialpädagogischen Familienhilfe ist die Kinder- und Jugendhilfe. Sie ist darüber hinaus zuständig für die Sicherung des Kindeswohls und für den Schutz von Kindern vor Vernachlässigung und Misshandlung. Insofern sind frühe Unterstützung und Hilfen für Familien, wie sie auch im Sinne eines präventiven Kinderschutzes derzeit in Deutschland zunehmend etabliert werden, in großem Maße davon abhängig, wie gut die jeweiligen Berufsgruppen und Institutionen vor Ort miteinander kooperieren und wie sie miteinander vernetzt sind. Reibungsverluste in der interdisziplinären Zusammenarbeit In der Alltagspraxis zeigen sich aber häufig dann, wenn auch hohe interdisziplinäre Anforderungen vorhanden sind, Reibungsverluste in der Zusammenarbeit unterschiedlicher Hilfesysteme im Bereich des Gesundheitswesens und der Kinder- und Jugendhilfe. Dabei fallen Familien, die frühe und präventive Unterstützung benötigen, insbesondere an den Übergängen vom Gesundheitswesen in die Kinder- und Jugendhilfe durch die Systemlücken. Hier sind die Kooperationswege noch nicht gut genug ausgebaut beziehungsweise fehlen systematische Kooperationen mit geregelten Absprachen und klaren Zuständigkeiten sowie verbindlichen Verfahrenswegen. Angesichts der guten Sozialstrukturen und der sozialrechtlichen Grundlagen in Deutschland mögen solche systematischen Koordinations- und Vernetzungsprobleme zunächst vielleicht erstaunen. Vielfältige Praxiserfahrungen zeigen jedoch, dass es tatsächlich eine Gemengelage aus gegenseitiger Unkenntnis, unklaren Verfahrensabläufen, motivationalen Aspekten und Kostendruck ist, die zu typischen Reibungsverlusten in der interdisziplinären Zusammenarbeit führt (Fegert, 2003) Diese Reibungsverluste werden durch strukturelle Gegebenheiten begünstigt. Die Grenzen zwischen Kinder- und Jugendhilfe und dem Gesundheitswesen sind durch unterschiedliche Sozialgesetze markiert, die die jeweiligen Leistungen der beiden Systeme begründen. Danach werden Leistungen und Angebote der Kinder- und Jugendhilfe im Achten Buch Sozialgesetzbuch Kinder- und Jugendhilfe (SGB XIII) und die Leistungen des Gesundheitswesens im Fünften Buch Sozialgesetzbuch Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) und im Neunten Buch Sozialgesetzbuch Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX) beschrieben FI 2/ 2009 Interdisziplinäre Kooperation und Vernetzung 73 und von der kommunalen Jugendhilfe, von den Krankenkassen, den örtlichen Trägern (Landkreisen) und den Sozialhilfeträgern finanziert. Die jeweiligen Angebote werden von öffentlichen und freien Trägern der Jugendhilfe und von medizinischen Institutionen, niedergelassenen Praxen und Trägern des öffentlichen Gesundheitsdienstes vorgehalten. Die Frühförderung ist sowohl dem Gesundheitssystem als auch der Jugendhilfe zugeordnet. Hilfen oder Versorgungsleistungen für Familien werden gewöhnlich entweder nur von dem einen oder dem anderen System vorgehalten beziehungsweise werden nicht miteinander koordiniert. Die jeweiligen Fachkräfte arbeiten gewöhnlich nur vor dem Hintergrund ihrer Disziplin und ihres Leistungsrepertoires. Mögliche Überschneidungen mit dem jeweils anderen System und gegebenenfalls auch Doppelfinanzierungen werden daher selten erkannt. Derzeit werden in Deutschland Hilfen noch allzu häufig parallel vergeben, und zwar dann, wenn Familien gleichermaßen von Kinder- und Jugendhilfe und von der Gesundheitshilfe betreut werden und Hilfen erhalten, diese aber nicht miteinander koordiniert werden. Nicht selten wissen die jeweiligen Institutionen nicht einmal, dass sie eine Familie gleichzeitig betreuen. Neben den finanziellen Kosten belegen solche Doppelstrukturen die hohen Reibungsverluste in der Kommunikation und Kooperation zwischen interdisziplinären Hilfesystemen (Fegert, 2007). Umgekehrt werden Angebote des jeweils anderen Systems, die die eigene Beratung oder Behandlung sinnvoll ergänzen oder unterstützen, bisher wenig einbezogen. Innerhalb der Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe kommt hinzu, dass die Vielfalt von Angeboten und ihre Qualität darüber hinaus von der individuellen Angebotspalette einzelner Freier Träger in der Kommune abhängt und bisher wenig gesteuert wird. Die Frühförderung bildet hier aufgrund ihrer besonderen Struktur eine Ausnahme, als sie heilpädagogische, psychologische und medizinische Leistungen integriert und gleichermaßen Leistungen des Gesundheitssystems als auch der Kinder- und Jugendhilfe anbietet. Ein weiterer Grund für Reibungsverluste in der Kooperation zwischen Kinder- und Jugendhilfe und dem Gesundheitssystem dürfte darin liegen, dass die beiden Systeme auf unterschiedlichen theoretischen Grundlagen und Denkmodellen basieren, die implizit das fachliche Handeln der Akteure aus diesen Bereichen beeinflussen. Die Kinder- und Jugendhilfe ist pädagogisch orientiert und in der Ausbildung angelegt, während das Gesundheitssystem medizinisch orientiert ist. Diese unterschiedliche Sozialisation mit unterschiedlichen Sprachen, Herangehensweisen und Interpretationsfolien führt nicht selten zu Verständnisschwierigkeiten in der Kommunikation zwischen Akteuren aus den beiden Systemen. Der Blick und die Herangehensweise in der Kinder- und Jugendhilfe sind eher familienzentriert, während im Gesundheitsbereich ein eher individuumszentriertes Herangehen üblich ist. Die Kinder- und Jugendhilfe hat den Anspruch, ressourcenorientiert zu handeln, während das Gesundheitssystem bisweilen defizitorientiert arbeitet, zwangsläufig auch deswegen, weil die Voraussetzung einer Hilfe und Leistung an eine störungs- oder krankheitsrelevante Diagnose gemäß dem Klassifikationssystem ICD-10 gebunden ist. Die Instrumente und Vorgehensweisen in beiden Systemen unterscheiden sich stark. Bisweilen verbergen sich unter einem Begriff, wie etwa dem der Diagnose, völlig unterschiedliche Definitionen. Während, wie erwähnt, Diagnose in der Medizin die systematische Benennung eines Krankheitsbildes auf der Basis eines festgelegten Klassifikationssystems bedeutet, dem unterschiedliche standardisierte Untersuchungs- und Abklärungsverfahren vorangehen, wird (sozialpädagogische) Diagnose in der Kinder- und Jugendhilfe als Grundlage für eine fachlich begründete Hilfeplanung verstanden (Merchel, 2005). So verstandene Diagnose in 74 Ute Ziegenhain, Jörg M. Fegert FI 2/ 2009 der Kinder- und Jugendhilfe ist dann nötig, wenn nach § 36 SGB VIII über die „im Einzelfall angezeigte Hilfeart“, die für die Entwicklung eines Kindes nach § 27 Abs. 1 SGB VIII „geeignet und notwendig“ ist, entschieden werden muss. Es geht dabei sowohl um die inhaltliche, fachliche Hilfeplanung als auch um deren verbindliche Organisation. Eine Folge dieser unterschiedlichen Definitionen und Herangehensweisen in der Kinder- und Jugendhilfe und im Gesundheitssystem ist, dass bisher eine interdisziplinäre Verständigung auf standardisierte und wissenschaftlich geprüfte Verfahren und Vorgehensweisen, die systematisch und verbindlich angewendet werden, zwischen der Kinder- und Jugendhilfe und dem Gesundheitssystem fehlt. Dabei lassen sich chronische und offenbar nicht überwindbare Diskussionen um gemeinsame Standards und den Einsatz empirisch abgesicherter Instrumente geradezu als Symptome unbefriedigender und unzureichender Zusammenarbeit interpretieren. Tatsächlich fehlt es insbesondere im Bereich der frühen Kindheit an leicht einsetzbaren, aber doch aussagekräftigen Verfahren zur Risikoerkennung und -dokumentation (Kindler, 2008). Hierbei geht es nicht um eine situative Einschätzung, ob etwa ein Kind akut gefährdet ist. Vielmehr geht es um die Einschätzung darüber, ob aufgrund vorliegender Risiken die Wahrscheinlichkeit einer Entwicklungsgefährdung besteht und ob Eltern für die Inanspruchnahme von frühen und präventiven Angeboten gewonnen werden können. Es geht also um die Entwicklung von Instrumenten, die interdisziplinär eine Klammer gemeinsamer Sprache und verbindlicher Zusammenarbeit setzen können. Als weitere Hinderungsgründe in der interdisziplinären Zusammenarbeit lassen sich in der Praxis häufig Schwierigkeiten beobachten, die Aufgaben und Kernkompetenzen der eigenen Disziplin zu beschreiben und danach zu handeln ebenso wie in häufiger Unkenntnis über die Aufgabenbereiche und das Vorgehen der jeweils anderen Disziplinen. In einer eigenen Untersuchung über die interdisziplinäre Zusammenarbeit bei sexuellem Missbrauch zeigte sich, dass es allen sehr viel leichter fiel, Aufgabenbereiche, Chancen und Grenzen des Vorgehens der Kooperationspartner aus anderen Disziplinen zu beschreiben, als das für die eigenen Aufgaben möglich war (Fegert, Berger, Klopfer, Lehmkuhl & Lehmkuhl, 2001). Detailliertes Wissen um die eigenen Kompetenzen, aber auch eigene Schwächen und Grenzen ist aber Grundvoraussetzung, um ohne „sprachliche“ Missverständnisse und ohne Vorurteile miteinander zu kooperieren. Daneben bestehen häufig sehr hohe Erwartungen an die jeweils andere Profession, die dann in der Alltagspraxis zwangsläufig enttäuscht werden müssen. Gleichzeitig bestehen nicht selten Befürchtungen davor, von Kollegen aus den jeweils anderen Disziplinen beeinflusst beziehungsweise in der Zusammenarbeit dominiert zu werden. In der Praxis lässt sich außerdem durchaus beobachten, dass „Vernetzung“ auch als Alibi genutzt wird, um Kostendruck abzuwälzen oder Streit um Zuständigkeiten zu verbergen. Unter dem Vorwand von Vernetzung lassen sich Verantwortlichkeiten verschleiern, in endlose Delegationsketten überführen oder an Spezialbereiche beziehungsweise Modellprojekte abgeben. In diesem Zusammenhang werden nicht selten auch Pseudodatenschutzargumente angeführt, um eine stärkere Vernetzung mit anderen Disziplinen und Institutionen zu vermeiden. Am letztgenannten Thema Datenschutz machen sich aber auch Verunsicherungen fest. Die Zusammenarbeit zwischen Vertreterinnen und Vertretern des Gesundheitssystems und der Kinder- und Jugendhilfe wirft zwangsläufig Fragen nach den jeweiligen Verpflichtungen der einzelnen Berufsgruppen zur Verschwiegenheit und Vertraulichkeit auf. Damit verbunden ist die ernstzunehmende Sorge, das Vertrauen der Klienten zu schützen. Dabei werden gewöhnlich insbesondere die glücklicherweise sel- FI 2/ 2009 Interdisziplinäre Kooperation und Vernetzung 75 tenen Grenzfälle diskutiert, in denen Helfer im Gesundheitsbereich hohe Risiken erkennen, die Eltern aber die angebotenen Hilfen ablehnen. Hier werden am Thema Datenschutz auch die emotionalen Belastungen deutlich, die mit der Arbeit im Kinderschutz einhergehen, und zwar auch dann, wenn es sich, wie im Bereich der Frühen Hilfen, „nur“ um präventive und niedrigschwellige Angebote handelt. Diese liegen in der Regel weit vor einer (drohenden) Kindeswohlgefährdung. Solche Fälle von Kindeswohlgefährdung, so tragisch sie in jedem Einzelfall sind, betreffen nur einen kleinen Prozentsatz von geschätzten 5 % bis maximal 10 % aller Säuglinge und Kleinkinder (Esser & Weinel, 1990). Zumindest im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe sind im § 8 a SGB VIII für den Umgang mit (drohender) Kindeswohlgefährdung klare und verbindliche Vorgehensweisen festgeschrieben. Die Tragik und das Leid dieser Fälle und dabei die Sorge, gegebenenfalls selber im Umgang mit einem solchen Fall nicht angemessen zu handeln, beeinflusst vermutlich auch die Kooperation im Bereich der Frühen Hilfen und im Kinderschutz. Sie können zu Gefühlen von Abhängigkeit, Unsicherheit, Überforderung oder Versagensängste führen, die sich negativ auf nachhaltige Kooperationsbemühungen auswirken können, nämlich dann, wenn sie etwa zu Aktionismus oder Kontrolle im Handeln führen oder aber zur Entwertung der jeweils anderen Berufsgruppe. Die gewöhnlich hohe Erwartungshaltung und hohen Ansprüche im Kinderschutz sowohl an andere Helfer als auch an sich selbst dürfte dabei eine konstruktive interdisziplinäre Zusammenarbeit weiterhin erschweren ebenso wie die immer wieder aufflammenden und dann emotionalisiert geführten öffentlichen Debatten um Kinderschutzfälle. Ganz pragmatische Gründe schließlich, die eine interdisziplinäre Zusammenarbeit behindern, sind bestehende Aufträge zur Vernetzung, für deren Erledigung jedoch Ressourcen fehlen. Bisher wird der Aufwand für regionale Vernetzungen gewöhnlich weder benannt oder in Tätigkeitsbeschreibungen festgehalten noch werden die Kosten für Vernetzungen realistisch eingeplant. In einer solchen „Doublebind-Situation“ liegt ein hohes Potenzial für Frustration und Enttäuschung der beteiligten Akteure. Reibungsverluste in der interdisziplinären Zusammenarbeit können also systematische und effektive Hilfen im präventiven Kinderschutz behindern. Ihre Verbesserung und Optimierung ist daher wichtiger Bestandteil des Kinderschutzes. Modellprojekt „Guter Start ins Kinderleben“ Im Rahmen des Modellprojektes „Guter Start ins Kinderleben“ war die Kooperation und Vernetzung zwischen Gesundheitswesen und Kinder- und Jugendhilfe ein wesentlicher Schwerpunkt. Ziel des Projektes war die frühe Förderung der Erziehungs- und Beziehungskompetenzen von Eltern in prekären Lebenslagen und Risikosituationen insbesondere zur Prävention von Vernachlässigung und Kindeswohlgefährdung im frühen Lebensalter 1 . Für eine optimale Unterstützung und Versorgung wurden gemeinsam mit der Praxis an acht Modellstandorten in vier beteiligten Bundesländern interdisziplinäre Kooperationsformen und Vernetzungsstrukturen erprobt und entwickelt (Ostalbkreis und Pforzheim in Baden-Württemberg, Erlangen und Traunstein in Bayern, Ludwigshafen und Trier in Rheinland-Pfalz sowie Gera und Kyffhäuserkreis in Thüringen). Diese Kooperationsformen bauten ausdrücklich auf bestehenden Regelstrukturen auf beziehungsweise wurden in bestehende Regelstrukturen eingebunden. Dabei war es wichtiger Schwerpunkt, Angebote von Jugend- und Gesundheitshilfe systematisch miteinander zu koordinieren und dieses Vernetzungskonzept auf der Basis bestehender sozialrechtlicher Grundlagen, Leistungsansprüche und vorhandener Angebote bzw. Zuständigkeiten auf Praxistauglich- 76 Ute Ziegenhain, Jörg M. Fegert FI 2/ 2009 keit und Wirksamkeit zu prüfen. Ziel war es, passgenaue und lückenlose Angebote für die frühe Kindheit vorzuhalten und die bestehende Angebotsstruktur vor Ort zu optimieren und gegebenenfalls zu ergänzen. Als Ergebnis dieser Praxisbegleitung und der Erfahrungen an den Modellstandorten wird ein „Werkbuch Vernetzung“ erstellt. Es soll interessierten Praktikern die Möglichkeit geben, auf der Grundlage der Erfahrungen im Modellprojekt eigene Vernetzungsprozesse zu planen, zu strukturieren und umzusetzen. Auf struktureller Ebene wurden sogenannte Runde Tische als zentrales Instrument einer gemeinsamen kommunalen Kooperation und Vernetzung etabliert. Solche Runden Tische sind nicht neu. Sie entstehen erfreulicherweise regional zunehmend. Sie werden gewöhnlich in der Freizeit der Fachkräfte etabliert und sind in ihrer Nachhaltigkeit vom privaten Engagement Einzelner abhängig. Im Rahmen dieses Projektes bestanden ein klarer Auftrag und eine hohe Motivation der beteiligten Kommunen für die Arbeit an den Runden Tischen und damit von Anfang an eine hohe Verbindlichkeit. Die Teilnahme an den Runden Tischen war auch hier zum großen Teil vom freiwilligen Engagement der beteiligten Akteure getragen. Teilnehmer sind alle, die aufgrund ihrer Profession mit dem Thema Kinderschutz in Berührung kommen. Dazu gehören Vertreter der öffentlichen und freien Jugendhilfe, des Gesundheitswesens sowie der ARGE, der Polizei oder Familienrichter. Im Einzelnen gehören dazu Vertreterinnen und Vertreter der Familienbildung, von Beratungsstellen, der Frühförderung, aus Kliniken, des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, Hebammen ebenso wie niedergelassene Kinder- und Jugendärzte, Allgemeinärzte oder Gynäkologen, Kinder- und Jugendpsychiater, Erwachsenenpsychiater oder Vertreterinnen und Vertreter von Suchtberatungsstellen. Wichtig bei der Zusammenstellung der Runden Tische war es, gleichermaßen Vertreterinnen und Vertreter von niedrigschwelligen als auch von höherschwelligen Hilfen zu versammeln. Diese verpflichteten sich als Multiplikatoren bzw. Schlüsselpersonen, die Informationen und Ergebnisse der Runden Tische in ihre jeweiligen Berufsgruppen und Institutionen zurückzumelden und umgekehrt Informationen und Anliegen aus ihrer Berufsgruppe oder Institution in die Runden Tische einzubringen. Zentral für das Gelingen des gesamten Vernetzungsprozesses war die Verabredung, an jedem der Modellstandorte Koordinatorinnen bzw. Koordinatoren, wenn möglich aus der Kinder- und Jugendhilfe und aus dem Gesundheitssystem, zu bestimmen, die die Runden Tische organisierten und die Kooperationsabsprachen vor Ort steuerten. Ziel der Runden Tische war es, eine gemeinsame Informations- und Kommunikationsplattform zu schaffen, und die Grundlage für die Vereinbarung klarer Zuständigkeiten und verbindlicher Verfahrenswege in der Kommune zu legen. Im Falle interdisziplinärer Vernetzungsanforderungen gehört dazu unbedingt auch eine Analyse über die sozialrechtlichen und datenschutzrechtlichen Grundlagen der Zusammenarbeit, wie sie in unterschiedlichen Gesetzbüchern festgeschrieben sind. Ebenso zentral sind die Entwicklung interdisziplinärer fachlicher Standards und die Entwicklung von Instrumenten zur Einschätzung möglicher Entwicklungsgefährdung bei Säuglingen und Kleinkindern. Abgestimmt auf die jeweilige Situation und das Risikoniveau von Familien sind sie wichtige Grundlage einer passgenauen Planung von Hilfen. Hierzu wurden zwei Expertisen erstellt. Die eine Expertise „Kooperation für einen guten Start ins Kinderleben - der rechtliche Rahmen“ analysiert die sozial- und datenschutzrechtlichen Grundlagen und Voraussetzungen für eine verbesserte Kooperation im Bereich früher Hilfen insbesondere an der Schnittstelle zwischen Gesundheitshilfe und Kinder- und Jugendhilfe (Meysen, Schönecker & Kindler, 2008; siehe auch Schönecker in diesem Heft). Die andere Expertise „Wie könnte ein Risikoinventar für frühe Hilfen FI 2/ 2009 Interdisziplinäre Kooperation und Vernetzung 77 aussehen“ fasst fachliche Grundlagen eines Risikoinventars für den Bereich frühe Hilfen zusammen und leitet daraus einen Vorschlag für ein Risikoinventar ab. Dieser sogenannte „Anhaltsbogen für ein vertiefendes Gespräch“ eignet sich insbesondere als Baustein für eine frühe und präventive Risikoerfassung für die Zeit rund um die Geburt und im Gesundheitsbereich, da hier gute und wenig stigmatisierende Möglichkeiten eines niedrigschwelligen Zugangs zu Eltern liegen (Meysen, Schönecker & Kindler, 2008). Die Initiative hierzu wurde von Frau Dr. Filsinger, Herrn Dr. Gehrmann und Herrn Dr. Bechtold, sowie weiteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des St. Marien- und St. Annastiftskrankenhauses am Modellstandort in Ludwigshafen ergriffen, von denen eine erste Version des Screeningbogens erstellt wurde, die dann im Rahmen der Expertise weiterentwickelt und genauer gefasst wurde. Der Anhaltbogen enthält nur fünf Punkte, deckt aber eine erhebliche Bandbreite möglicher Risikofaktoren ab. Diese weisen für sich alleine genommen auf ein mögliches Risiko hin. Diese sind (1) mindestens eine besondere soziale Belastung (z. B. Mutter unter 18 Jahre, Partnergewalt, psychische Auffälligkeit/ Erkrankung, Suchtanzeichen), (2) mehrere fehlende Schwangerschaftsuntersuchungen/ U-Untersuchungen, (3) Kind stellt deutlich erhöhte Fürsorgeanforderungen, die die Möglichkeiten der Familie zu übersteigen drohen (z. B. Frühgeburtlichkeit, chronische Erkrankung, deutliche Entwicklungsverzögerung), (4) beobachtbare deutliche Schwierigkeiten der Hauptbezugsperson bei der Annahme und Versorgung des Kindes sowie (5) Hauptbezugsperson beschreibt starke Zukunftsangst, Überforderung oder Gefühl, vom Kind abgelehnt zu werden (vgl. Künster, Ziesel & Ziegenhain in diesem Heft). Der Anhaltsbogen stellt ein einfach und schnell auszufüllendes Grobscreening zum Einsatz in Geburtskliniken dar. Im Rahmen des Modellprojektes wurden an allen Modellstandorten drei Runde Tische durchgeführt. Die Vorbereitung und Durchführung erfolgte in Kooperation mit den örtlichen Projektkoordinatoren und dem Deutschen Institut für Jugendhilfe- und Familienrecht, das für die Moderation der Runden Tische zur Verfügung stand. Die Rolle des Universitätsklinikums Ulm bestand in der Steuerung und Auswertung des Gesamtprozesses und in fachlichem Input an den Runden Tischen. Darüber hinaus wurden sozial- und datenschutzrechtliche Aspekte von Dr. Thomas Meysen und Lydia Schönecker, Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht, eingebracht und der Vorschlag des „Anhaltsbogens für ein vertiefendes Gespräch“ als Grundlage für frühe und niedrigschwellige Hilfeangebote von Dr. Heinz Kindler, Deutsches Jugendinstitut. Die vorgegebene begrenzte zeitliche Kapazität einer gemeinsamen Vernetzungsplanung vor Ort erforderte eine überlegte Auswahl der Inhalte dieser Runden Tische. Inhalt des ersten Runden Tisches war, neben einer Einführung in die besondere Bedeutung der Frühen Hilfen in der Säuglings- und Kleinkindzeit und die Notwendigkeit interdisziplinärer Zusammenarbeit, die Einführung des „Anhaltsbogens für ein vertiefendes Gespräch“ zunächst an den Geburtskliniken und die Frage der Weitervermittlung von Eltern aus der Gesundheitshilfe in die Jugendhilfe. Dabei war es Ziel, junge Eltern mit Risiken früh und möglichst breit anzusprechen und zwar zu einem Zeitpunkt, an dem Eltern gewöhnlich offen sind und in einem frühen und vertrauensvollen Kontakt mit Hebammen oder Ärzten stehen. Die damit verbundenen datenschutzrechtlichen Fragen wurden vom Deutschen Institut für Jugendhilfe und Familienrecht vorgestellt und diskutiert. Die Bereitschaft und die Möglichkeiten einen solcherart strukturierten Zugang zu jungen Familien zu wählen und Frühe Hilfen anzubieten, wurde an den Modellstandorten unterschiedlich eingeschätzt und letztlich auch 78 Ute Ziegenhain, Jörg M. Fegert FI 2/ 2009 umgesetzt. Mittlerweile wird der Anhaltsbogen an vier der acht Standorte systematisch als Basis für weiterführende Hilfeangebote genutzt (vgl. Künster et al., in diesem Heft). Zwischen dem ersten und dem zweiten Runden Tisch wurde bei allen relevanten Akteuren im Frühbereich mittels eines „Fragebogens zur Vernetzung“ erfragt, welche Institutionen momentan miteinander in Kontakt stehen und wie zufrieden die Kooperationspartner jeweils mit der Zusammenarbeit sind (Prä-Post vor und nach Etablierung der Runden Tische). Dabei werden die Vernetzungsstrukturen an der Schnittstelle zwischen Gesundheits- und Jugendhilfe in besonderem Maße herausgearbeitet. Neben der konventionellen Auswertung dieser Informationen wurde darüber hinaus außerdem die Darstellungsform einer asymmetrischen Soziomatrix gewählt. Dieses Vorgehen ist insofern von Interesse, als damit auch unterschiedliche Vorlieben oder „Abneigungen“ der Zusammenarbeit anschaulich gemacht werden können, die nicht immer auf Gegenseitigkeit beruhen, die aber zu gelingender Kooperation oder zu Reibungsverlusten nicht unerheblich beitragen können (UCINET; http: / / www.ana lytictech.com/ ucinet/ ucinet.htm). Des Weiteren wurde erfragt, welche spezifischen Angebote für die frühe Kindheit in der Kommune an den Standorten vorgehalten werden. Die Ergebnisse dieser ersten (Prä-) Fragebogenerhebung wurde den Standorten am zweiten Runden Tisch rückgemeldet. Damit lassen sich im Prozess der Vernetzungsplanung gezielte Rückmeldungen für die Weiterentwicklung und Optimierung der regionalen Kooperationsstrukturen nutzen. Mit der Erstellung einer Angebotsübersicht und -struktur knüpfte dieser zweite Runde Tisch darüber hinaus damit an den ersten an, indem nach frühem Ansprechen der Eltern dann auch eine möglichst passgenaue Angebotspalette entwickelt und abgestimmt wird. Inhalt des dritten Runden Tisches war es, die bisherige Entwicklung an den Standorten zusammenzufassen und die weitere Entwicklung zu planen. Insgesamt wurde ein positives Resümee über die bisherige Arbeit gezogen. An allen Modellstandorten wurde einhellig beschlossen, die Vernetzungsarbeit weiterzuführen und, auch nach Ablauf der Modellförderung, weitere Runde Tische durchzuführen. Deutlich wurde aber auch, dass in der Bereitstellung adäquater, rechtzeitiger und passgenauer Hilfen noch Herausforderungen liegen. Zunächst ist es wichtig, Familien mit besonderem Unterstützungsbedarf früh zu erkennen und zu erreichen. Dazu müssen Schnittstellen, insbesondere zwischen Gesundheits- und Jugendhilfe, organisiert und optimiert werden. Beim Einsatz prinzipiell wirksamer Früher Hilfen kommt es dann aber auch auf ihre passgenaue Ausgestaltung an. Da unterschiedliche Ursachen zu früher Vernachlässigung bzw. Misshandlung führen können, besteht die fachliche Herausforderung dann darin, die jeweils zugrunde liegenden Risikomechanismen, die im jeweiligen Einzelfall wirken, zu erkennen und die Hilfen darauf abzustimmen und sinnvoll auszugestalten. Hierfür wurde ein Unterstützungsbogen für die Kinder- und Jugendhilfe bereitgestellt, der, als Ergänzung der bereits bestehenden Instrumente und Methoden der Hilfeplanung in der Jugendhilfe, die fallführende Fachkraft in der Wahl passgenauer Hilfen unterstützen soll (Kindler, Ziesel, König, Schöllhorn, Ziegenhain & Fegert, im Druck). Bei der Erstellung des Bogens wurden die derzeit verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse über verschiedene Ursachen früher Vernachlässigung bzw. Misshandlung ausgewertet. Diese Faktoren wurden für Einschätzungen in der Praxis aufbereitet und mit Empfehlungen für die wirksame Ausgestaltung von Hilfe versehen. Zwischen den Runden Tischen fanden an den Modellstandorten Treffen nach Bedarf und in unterschiedlicher Zusammensetzung statt. Es wurden die jeweils vorhergehenden Runden Tische ausgewertet, Rückmeldungen FI 2/ 2009 Interdisziplinäre Kooperation und Vernetzung 79 mit den Ansprechpartnern vor Ort eingeholt und rückgekoppelt und die jeweiligen „Arbeitsaufträge“ abgearbeitet. Über die Begleitung der Runden Tische hinaus und die Bereitstellung der Ergebnisse der Expertisen und der Instrumente wurden ergänzende Angebote für die Vernetzungskoordination der bestehenden Angebotsstruktur an den Modellstandorten vorgehalten. In Kooperation mit dem Deutschen Institut für Jugendhilfe und Familienrecht wurde für den Übergang von Gesundheitshilfe zur Kinder- und Jugendhilfe an den Modellstandorten ein Workshop Kinderschutz durchgeführt, in dem Hebammen, Kinderkrankenschwestern ggf. Erzieherinnen etc., die Eltern und ihre Säuglinge in (hoch-) belasteten Lebenssituationen sehr früh und in gewöhnlich noch wenig belasteten professionellen Kontexten kennenlernen, (1) für diskrete und (noch) nicht klinisch auffällige beziehungsweise für Zeichen von (drohender) Kindeswohlgefährdung sensibilisiert werden, sie (2) dafür qualifiziert werden, Eltern ressourcenorientiert und unbedrohlich weiterführende Hilfen anzubieten und ihnen zu vermitteln, (3) sie über datenschutzrechtliche Aspekte im Kontext von (drohender) Kindeswohlgefährdung informiert werden und ihnen Vorschläge für ressourcenorientierte Formulierungen im Gespräch mit Eltern an die Hand gegeben werden, die die datenschutzrechtlichen Vorgaben einbeziehen sowie (4) für sie konkrete Ansprechpartner am Modellstandort abgesprochen beziehungsweise Wege der Weitervermittlung von Eltern verbindlich vorgebahnt werden. An den Modellstandorten wurde des Weiteren ein interdisziplinärer Weiterbildungskurs Entwicklungspsychologische Beratung zur Förderung elterlicher Beziehungs- und Erziehungskompetenzen durchgeführt (abgeschlossenes Bundesmodellprojekt, Ziegenhain, Fries, Bütow & Derksen, 2004). Die Entwicklungspsychologische Beratung ist als ein Baustein konzipiert, der sich flexibel in unterschiedliche Praxisfelder und institutionelle Hilfestrukturen integrieren und mit anderen Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe und des Gesundheitssystems verbinden lässt. Die Entwicklungspsychologische Beratung verknüpft die bindungstheoretisch begründete Förderung feinfühligen elterlichen Verhaltens mit der spezifischen Vermittlung von Ausdrucks-, Belastungs- und Bewältigungsverhaltensweisen von Säuglingen und Kleinkindern. Das Vorgehen basiert auf Video-Feedback. Die Durchführung der Beratung ist ressourcenorientiert und erfolgt in Anwesenheit des Säuglings. Auf der Grundlage von kurzen Videoszenen wird Verhalten primär aus der Perspektive des Kindes beschrieben und elterliches Verhalten darauf bezogen. Dabei werden grundsätzlich positive Interaktionen einbezogen und negativen vorangestellt. Den aufeinander folgenden Beratungen werden jeweils neue Videoaufnahmen zugrunde gelegt. Die zertifizierte Weiterbildung wurde berufsbegleitend für Mitarbeiter aus dem Gesundheits- und dem Kinder- und Jugendhilfebereich angeboten. Mit einer Kosten-Nutzen-Analyse wird schließlich die Wirtschaftlichkeit des etablierten Vernetzungs- und Hilfesystems an den Modellstandorten zur Vermeidung von Kindeswohlgefährdung und -vernachlässigung im Hinblick auf ihre finanzielle Rentabilität geprüft (Prof. Dr. Uta Meier-Gräwe und Dipl. oec. troph. Inga Wagenknecht). Aus internationalen Kosten-Nutzen-Analysen ist hinlänglich bekannt, dass direkte und indirekte Effekte durch einen präventiven Kinderschutz die anfänglichen Investitionskosten überwiegen, weshalb mit positiven Auswirkungen auch auf finanzieller Ebene für die beteiligten Systeme und darüber hinaus zu rechnen ist (vgl. Wagenknecht, Meier-Gräwe & Fegert in diesem Heft). 80 Ute Ziegenhain, Jörg M. Fegert FI 2/ 2009 Vorläufiges Zwischenergebnis Strukturell scheinen sich „Runde Tische“ bei der Etablierung von Vernetzungsstrukturen als ein Instrument interdisziplinärer Einbindung von Personen und Institutionen vor Ort zu bewähren. Sie ermöglichen transparente und zeitnahe Informationen. Dabei dürfte eine neutrale Moderation dieser Runden Tische entlastend wirken und dazu beitragen, dass auch kritische Themen versachlicht und verbindliche Absprachen getroffen werden können. Ebenso bewährt hat es sich, Multiplikatoren aus den unterschiedlichen Berufsgruppen und Institutionen zu benennen, um Informationen systematisch rückbinden zu können. Selbstverständlich genügen Runde Tische für sich alleine genommen nicht, um eine verbindliche Vernetzungsstruktur vor Ort zu etablieren. Vielmehr braucht es darüber hinaus zur Planung und Steuerung themenbezogene und kleinere arbeitsfähige Arbeitsgruppen, die möglichst interdisziplinär besetzt sind. Dabei hat es sich sehr bewährt, wenn Koordinatorinnen und Koordinatoren vor Ort die interdisziplinären Vernetzungsprozesse zum Kinderschutz und zu Frühen Hilfen organisieren und steuern. Dies war insbesondere dann der Fall, wenn Koordinatorenteams gleichermaßen aus dem Gesundheitssystem und der Kinder- und Jugendhilfe kommen. Hier dürfte die jeweilige Bekanntheit mit Kollegen und Einrichtungen der eigenen Disziplin in der Kommune, aber besonders auch die Kenntnis um die Strukturen und Möglichkeiten des Gesundheitsbeziehungsweise des Jugendhilfebereichs wichtig sein, um gemeinsame Lösungen und Wege zu entwickeln. Dabei hat sich für die individuelle Vermittlung von weiterführenden Hilfen an der Schnittstelle zwischen dem Gesundheitssystem und der Kinder- und Jugendhilfe die Einrichtung von Fachstellen oder Clearingstellen als erfolgversprechend erwiesen. Mit klar festgelegten Zuständigkeiten und persönlich bekannten Ansprechpartnern in der Kinder- und Jugendhilfe („One-Faceto-the-Customer“) konnten Reibungsverluste und auch Ärger wegen Verzögerungen oder unklaren Zuständigkeiten deutlich reduziert werden. Die Einführung des Anhaltsbogens an einzelnen Standorten unterstützte die Etablierung verbindlicher Verfahrensabläufe. Die Pflege von Beziehungen vor Ort erwies sich als eine erfolgreiche und unterstützende Strategie im Vernetzungsprozess. Beziehungsstiftend wirkten darüber hinaus offenbar auch ein gemeinsamer Projektname oder Auftaktveranstaltungen, anlässlich derer das gemeinsame Vorhaben vorgestellt und um Teilnahme geworben wurde. In der alltäglichen Zusammenarbeit wurde des Öfteren auf das gemeinsame Projekt Bezug genommen. Insgesamt scheint es ein Qualitätsmerkmal gelingender Vernetzung zu sein, möglichst alle im Frühbereich Tätigen an den Runden Tischen zu integrieren. Beobachten ließ sich, dass eine verbesserte Zusammenarbeit und Vernetzung durch die Einrichtung anonymisierter Fallberatungen oder interdisziplinärer kollegialer Supervisionsgruppen deutlich gefördert wurde. Dies zeigte sich in verbesserten Verfahrensabläufen, aber auch in zunehmendem Wissen der Akteure um die Kompetenzen und Grenzen der jeweils anderen Berufsgruppe. Gemeinsame Lerngruppen, wie die der interdisziplinären Weiterbildung Entwicklungspsychologische Beratung oder der Workshop Kinderschutz förderten diesen Prozess außerdem. So wichtig wie solche Vernetzungs- und Entwicklungsprozesse vor Ort sind, braucht es für einen nachhaltigen Kinderschutz und für die Etablierung nachhaltiger Strukturen unbedingt auch eine administrative Verankerung und Steuerung in der Kommune ebenso wie durch die jeweiligen Länder. Hier wurden an einzelnen Modellstandorten Lösungen intelligenter Allokation von Ressourcen oder der Entgeltfinanzierung Früher FI 2/ 2009 Interdisziplinäre Kooperation und Vernetzung 81 Hilfen entwickelt. Im Kinderschutzgesetz Rheinland-Pfalz - Landesgesetz zum Schutz von Kindeswohl und Kindergesundheit - wurde im Rahmen sogenannter lokaler Netzwerke die Etablierung von Gremien im Sinne Runder Tische festgeschrieben und durch das Land finanziell gefördert. Als weitere Landesinitiative zur finanziellen Förderung richtete das Land Bayern sogenannte „Koordinierende Kinderschutzstellen“ zur interdisziplinären Vernetzung Früher Hilfen ein, andere Landesförderungen sind die Qualifizierungsoffensive zum Kinderschutz in Baden-Württemberg oder der „Maßnahmenkatalog frühe Hilfen für Familien und wirksamen Kinderschutz“ in Thüringen. Zu gelingender interdisziplinären Kooperation und Vernetzung gehört schließlich auch eine Kommunikation „auf Augenhöhe“ und gegenseitige Wertschätzung. Transparenz ist dabei ebenso wichtig wie das Bemühen, alle Akteure in den Vernetzungsprozess zu integrieren. Dabei helfen eine gemeinsame Haltung, die Perspektive des Kindes im Blick zu behalten, und die Einsicht, dass, bei aller Notwendigkeit, die interdisziplinäre Zusammenarbeit und Vernetzung im Kinderschutz zu verbessern, Optimalität nicht erreichbar ist. Angesichts der hohen Erwartungen und Ansprüche an den Kinderschutz und der emotionalisiert geführten Debatten hilft eine Haltung, die „hinreichend guten, statt perfekten“ Kinderschutz anstrebt. Dazu gehört in der Umsetzung nachhaltige und professionell solide Lösungen zu entwickeln und hastige und kurzfristige Lösungen zu vermeiden. Anmerkung 1 Das Projekt wurde in gemeinsamer Initiative der Bundesländer Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz und Thüringen entwickelt und gemeinsam gefördert. Die Evaluation wurde vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Aktionsprogramms „Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme“ gefördert. Literatur Esser, G., Weinel, H. (1990). Vernachlässigende und ablehnende Mütter in Interaktion mit ihren Kindern. In J. Martinius & R. Frank (Hrsg.). Vernachlässigung, Missbrauch und Misshandlung von Kindern. Erkennen, Bewusstmachen, Helfen. Bern: Huber Fegert, J. M. (2003): Überlegungen zur Implementierung und Verstetigung sekundär-präventiver Beratungsansätze in der Jugendhilfe-Praxis. Vortrag auf der Tagung des Vereins für Kommunalwissenschaften in Kooperation mit dem Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband, Landesverband Berlin e.V. und dem Universitätsklinikum Ulm, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/ Psychotherapie: It Takes Two to Tango. Frühe Kindheit an der Schnittstelle zwischen Jugendhilfe und Entwicklungspsychologie. 14. - 16. Mai, Berlin Fegert, Fegert, J. M., Berger, C., Klopfer, U., Lehmkuhl, U. & Lehmkuhl, G. (2001) Umgang mit sexuellem Missbrauch. Institutionelle und individuelle Reaktionen. Münster: Votum Fegert, J. M. (2007). Vorschläge zur Entwicklung eines Diagnoseinventars sowie zur verbesserten Koordinierung und Vernetzung im Kinderschutz. In: U. Ziegenhain & J. M. Fegert (Hrsg.). Kindeswohlgefährdung und Vernachlässigung (195 - 206). München: Reinhardt Kindler, H.; Lillig, S.; Blüml, H.; Werner, A. Handbuch Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB und Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD). Deutsches Jugendinstitut, München 2006, www.dji.de/ asd Kindler, H., Ziesel, B., König, C., Schöllhorn, A., Ziegenhain, U. & Fegert, J. M. (im Druck). Unterstützungsbogen für die Jugendhilfe: Bogen zur Unterstützung der Hilfeplanung im frühen Kindesalter. Das Jugendamt. Merchel, J. (2005). „Diagnostik“ als Grundlage für eine fachlich begründete Hilfeplanung: Inhaltliche Anforderungen und angemessene Semantik. Vortrag auf der Tagung des Vereins für Kommunalwissenschaften: Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe. Vom Fallverstehen zur richtigen Hilfe. 21. - 22. April 2005, Berlin. Meysen, T., Schönecker. L. & Kindler, H. (2008). Frühe Hilfen im Kinderschutz. Rechtliche Rahmenbedingungen und Risikodiagnostik in der Kooperation von Gesundheits- und Jugendhilfe. In J. M. Fegert & U. Ziegenhain (Hrsg.). Studien und Praxishilfen zum Kinderschutz. Weinheim: Juventa. Trocmé, N., MacMillan H., Fallon B. & De Marco, R. (2003). Nature and severity of physical harm caused by child abuse and neglect. Canadian Medical Association Journal 169: 911 - 915. Ziegenhain, U., Fries, M., Bütow, B. & Derksen, B. (2004). Entwicklungspsychologische Beratung für junge Eltern. Ein Handlungsmodell für die Jugendhilfe. Weinheim: Juventa PD Dr. Ute Ziegenhain Prof. Dr. Jörg M. Fegert Universitäts- und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Steinhörlstr. 5 D-89075 Ulm E-Mail: ute.ziegenhain@uniklinik-ulm.de