Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Frühtherapie grammatisch gestörter Kinder in Gruppen - Interventionsstudie in Luxemburg
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Hans-Joachim Motsch
Marc Schmidt
Die Interventionsstudie versucht die Frage zu beantworten, ob Vorschulkinder mit Spezifischer Sprachentwicklungsstörung in kontextoptimierter Gruppentherapie signifikante Fortschritte beim Erwerb der frühen grammatischen Regeln machen. Die Studie wurde mit 49 Kindern im Alter von 4-6 Jahren in den "Vorschulklassen" des Centre de Logopédie (Luxemburg) durchgeführt. Nach einer Interventionszeit von 10 Wochen und einer Therapiehäufigkeit von 4 (EG 1) resp. 2 (EG 2) Therapieeinheiten pro Woche zeigten die Kinder der Experimentalgruppen (EG) höchst signifikante Fortschritte, die denen der Kontrollgruppe überlegen waren und über die Interventionszeit hinaus stabil blieben.
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Frühförderung interdisziplinär, 28. Jg., S. 115 - 123 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Frühtherapie grammatisch gestörter Kinder in Gruppen - Interventionsstudie in Luxemburg Hans-JoacHim motscH, marc scHmidt Zusammenfassung: Die Interventionsstudie versucht die Frage zu beantworten, ob Vorschulkinder mit Spezifischer Sprachentwicklungsstörung in kontextoptimierter Gruppentherapie signifikante Fortschritte beim Erwerb der frühen grammatischen Regeln machen. Die Studie wurde mit 49 Kindern im Alter von 4 - 6 Jahren in den „Vorschulklassen“ des Centre de Logopédie (Luxemburg) durchgeführt. Nach einer Interventionszeit von 10 Wochen und einer Therapiehäufigkeit von 4 (EG 1) resp. 2 (EG 2) Therapieeinheiten pro Woche zeigten die Kinder der Experimentalgruppen (EG) höchst signifikante Fortschritte, die denen der Kontrollgruppe überlegen waren und über die Interventionszeit hinaus stabil blieben. Schlüsselwörter: Frühtherapie, Spezifische Sprachentwicklungsstörung, Grammatiktherapie, Gruppentherapie, Interventionsstudie Early Therapy for Children with Grammatical Disorders in Groups - Intervention Study in Luxembourg Summary: The aim of the intervention study was to investigate whether preschoolers with specific language impairment, who were trained with “Context-Optimization” in a group therapy setting, make significant improvements in the acquisition of early grammatical rules. 49 children (4 - 6 years of age) participated in the study. The intervention took place in the Centre for Speech Therapy in Luxembourg. Within 10 weeks, participants in the experimental groups 1 and 2 received therapy 4 and 2 times a week, respectively. Participants in both experimental groups showed significantly higher improvements in the acquisition of early grammatical rules than children in the control group. The intervention effects remained stable over time. Keywords: Early therapy, specific language impairment, grammatical intervention, group therapy, intervention study 1. Grammatische Störungen im Frühbereich Kinder mit Spezifischer Sprachentwicklungsstörung (SSES) sind gekennzeichnet durch einen verspäteten Sprechbeginn und einen verzögerten, inkonsistenten und desynchronisierten Spracherwerb bei durchschnittlicher nonverbaler Intelligenz (Menyuk, 1993, Schöler et al., 1998). In der ICD-10 (2008) werden neurologische Schädigungen, sensorische Beeinträchtigungen und pervasive Störungen als Ursachen ausgeschlossen. Neben semantischen und phonologischen Störungen stehen grammatische Störungen im Vordergrund des Störungsbildes. Deutsche Kinder mit SSES haben Probleme, die syntaktischen Regeln für Haupt- und Nebensätze sowie die morphologischen Regeln für die Markierung des finiten Verbs (Subjekt-Verb-Kontroll-Regel), des Plurals und des Kasus zu erwerben. Die Verbzweitstellungsregel (V2) im Hauptsatz ist die erste syntaktische Regel, die im normalen Spracherwerb zu Beginn des dritten Lebensjahres erworben wird. Von einem abgeschlossenen Regelerwerb kann gesprochen werden, wenn mehr als 90 % der Hauptsätze mit korrekter Verbstellung gebildet werden, bei denen die erste Satzposition nicht das Subjekt bildet. Eindeutiger Therapiebedarf besteht, wenn Kinder ab dem 4. Lebensjahr noch nicht ein Niveau von 80 % korrekter Hauptsatz-Äußerungen mit einer X-V-S-Struktur (X = offene Wortklasse, V = finites Verb, S = Subjekt) erreicht haben (vgl. Motsch, 2007, 2008). Die Anwendung der V2 ist daran erkennbar, dass Kinder das finite (flektierte) Verb an 116 Hans-Joachim Motsch, Marc Schmidt FI 3/ 2009 der zweiten Satzposition belassen, gleich welches Satzelement die erste Position besetzt (z. B. Jetzt trinken wir. Was trinken wir? Milch trinken wir.) Kinder, die diese grammatische Regel nicht erworben haben, bilden Äußerungen wie „Was wir trinken? Milch wir haben gern.“ Sie belassen das Subjekt vor dem Verb (fehlende Subjekt-Verb-Inversion). Die Subjekt-Verb-Kontroll-Regel (SVK) ist die erste morphologische Regel, die zeitgleich mit der V2 erworben wird. Ihr Erwerb wird bei deutschsprachigen Kindern mit dem Auftauchen der uniken / -st/ -Markierung für die 2. Person Singular (du) abgeschlossen (im Luxemburgischen mit der / -s/ -Markierung). Förderbedarf besteht, wenn das / -st/ nicht zur Markierung der 2. Person Singular verwendet wird (deutsche Kinder) und der Prozentwert korrekter Verbmarkierungen unter 80 % liegt. Die Anwendung der SVK ist daran erkennbar, dass Kinder das finite Verb kongruent zum Subjekt markieren (z. B. Ich trinke. Du trinkst. Papa trinkt.) Kinder, die diese Regel noch nicht erworben haben, bilden Äußerungen wie „Papa trink. Du trinke.“ (fehlende Subjekt-Verb-Kongruenz). 2. Frühtherapie grammatischer Störungen im Gruppensetting Das erste spezifisch grammatische Therapieziel bei spracherwerbsgestörten Kindern besteht darin, Kinder bei der Entdeckung und dem Erwerb dieser beiden grammatischen Regeln zu unterstützen. V2 und SVK werden im normalen Spracherwerb Anfang des dritten Lebensjahres erworben. Zu diesem Zeitpunkt werden die semantisch-motivierten Spracherwerbsbzw. Sprachverarbeitungsprinzipien durch sprachstrukturelle Analysestrategien abgelöst (Clahsen, 1987; Tomasello 2003). Frühtherapie sollte aufgrund der interindividuellen Variabilität des Grammatikerwerbs in den ersten drei Lebensjahren spätestens ab dem 4. Lebensjahr realisiert werden. Nicht erst nach der Analyse der Pisa-Studien wird die Sprachförderung im frühen Alter auch gesellschaftspolitisch als ein drängendes Bildungs- und Erziehungsproblem angesehen. Die Wirksamkeit frühtherapeutischer Maßnahmen wird von Sprachtherapeuten nicht angezweifelt. Diese sind vielmehr der Überzeugung, dass sich die Erfolgsquote allein durch einen früheren Beginn ihrer Behandlungen erhöhen würde (Baumgartner, 2008). Diese Vermutung wird gerade im grammatischen Bereich aufgrund fehlender Interventionsstudien bisher empirisch nicht gestützt (Motsch, 2007). Dieses empirische Manko trifft auch auf das Vorurteil zu, sprachliche Individualtherapie sei effektiver als Gruppentherapie (vgl. Cirrin/ Penner, 1995; Dannenbauer, 1998). Solche weit verbreiteten, jedoch empirisch nicht gestützten Annahmen (Baumgartner, 2008) haben die Sprachtherapeuten verunsichert und führten dazu, dass Gruppentherapie im deutschsprachigen Raum weiterhin wenig verbreitet ist (Kauschke/ Siegmüller, 2005). Obwohl nicht nur die effektive Nutzung immer geringer werdender Ressourcen für Gruppentherapie spricht, ist die Argumentation derjenigen, die sich vehement für Individualtherapie einsetzen, auf den ersten Blick einleuchtend: Im Gegensatz zur Gruppentherapie werden „in der sprachlichen Individualtherapie (…) die Situationsvariablen Thema, Sachkontext, Dialogstruktur, Handlungsformen usw. nach dem Prinzip der Konvergenz auf das jeweilige Therapieziel ausgerichtet, sodass seine Vermittlung und Übernahme von der Logik der gesamten Interaktionssituation begünstigt und getragen wird“ (Dannenbauer 1998, 94). Die Komplexität der Organisation einer Lerngruppe wird dem individuellen Lerntempo des einzelnen Kindes nicht gerecht und die therapeutischen Maßnahmen werden immer nur einen Teil der Gruppe spracherwerbsgestörter Kinder erreichen, v. a. auch deshalb, weil die SSES ein sehr heterogenes Störungsbild aufweist, mit vielfältigen Ausprägungsformen, Profilen und FI 3/ 2009 Frühtherapie grammatisch gestörter Kinder 117 Schweregraden. Vor diesem Hintergrund stellt es eine Herausforderung dar, empirisch zu überprüfen, ob Frühtherapie im gruppentherapeutischen Setting signifikante Effekte erzielen kann. Die Interventionsstudie ist eine von drei randomisierten Untersuchungen im Forschungsprojekt „Kontextoptimierte Förderung grammatischer Fähigkeiten spracherwerbsgestörter Kinder“. 3. Interventionsstudie 3.1 Zielsetzung Die Interventionsstudie mit den grammatischen Therapiezielen der Etablierung der Verb-Zweitstellungs-Regel und der Subjekt- Verb-Kontroll-Regel hatte das Ziel, folgende Fragen zu beantworten: • Ist kontextoptimierte Gruppentherapie in einer zehnwöchigen Kurzzeitintervention effektiv, d. h. gibt es signifikante Fortschritte nach der Intervention und bleiben die Effekte stabil? • Wirkt sich die Erhöhung der Therapieintensität von zwei auf vier wöchentliche Therapieeinheiten signifikant auf den Lernzuwachs der Kinder aus? • Sind die Effekte der Experimentalgruppen größer als die der Kontrollgruppe, die über einen Zeitraum von 8 Monaten mit traditionellen Methoden gefördert wurde? 3.2 Untersuchungsgruppe Die Intervention fand im Schuljahr 2007/ 2008 am Centre de Logopédie (CL), der luxemburgischen Sonderschule mit dem Förderschwerpunkt Sprache, statt. Die sprachlichen Fähigkeiten von insgesamt 80 Kindergartenkindern des CL wurden im Vortest mit dem ESGRAF Ergänzungstest 1 (Motsch, 2000, 2006) analysiert, der an die luxemburgische Sprache (lëtzebuergesch Sprooch) adaptiert wurde. Mit diesem Testverfahren wurden die grammatischen Fähigkeiten der Kinder auch zu allen weiteren Testzeitpunkten überprüft. Zusätzlich wurden in der Eingangsdiagnostik die Leistungsfähigkeit des Arbeitsgedächtnisses und die nonverbalen kognitiven Fähigkeiten überprüft. 49 Kinder (Durchschnittsalter: 5; 1 Jahre) hatten eingeschränkte Fähigkeiten im morphologischen (Anteil korrekter Verbmarkierungen unter 80 %) und syntaktischen Bereich (Anteil korrekter Verbzweitstellungen in XVS-Sätzen unter 80 %). Etwa die Hälfte der Probanden waren Kinder mit romanischem Migrationshintergrund (Portugiesisch oder Französisch als Erstsprache). Die grammatisch gestörten Kinder wurden in drei leistungsparallelisierte Gruppen eingeteilt: • Experimentalgruppe 1 (EG 1): vier wöchentliche kontextoptimierte Therapieeinheiten • Experimentalgruppe 2 (EG 2): zwei wöchentliche kontextoptimierte Therapieeinheiten • Kontrollgruppe (KG): Einzel- und Gruppentherapie mit traditionellen Methoden wie z. B. Einsatz von Modellierungstechniken, funktionalen Pattern oder Satz-Muster-Übungen (pattern practice) über den gesamten Zeitraum zwischen T1 und T4. 3.3 Interventionssetting und Methode Unmittelbar nach der Voruntersuchung (T1) wurde die Interventionsphase im Winter 2007/ 2008 durchgeführt und erstreckte sich über zehn Schulwochen. Die Sprachtherapie wurde in allen Versuchsgruppen durch erfahrene Sprachheillehrerinnen und Sprachheillehrer des Centre de Logopédie durchgeführt. Die 40-minütigen kontextoptimierten Therapieeinheiten der beiden Experimentalgruppen fanden in Gruppen von 6 bis 9 Kindern statt. Die Intensität der EG 1 war doppelt so hoch (40 Therapieeinheiten in 10 Wochen) als die der EG 2 (20 Therapieeinheiten in 10 Wochen). 118 Hans-Joachim Motsch, Marc Schmidt FI 3/ 2009 In den Spielformaten „Plüschtiere“, „Backen“, „Ritter und Burgen“ und „Anziehen und Verkleiden“ wurde versucht, die kritischen Elemente der sprachlichen Zielstrukturen gehäuft und prägnant unter Einbezug der kontextoptimierten Prinzipien in den Fokus der kindlichen Aufmerksamkeit zu stellen. Die 40 Therapieeinheiten wurden auf Basis des Kontextoptimierungs-Checks (Motsch, 2006, 101) geplant und im Laufe der Interventionsphase an die Fortschritte der Kinder angepasst. Das Einstiegsformat „Meine Lieblingsplüschtiere“ erleichterte zu Beginn der Therapie den Zugang zu den Kindern. Diese brachten ihre Lieblingsplüschtiere mit in die Vorschulgruppe, die sodann als zentrales Medium vielfältiger kontextoptimierter Aktivitäten dienten. Bereits in der ersten Aktivität wurde, nachdem sich die Plüschtiere „kennengelernt“ hatten, die Subjekt-Verb-Kongruenz verdeutlicht: Der Zusammenhang zwischen der Markierung des Verbs in der 2. Person Einzahl (/ s/ ) und dem Personalpronomen „du“ sowie der Markierung in der 1. Person Einzahl (/ en/ oder / nn/ ) und dem Personalpronomen „ich“ wird durch eine sogenannte „Kick-off- Geschichte“ dem kindlichen Alter entsprechend dargestellt. Immer, wenn das schüchterne Kind, welches „Du“ heißt, etwas unternimmt, hört man, dass seine Freundin, die Schlange, ganz in der Nähe ist: „Du leefs. Du spréngs.“ („Du läufst. Du springst.“). Das sehr lebhafte Kind mit Namen „Ich“ mag lieber alleine spielen, an der Markierung der Verben sind keine Änderungen hörbar: „Ech lafen. Ech sprangen.“ („Ich laufe. Ich springe.“) Die Geschichte wird anschließend in Rollenspielen umgesetzt. Primäres Ziel ist das handelnde Erleben von grammatischen Regeln. Dies kann aufgrund der damit einhergehenden Erfahrung für viele Kinder ein emotional verankertes Aha-Erlebnis sein (Motsch, 2006). Als Kick-off zur Verdeutlichung der Verbzweitstellungsregel diente in der 3. Therapieeinheit ein mobiles Verbzweitstellungsmodell. Durch das Kreisen um das Verb, welches als zentrales Element an fixer Zweitposition verweilt, entstehen unterschiedliche Satzstrukturen: „Hasi spielt mit Quaki.“ wird zu: „Mit Quaki spielt Hasi.“ Jedes Kind hat in einer folgenden Therapieeinheit sein eigenes Verbzweitstellungsmodell gebastelt. Die Modelle wurden im Laufe der Therapie in unterschiedlichen Sequenzen einbezogen. Neben dem Anliegen des Therapeuten, motivierende Formate zu finden und Sprache handlungsmäßig erfahrbar zu machen, wurden folgende Prinzipien der Kontextoptimierung berücksichtigt: • Sensibilisierung auf Morphemmarkierungen: Die Schlange personifiziert die s- Markierung in der 2. Person Singular. • Sprechweise des Therapeuten: Die / s/ - und / t/ -Markierungen werden - als mehr oder weniger durchgängiges Prinzip - im Laufe der gesamten Therapie durch eine leicht übertriebene Betonung, mit vorhergehender und anschließender kurzer Pause, hervorgehoben. • Wahrnehmbare Strukturen: Die Markierung der Verben wird im Laufe der ersten Therapieeinheiten durch das Erstellen eines Plakates fixiert und veranschaulicht. Abb. 1: Verbzweitstellungsmodell FI 3/ 2009 Frühtherapie grammatisch gestörter Kinder 119 Die 1. und 2. Person Singular und die verschiedenen Verben (auf dem Plakat wurden beispielhaft für alle verwendeten Verben die Verben laufen, springen und kriechen benutzt) werden auf dem Plakat symbolisch dargestellt. In der 2. Person Singular (2. Kolonne) liegt den Figuren eine Schlange um den Hals, als Zeichen der / s/ -Markierung. Die 3. Person Singular wurde im Laufe der verschiedenen Aktivitäten nach und nach durch eine wachsende Anzahl an Subjekten veranschaulicht, wie z. B. eine erwachsene Person, ein Kind, eine Raupe, ein Biber und ein beliebiges Tier. Der Zeigefinger steht stellvertretend für das PMS-Zeichen (Lautgebärde) der / t/ -Markierung, welches phasenweise eingesetzt wurde. Die Verbzweitstellungsregel wird durch das Verbzweitstellungsmodell dargestellt (siehe Abb.1). • Kürzeste Zielstruktur: Als kürzeste Zielstrukturen zur Verdeutlichung der Subjekt-Verb-Kongruenz und der Verbzweitstellungsregel wurden in den kontextoptimierten Phasen dreigliedrige Phrasen verwendet. „Ich nehme Schokolade. Was nimmst du? Schokolade nimmst du? “ Um die grammatischen Regeln besonders prägnant darzustellen, wurden SVX- und XVS-Strukturen mit unterschiedlichen Subjekten hochfrequent und kontrastierend gebraucht, ohne Ablenker (nicht: „Ich will Schokolade nehmen. Ich nehme jetzt die Schokolade.“). Dadurch wird der reduzierten Kapazität des phonologischen Arbeitsgedächtnisses Rechnung getragen und die grammatischen Trigger (sprachliche Merkmale, die in besonderer Weise dazu geeignet sind, beim Kind das Entdecken der grammatischen Regel auszulösen) stehen prägnant im Mittelpunkt. • Ausschalten von Verwirrern: Es wurden nur Vollverben verwendet, an denen die unterschiedliche Verbmarkierung eindeutig erkennbar ist (z. B.: nehmen: ich nehme, du nimmst, er nimmt; nicht: ich bin, du bist, er ist). • Gespräche: Die sprachlichen Produktionen der Kinder standen im Laufe der verschiedenen Therapieeinheiten regelmäßig im Fokus metasprachlicher Überlegungen. Korrekt formulierte oder fehlerhafte Realisationen wurden einerseits den Realisationen anderer Kinder oder denen des Therapeuten gegenübergestellt und andererseits mit den „wahrnehmbaren“ Strukturen verglichen: „Du hast gesagt: Der Hirsch steht. Du hast an den Finger (PMS- Zeichen für / t/ ) gedacht. Super! “ • Zwingende Kontexte schaffen: Die Verdopplung des Subjekts, des Verbs und der Ergänzung fordert das Kind im Laufe der Handlung auf, Sätze mit drei Elementen zu produzieren. • Modalitätenwechsel: Ein letztes wichtiges Prinzip der kontextoptimierten Therapie besteht im kurzfristigen Wechsel zwischen rezeptiven und produktiven Phasen. Im Laufe der Therapie wurden alternierend produktive, rezeptive und reflexive Phasen eingeplant. Hoch strukturierte Aktivitäten wechselten sich mit Handlungen ab, in denen das Sprachmaterial funktional erlebt wurde und deren Handlungsrahmen den Kindern mehr Mitgestaltungsraum eröffnete und somit auch vermehrt spontane Äußerungen ermöglichte. Dies erleichtert den Transfer in die Spontansprache der Kinder. Die Alltagstauglichkeit des Sprachmaterials steht bei der Abb. 2: Subjekt-Verb-Kongruenz-Poster 120 Hans-Joachim Motsch, Marc Schmidt FI 3/ 2009 Planung der einzelnen Aktivitäten im Mittelpunkt. Parallelen zwischen den Therapiephasen und Alltagssituationen erleichtern den Übergang des Sprachmaterials in die Spontansprache. Nach fünf Wochen wurden die Kinder einem ersten Zwischentest (T2) unterzogen, die unmittelbaren Effekte nach Interventionsende wurden in einem ersten Posttest (T3) festgestellt. Im Follow-up-Test (T4) wurde die Stabilität des Lernzuwachses vier Monate nach T3 überprüft. Zwischen- und Posttests wurden verblindet durchgeführt, d. h. den Testern war nicht bekannt, zu welcher Versuchsgruppe das getestete Kind gehörte. 3.4 Ergebnisse Der Vortest (T1) bestätigte interindividuelle Unterschiede der grammatisch gestörten Kinder bezüglich des erreichten Korrektheitsniveaus. Während einige Kinder keine korrekten Verbmarkierungen und Verbzweitstellungen in XVS-Sätzen bildeten, befanden sich andere bereits nahe an der 80 %-Marke korrekter Markierungen. Bestätigt wurde diese Einschätzung durch den Kolmogorov-Smirnov-Test, der fast durchgängig keine Normalverteilung der Werte feststellen konnte. Aus diesem Grunde wurde im Laufe der Signifikanzüberprüfung auf parameterfreie Tests zurückgegriffen, zumal es beim Auftreten von Ausreißerwerten „empfehlenswert ist, in statistischen Analysen solche Methoden zu verwenden, die keine Normalverteilung voraussetzen“ (Zöfel 2003, 113). Die einfaktorielle Varianzanalyse mit Messwiederholung wurde mithilfe des Friedman-Tests durchgeführt. Die statistische Analyse wurde mit SPSS 14 ausgewertet und die Einzelfallanalyse mithilfe des exakten Fishertests (De Bleser et al., 2004). Ausgangswerte. In der Eingangsdiagnostik (T1) konnte eine hohe Korrelation zwischen auditiver Merkfähigkeit und Spracherwerbsstand (Erwerb der ersten grammatischen Regeln) festgestellt werden, insbesondere in Bezug zur korrekten Verbstellung. Kinder mit Migrationshintergrund zeigten zudem vor der Intervention im Vergleich zu einsprachigen Kindern einen deutlichen Spracherwerbsrückstand. Kein Zusammenhang konnte zwischen dem Spracherwerbsstand und den nonverbalen kognitiven Fähigkeiten festgestellt werden. Therapiefortschritte der Experimentalgruppen. EG 1 erreichte nach fünf Therapiewochen (20 Therapieeinheiten) höchst signifikante Fortschritte in beiden Therapiezielen. Nach dem Zwischentest erhöhten sich die gemittelten Werte noch einmal signifikant (SVK), bzw. hoch signifikant (V2), um im Nachtest (40 Therapieeinheiten) etwa 90 % korrekter Verbmarkierung und korrekter Verbzweitstellung in X-V-S Sätzen zu erreichen (siehe Abb. 4 und Abb. 5). EG 2 erreichte nach fünf The- Abb. 3: Interventionssetting Tab. 1: Niveau kongruenter Verbmarkierungen der Kinder der EG 1 (Vortest) % korrekter Verbmarkierungen 0 % - 25 % 26 % - 54 % 55 % - 80 % Anzahl der Kinder der EG 1 7 2 6 FI 3/ 2009 Frühtherapie grammatisch gestörter Kinder 121 rapiewochen (10 Therapieeinheiten) hoch signifikante Fortschritte in beiden Therapiezielen, welche sich auch nach dem Zwischentest zusätzlich signifikant erhöhten. Die im Nach- Abb. 4: Prozentualer Zuwachs korrekter Verbmarkierungen Abb. 5: Prozentualer Zuwachs korrekter Verbzweitstellungen test erreichten Werte lagen bei 76,81 % (SVK) bzw. 67,13 % (V2). Die einfaktorielle Varianzanalyse ergab höchst signifikante Fortschritte in beiden Bereichen zwischen T1 und T3. 122 Hans-Joachim Motsch, Marc Schmidt FI 3/ 2009 Im Gegensatz zu beiden Experimentalgruppen konnte sich die Kontrollgruppe nicht signifikant verbessern. Beide Experimentalgruppen erreichten im Mittelwert im Follow-up-Test (T4) in beiden Therapiezielen höhere Prozentwerte als im Nachtest (T3). Einzige Ausnahme stellt die Verbzweitstellung der EG 1 dar. Der im Nachtest erreichte hohe Wert von 92,21 % wurde im Follow-up-Test um etwa 6,5 % verfehlt. Eine mögliche Erklärung lieferte die Einzelfallanalyse, in der negative Transfers (Interferenzen) von L1 (Erstsprache) auf L2 (Zweitsprache) bei Kindern mit romanischer Erstsprache (durch starre kanonische Reihenfolge - SVX - charakterisiert) festgestellt wurden. Keinen Einfluss auf den Therapieerfolg hatte die Kapazität des phonologischen Arbeitsgedächtnisses, die nonverbalen Intelligenzfähigkeiten der Kinder und der Spracherwerbsstand in der Erstsprache der mehrsprachigen Kinder. 4. Interpretation der Ergebnisse und Diskussion Kontextoptimierte Gruppentherapie im Kindergarten führt in kurzen, intensiven Therapiephasen zu signifikanten und stabilen Fortschritten bei Kindern mit SSES, während die Effekte der Arbeit mit traditionellen Methoden sich als nicht signifikant erwiesen. Vergleicht man beide Experimentalgruppen miteinander, so kann ein um 18 % höherer Zuwachs korrekter Verbmarkierungen und ein um 21,5 % höherer Zuwachs korrekter Verbzweitstellungen in XVS-Sätzen nach Abschluss der 10-wöchigen Therapiephase festgestellt werden, bedingt durch die Erhöhung der Therapieintensität von 2 auf 4 wöchentliche Therapieeinheiten. EG 1 konnte nach nur 5 Wochen (20 Therapieeinheiten) einen Zuwachs korrekter Verbmarkierungen von 43,93 % und korrekter Verbzweitstellungen von 46,93 % erreichen. Dieser Zuwachs lag über dem gemittelten Zuwachs der EG 2 nach identischer Anzahl an Therapieeinheiten (nach 10 Wochen): SVK 36,06 % bzw. V2 40,31 %. Eine intensive kurze kontextoptimierte Gruppentherapiephase (4 Einheiten pro Woche) ist demzufolge hinsichtlich des erwähnten Therapieziels effektiver als eine längere weniger intensive Phase von zwei Einheiten pro Woche, bei identischer Anzahl an Therapieeinheiten. Dieser Erfolg kann nur dann erzielt werden, wenn die Komplexität der Anforderungen und die Gewichtung der kontextoptimierten Prinzipien, trotz vorheriger Planung der Therapiesequenzen, sehr flexibel auf die Lernfortschritte, die Lernfähigkeiten und die Bedürfnisse des einzelnen Kindes angepasst werden (vgl. Motsch/ Riehemann, 2008 a). Die Eigeninitiative des einzelnen Kindes, die Teilnahme an der Gestaltung der Sequenzen, die Berücksichtigung der Bedürfnisse, Ideen und Interessen, und damit verbunden die Motivation des Kindes, müssen auch in der Gestaltung der Gruppentherapie berücksichtigt werden. Durch das sehr effiziente Therapiedesign besteht die Möglichkeit, einen Teil der eingesparten Ressourcen bei Bedarf zu additiven Maßnahmen zu verwenden, um gezielt die Fortschritte einzelner Kinder zu vertiefen. Bedenkt man, dass bei dieser Gruppen- Intervention auf eine Konsolidierung der Lernfortschritte in Form einer komplementären Individualtherapie und auf die Möglichkeiten der parallelen sprachlichen Förderung im Elternhaus verzichtet wurde, so zeigt die Studie neue Wege frühtherapeutischer Arbeit in vorschulischen und schulischen Institutionen mit dem Förderschwerpunkt Sprache auf. Mit den Ergebnissen der vorangegangenen Interventionsstudien mit anderen Therapiezielen (Motsch/ Berg, 2003; Berg, 2007; Motsch/ Riehemann, 2008 a, 2008 b) gehört Kontextoptimierung zu den wenigen evidenzbasierten sprachtherapeutischen Methoden. FI 3/ 2009 Frühtherapie grammatisch gestörter Kinder 123 Darüber hinaus bekräftigen die Untersuchungsergebnisse die Vermutung, dass das gemeinsame Lernen mit Peers einen positiven Einfluss auf den Spracherwerb ausüben kann. Die korrekte Produktion einer erwünschten Zielstruktur durch ein Kind kann wie ein Schneeball-Effekt wirken. Im Sinne eines Aha-Erlebnisses für die ganze Gruppe versuchen andere Kinder ähnliche sprachliche Kompetenzen zu erwerben (Dannenbauer, 1998). Neben dem autonomen Leistungsmotiv, welches auch in der Individualtherapie zum Tragen kommt, orientiert sich das Kind an den durch die Gruppe vorgegebenen Normen (Holodynski/ Oerter, 2008). Diese Beobachtungen scheinen die Bedeutung der soziokonstruktivistischen Sichtweise zu unterstreichen, wie sie bspw. von Wygotski (Jonnaert, 2002, 76ff; Gisbert, 2004, 109ff) dargestellt wird. Der soziale Kontext wird als integraler Bestandteil und zugleich als das Mittel angesehen, welches das Lernen und damit die Entwicklung formt und vorantreibt. Literatur Baumgartner, S. (2008): Kindersprachtherapie. Eine integrative Grundlegung. Ernst Reinhardt, München/ Basel Berg, M. (2007): Kontextoptimierte Förderung des Nebensatzerwerbs bei spracherwerbsgestörten Kindern. Shaker, Aachen Cirrin, Fr. M., Penner, Sh. G. (1995): Classroom-Based and Consultative Service Delivery Models for Language Intervention. In: Fey, M. E. et al. (Hrsg.): Language Intervention. Preschool Through the Elementary Years. Paul H. Brookes, Baltimore, 333 - 362 Clahsen, H. (1987): Neuere Forschungen zum Grammatikerwerb. In: Deutsche Gesellschaft für Sprachheilpädagogik (Hrsg.): Spracherwerb und Spracherwerbsstörungen. Wartenberg, Hamburg, 22 - 30 Dannenbauer, F. M. (1998): Zum Zusammenhang von sprachheilpädagogischem Unterricht und sprachlicher Individualtherapie. Die Sprachheilarbeit 43, 90 - 94 De Bleser, R. et al. (2004): Lemo. Lexikon modellorientierter Einzelfalldiagnostik bei Aphasie, Dyslexie und Dysgraphie. Handbuch. Urban & Fischer, München Gisbert, Kr. (2004): Lernen lernen. Beltz, Weinheim/ Basel ICD-10-GM 2008 (2008): Deutscher Ärzte Verlag, Köln Holodynski, M., Oerter, R. (2008): Tätigkeitsregulation und die Entwicklung von Emotion, Motivation, Volition. In: Oerter, R., Montada, L. (Hrsg.): Entwicklungspsychologie. 6. Aufl. Weinheim: Beltz, Weinheim, 535 - 571 Jonnaert, Ph. (2002): Compétences et socioconstructivisme. de Boeck, Bruxelles Kauschke, C. & Siegmüller, J. (2005): Prävention - Förderung - Intervention: Ein Plädoyer für die störungsspezifische Einzeltherapie aus der Sicht des patholinguistischen Ansatzes. Die Sprachheilarbeit 50, 286 - 292 Menyuk, P. (1993): Children With Specific Language Impairment (Developmental Dysphasia): Linguistic Aspects. In Blanken, J. et al. (Hrsg.): Linguistic Disorders and Pathologies. 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