Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2009
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Was Kinder mit einer Hörbehinderung in der Frühförderung für ihre interaktive Welterschließung brauchen
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2009
Manfred Hintermair
Um hörgeschädigten Kindern einen frühen und differenzierten Zugang zur Welt zu ermöglichen, ist es wichtig, Besonderheiten der Wahrnehmungssituation unter der Bedingung "Hörschädigung" zur Kenntnis zu nehmen und bei der Erziehung und Förderung angemessen zu berücksichtigen. Mögliche Problemzonen, die hier zum Tragen kommen können, betreffen insbesondere die psychosozialen und kognitiven Folgen einer fragmentierten Sprachwahrnehmung, der Einschränkung beiläufigen Lernens sowie der erschwerten geteilten Aufmerksamkeit bei Lernprozessen. Darauf Bezug nehmend werden Maßnahmen diskutiert, die hilfreich sind, um die Befriedigung elementarer psychischer Bedürfnisse für hörgeschädigte Kinder zu sichern.
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Frühförderung interdisziplinär, 28. Jg., S. 158 - 168 (2009) © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Was Kinder mit einer Hörbehinderung in der Frühförderung für ihre interaktive Welterschließung brauchen Manfred HinterMair Zusammenfassung: Um hörgeschädigten Kindern einen frühen und differenzierten Zugang zur Welt zu ermöglichen, ist es wichtig, Besonderheiten der Wahrnehmungssituation unter der Bedingung „Hörschädigung“ zur Kenntnis zu nehmen und bei der Erziehung und Förderung angemessen zu berücksichtigen. Mögliche Problemzonen, die hier zum Tragen kommen können, betreffen insbesondere die psychosozialen und kognitiven Folgen einer fragmentierten Sprachwahrnehmung, der Einschränkung beiläufigen Lernens sowie der erschwerten geteilten Aufmerksamkeit bei Lernprozessen. Darauf Bezug nehmend werden Maßnahmen diskutiert, die hilfreich sind, um die Befriedigung elementarer psychischer Bedürfnisse für hörgeschädigte Kinder zu sichern. Schlüsselwörter: Zugang zur Welt, Beiläufiges Lernen, geteilte Aufmerksamkeit, kindliche Grundbedürfnisse The Needs of Deaf and Hard of Hearing Children in Early Intervention to Learn to Understand the World Around Them Summary: To provide deaf and hard of hearing children an early and sophisticated access to the world around them, it is important, to take note of distinctive features, how people who are deaf or hard of hearing perceive and experience, and to regard these things for (early) intervention. In particular this concerns the emotional and cognitive consequences of a fragmented perception of language, the restricted chance for incidental learning, and the constricted divided attention during learning processes. Related to these points helpful strategies will be discussed to ensure satisfaction of basic psychological needs for deaf and hard of hearing children. Keywords: Access, incidental learning, divided attention, emotional needs Der Begriff der interaktiven Welterschließung geht auf Prillwitz (1995) zurück. Er verwendet ihn im Zusammenhang mit Überlegungen, was Sprache ausmacht und betont dabei, dass für die Sprachentwicklung eines Kindes nicht nur der Aufbau eines Lexikons und der Erwerb der Grammatik einer Sprache bedeutsam sind, sondern dass effektiver Spracherwerb sich gerade dadurch auszeichne, dass er dem kleinen Kind entscheidend dabei hilft, sich die Welt interaktiv zu erschließen. „Das Kind lernt im sozialen und materialen Austausch mit seiner Umwelt sich und die Welt wahrzunehmen, zu erkennen, zu deuten, zu begreifen. Sprache wäre nichts, wenn sie sich nicht in motiviertem spontanem Alltagshandeln mit den selbst gemachten oder kommunikativ vermittelten Erfahrungen aufs engste verbunden hätte“ (S. 167). Für Menschen, die gut hören können, versteckt sich hinter dieser Aussage nichts besonders Neues oder gar Aufregendes. Wenn die sensorischen Voraussetzungen „passen“, dann ist das, was Prillwitz beschreibt, etwas nahezu Selbstverständliches und wird somit auch nicht ins Bewusstsein gerückt. Was funktioniert, bedarf keiner Hinterfragung. Ganz anders bei Kindern, die nicht gut hören können! Hier stehen die von Prillwitz benannten Postulate (sozialer Austausch mit der Umwelt, spontanes Alltagshandeln, Verknüpfung von Sprache mit den eigenen Erfahrungen bzw. mit den durch andere Menschen vermittelten Erfahrungen) entscheidend zur Disposition. Es soll im Folgenden zunächst darauf eingegangen werden, mit welchen Besonderheiten der Wahrnehmung von Welt wir zu rechnen haben, wenn Kinder, Jugendliche FI 4/ 2009 Was Kinder mit einer Hörbehinderung brauchen 159 oder Erwachsene Probleme mit dem Hören haben. Es ist wichtig, darüber etwas zu wissen, um das Verhalten von hörgeschädigten Kindern in der Frühförderung oder im Kindergarten besser verstehen und damit umgehen zu können. Anschließend soll auf der Basis des Wissens um diese Besonderheiten darauf eingegangen werden, welche Herausforderungen in den frühen Jahren zu bewältigen sind, um die psychischen Grundbedürfnisse (vgl. Brazelton & Greenspan 2002; Grawe, 2004) von hörgeschädigten Kindern angemessen zu befriedigen. Es folgen abschließend einige zusammenfassende Bemerkungen mit allgemeinen Empfehlungen. Zwei Dinge sind vorauszuschicken: • Die Entwicklungschancen für Kinder und Jugendliche mit einer Hörschädigung sind heute so gut wie niemals zuvor in der Geschichte der Hörgeschädigtenpädagogik. Sie haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten durch eine Vielzahl von Entwicklungen auf medizinischem, technischem, pädagogischem, sprachwissenschaftlichem und soziologischem Sektor entscheidend verbessert (vgl. u. a. die Beiträge von Bogner & Diller, Diller sowie Günther, Hänel-Faulhaber & Hennies in diesem Heft). Insbesondere die jetzt mögliche frühe Erfassung von Kindern mit einer Hörschädigung durch ein Neugeborenen- Hör-Screening, die damit einhergehende frühe technische Versorgung mit Hörgeräten oder einem Cochlea-Implantat sowie die dann spätestens mit sechs Monaten beginnende Frühförderung rücken die Möglichkeit einer annähernd normalen sprachlichen, kognitiven und sozial-emotionalen Entwicklung hörgeschädigter Kinder in immer greifbarere Nähe. Empirische Studien bestärken diese Hoffnung: Gruppenvergleiche zeigen deutliche Vorteile in verschiedenen Entwicklungsbereichen bei früh diagnostizierten Kindern im Vergleich zu später erfassten Kindern mit einer Hörschädigung (Yoshinaga-Itano 2003; 2006). Gleichwohl ist bei insgesamt positiven Entwicklungstendenzen zu berücksichtigen, dass zum einen individuelle Entwicklungsverläufe immer noch eine große Variationsbreite aufweisen und zum anderen bei Gruppenvergleichen mit gut hörenden Kinder ebenso immer noch Unterschiede sowohl im Leistungsbereich (vgl. Thoutenhoofd 2006) wie auch in kognitiven Grundfunktionen wie z. B. bei Gedächtnisleistungen von CI-Kindern (Pisoni et al. 2008) zu beobachten sind. Es gilt entsprechend bei der Planung von Erziehungs- und Fördermaßnahmen nach wie vor, weniger auf standardisierte Vorgehensweisen, Techniken oder Programme zu setzen, sondern den pädagogischen Auftrag darin zu sehen, der individuellen Variationsbreite gerecht zu werden. Young und Tattersall (2005) halten auf der Basis von Studien zum Neugeborenen-Hör-Screening und den im Anschluss an eine frühe Diagnose zu gehenden Wegen fest: „One message will never fit all“ (S. 140) und machen damit klar, dass auch unter den deutlich verbesserten Entwicklungsvoraussetzungen für hörgeschädigte Kinder individualisierte Förderstrategien angesagt sind. • Diese spezifischen Veränderungen im Bereich der frühen Erfassung und Förderung hörgeschädigter Kinder gehen einher mit veränderten Sichtweisen in der Heilpädagogik über die letzten Jahre, die auch verstärkt Eingang in die Hörgeschädigtenpädagogik gefunden haben. Konzeptionelle Neuorientierungen wie das Salutogenesekonzept (Antonovsky 1997) oder die Empowermentperspektive (Lenz & Stark 2002), Ergebnisse der Resilienzforschung (Opp & Fingerle 2007), der Ressourcenforschung (Schemmel & Schaller, 2003) oder der Lebensqualitätsforschung (Mattejat & Remschmidt 2006) etc. fokussieren nicht mehr auf Defizite (also auf das, was nicht funktioniert), sondern vermehrt auf stärkende Variablen (also auf das, was 160 Manfred Hintermair FI 4/ 2009 trotz Beeinträchtigung an Entwicklungspotenzialen in den Menschen und ihrem Umfeld vorhanden ist). Im Bereich der Hörgeschädigtenpädagogik hat diese stärkenorientierte Perspektive im deutschen Sprachraum Eingang gefunden in die Diskussionen um Fragen der Erziehung, frühen Bildung, Identitätsentwicklung etc. (vgl. aktuell Hintermair & Tsirigotis 2008; Horsch 2008). Auch hier ist aber zu betonen, dass „positive Ziele zu formulieren“ nicht bedeuten darf, mögliche Erschwernisse in der Entwicklung hörgeschädigter Kinder aus den Diskussionen auszugrenzen und zu glauben, „positiv denken“ würde allein schon heilsam sein - im Gegenteil: Es gilt gerade auch unter einer salutogenetischen und empowermentorientierten Perspektive von Entwicklung und Gesundheit den Blick gezielt zu schärfen für mögliche Problemzonen, die eine subjektiv befriedigende Lebensführung beeinträchtigen können. Unterschiede in der Entwicklung von gut hörenden und hörgeschädigten Kindern dürfen nicht ignoriert werden, sondern sie müssen sichtbar gemacht werden, um deren Konsequenzen sinnvoll bei der Umsetzung von Konzepten wie Empowerment, Salutogenese etc. berücksichtigen zu können (Marschark et al. 2006 a). Was sind Besonderheiten, wenn man nicht (so gut) hört? Es ist für gut hörende Menschen nicht leicht, sich in die Situation von Menschen hineinzuversetzen, die Probleme mit dem Hören haben. Insbesondere die Situation von leicht- oder mittelgradig hörgeschädigten Kindern (und dazu gehört ein Großteil der cochleaimplantierten Kinder nach ihrer CI-Versorgung, wenn sie das Gerät in Betrieb haben) kann leicht verkannt werden, da diese Kinder in aller Regel akustisch „normale“ Reaktionen zeigen und auch sprachlich recht gute Entwicklungen aufweisen können (vgl. Thoutenhoofd et al. 2005). Das lässt leicht den Eindruck entstehen, dass die Kinder umfassend in die Alltagsaktivitäten eingebunden sind, und leistet der Ansicht Vorschub, es sei alles in Ordnung und Inklusion gesichert. Gerade bei noch recht jungen Kindern ist es allerdings schwer, deren wirkliches Erleben gesichert zu erfassen: Die Kinder zu ihrer Wahrnehmung zu befragen, ist einerseits methodisch nicht einfach, andererseits können sie auch noch nicht einschätzen, was ihnen möglicherweise alles entgeht. Die Erfahrung des mehr oder minder deutlich Ausgeschlossenseins von vielen Dingen des alltäglichen Lebens wächst erst mit den Jahren und lässt sich dann immer deutlicher von den Betroffenen zur Sprache bringen. Wer einen Blick in autobiografische Texte Betroffener wirft, findet hierzu reichhaltig Anschauungsmaterial: „Es ist einfacher, klar zu sagen, was man braucht, wenn man älter ist. Ich konnte meinen Kindergärtnerinnen und Grundschullehrern nicht sagen, was ich brauchte, sondern äußerte meine Bedürfnisse durch mein Verhalten“ (Douglas 2003, zitiert nach Draheim & Hintermair 2009, S. 63) 1 . In anderen Berichten erfährt man davon, wie insbesondere für schwerhörige Menschen Alltagserfahrungen konkret aussehen können: „Jemand spricht mich von hinten an und ich reagiere nicht. Nicht, weil ich stur oder unfreundlich bin, sondern einfach, weil ich nichts gehört habe. … Es kann vorkommen, dass ich im Geschäft der Verkäuferin 2,50 statt 3,50 reiche und sie mich dann fordernd anschaut (sie will noch was! ) - bis ich begreife, dass ich mich verhört habe … Ich komme mit einem ganz anderen Gegenstand zurück, als ich holen sollte (! ) … ,Gib den Zettel mal an … weiter.‘ - Und er landet bei einer anderen Person, weil ich den Namen 1 Wer sich für die Erfahrungen schwerhöriger Menschen aus deren Perspektive näher interessiert, sei auf die Lektüre des Büchleins von Draheim und Hintermair (2009) verwiesen. FI 4/ 2009 Was Kinder mit einer Hörbehinderung brauchen 161 falsch verstanden habe. … ,Mach doch bitte die Tür auf.‘ - ‚Wieso denn das? ‘ - ‚Es hat doch geklingelt! ‘ (Nichts gehört …) (Grebe 2005, S. 17). Das, was sich hier andeutet, hat zum einen mit Sprache in ihrer sozial-emotionalen Funktion zu tun, also mit Sprache als Mittel, das dazu beiträgt, sich in die Welt eingebettet und integriert zu fühlen. Wir können über eine durchgängig gesicherte sprachliche Kommunikation Klarheit, Orientierung und Sicherheit erfahren. Ein Kind hingegen, das gehäuft fraktionierte - also bruchstückhafte - Informationen erhält, tappt viel öfter in sozial und emotional unangenehme Situationen. Mindestens genauso bedeutsam, wenn nicht sogar langfristig gesehen schwerwiegender sind jedoch die kognitiven Konsequenzen einer fragmentierten Wahrnehmungssituation. Ein zentraler empirischer Befund aus Vergleichsstudien bei hörenden und hörgeschädigten Menschen ist, dass hörgeschädigte Menschen im Schnitt über weniger Wissen verfügen, und das gilt auch für Hörgeschädigte, die ein Zertifikat haben, das den Hochschulzugang ermöglicht (vgl. Marschark et al. 2006 b). Insgesamt zeigt sich, dass sprachliche, kognitive und emotionale Prozesse in der Entwicklung des (hörgeschädigten) Kindes eng verknüpft sind und sich fortlaufend in ihrer Wirkung gegenseitig verstärken. Als Konsequenz für die Förderung hörgeschädigter Kinder in Frühförderung und Kindergarten (und natürlich auch später) ergibt sich zu sichern, was im angloamerikanischen Sprachraum mit dem Begriff „Access“ umschrieben wird (vgl. im Folgenden Hintermair 2008 a, b). Access bedeutet Zugang zur Welt und es geht dabei insbesondere um einen frühen möglichst uneingeschränkten Zugang zu Sprache, um einen Zugang zu vielfältigen sozialen Interaktionen sowie um die Ermöglichung von Erfahrungsvielfalt in diesen sprachlich-interaktiv-sozialen Begegnungen (Marschark 2000). Diese Aspekte sind miteinander verknüpft, der Zugang zu Sprache (in welcher sprachlichen Modalität [Lautsprache, Gebärdensprache etc.] auch immer) ist jedoch der entscheidende dafür, dass auch die anderen beiden Aspekte umfänglich realisiert werden können. Eine Studie aus den USA mit gut hörenden Kindern zeigt auf, warum dieser frühe Zugang zu Sprache so wichtig ist. Hart und Risley (1995) führten eine Längsschnittstudie durch, in der sie die sprachliche Entwicklung von 42 hörenden Kindern aus unterschiedlichen sozialen Schichten über den Zeitraum bis zum 3. Lebensjahr immer wieder beobachteten und protokollierten. Sie stellten fest, dass Eltern aus höheren Bildungsschichten einmal in vergleichbaren Alltagssituationen mehr mit ihren Kindern sprachen, d. h. die Anzahl von den Eltern gesprochener Worte pro Stunde war ein signifikantes Vorhersagekriterium der kindlichen Sprachentwicklung. Weiter beobachteten sie, dass die Eltern dieser Studie sich auch in der Qualität ihrer Interaktionen unterschieden: Wiederum zeigten die Eltern mit höherem Bildungsstatus Sprachangebote, mit denen sie ihre Kinder nicht auf bestimmte sprachliche Leistungen „hintrimmen“ wollten, sondern bei denen die Freude an sozialem Austausch, an Gesprächen „über Gott und die Welt“ im Vordergrund standen. Schließlich zeigte sich, dass zwischen 86 % und 98 % der Wörter im kindlichen Wortschatz Wörter aus dem elterlichen Wortschatz waren. Was also die Eltern mit ihren Kindern in den ersten drei Lebensjahren sprachen und wie sie das taten, hatte Bedeutung für die Sprachentwicklung der Kinder und hatte Vorhersagekraft für die Lesekompetenz und den Wortschatzumfang der Kinder, wenn sie in der 3. Klasse Grundschule waren. Der Stellenwert früher Spracherfahrung für die Entwicklung von Kindern wird mit dieser Studie deutlich dokumentiert. Der Umkehrschluss, der wiederum für hörgeschädigte Kinder sehr bedeutsam ist, besagt, dass Kinder in Familien mit geringerer Interaktionshäufigkeit und -intensität eine verlangsamte Wortschatzentwicklung aufweisen, was wiederum mit kognitiven Entwicklungspro- 162 Manfred Hintermair FI 4/ 2009 zessen verschränkt ist. Demnach gilt es, einen verlässlichen Zugang zu Sprache für hörgeschädigte Kinder zu sichern, beginnend in der Familie und fortführend in Frühförderung, Kindergarten und späteren Lern- und Lebensabschnitten. Die beiden anderen benannten Aspekte, die gekoppelt sind mit diesem frühen Zugang zur Sprache, und die zusätzlich von hoher Entwicklungsrelevanz sind, sind der frühe Zugang zu sozialen Interaktionen sowie die frühe Möglichkeit, möglichst vielfältige Erfahrungen zu machen. Kinder lernen die sozialen Regeln, Werte und Normen, die in einer Gesellschaft Gültigkeit haben (sollten), nicht per Instruktion, sondern vorwiegend durch den Austausch und kommunizierte Erfahrungen mit anderen Menschen (zu Beginn unseres Lebens vorwiegend über die Eltern, mit zunehmendem Alter über Kontakte mit der Peergroup und anderen Menschen). Je mehr soziale Erfahrungen diesbezüglich gemacht werden, desto differenzierter können sich der eigene Wertekanon und das Weltwissen ausbilden und ausdifferenzieren. Entsprechend erhöht sich durch Zugang zu Sprache und Zugang zu mehreren sozialen Bezugspersonen eben auch die Chance, die Welt in ihrer Vielfalt zu erfahren. Kinder brauchen neben emotionaler Geborgenheit und Sicherheit auch in frühen Jahren schon die Möglichkeit, zu erleben, dass Mama und Papa, dass die Geschwister oder die anderen Kinder im Kindergarten zu gleichen Themen durchaus unterschiedliche Meinungen haben können. Die Diskursvielfalt ist somit ein wichtiges Kriterium, um die Entwicklungschancen hörgeschädigter Kinder in Familie und im Kindergarten zu gewährleisten: In der Beobachtung der hörgeschädigten Kinder ist entsprechend darauf zu achten, wie aktiv sie in soziale Kontakte mit den Geschwistern, auf dem Spielplatz, in der Kindergartengruppe eingebunden sind, wie aktiv sie sich selbst daran sprachlich beteiligen, ob sie eigene Ideen einbringen, ob und wie diese aufgenommen werden etc. Um die Bedeutung von „Access“ für hörgeschädigte Kinder zu begreifen und zugleich zu verstehen, warum es eine große Herausforderung für Eltern und Pädagogen in der Frühförderung sowie im Kindergarten darstellt, Zugang zu sichern, ist ergänzend auf zwei Phänomene hinzuweisen, welche die Situation für Menschen mit einer Hörschädigung noch entscheidend verschärfen: • Mit dem Phänomen des „beiläufigen Lernens“ ist gemeint, dass unser Wissen über die Welt nicht ausschließlich durch Input zustande kommt, den andere Menschen uns in gezielter Zuwendung geben (also durch direkte Ansprache zum Beispiel in Fördersituationen) oder den wir uns selbst geben durch Informationserschließung (zum Beispiel durch Lesen), sondern dass wir vieles durch „Nebenher-Kommunikation und Information“ erwerben: Wir sitzen in der U-Bahn und bekommen (was uns ab und zu auch gewaltig nervt) die Gespräche über Gott und die Welt unserer Mitfahrer mit, wir sitzen zu Tisch und bekommen den Streit der Kinder im Kinderzimmer mit, gleichzeitig läuft der Radio oder Fernsehapparat und wir bekommen die neuesten Informationen zu einem Thema, das zuvor gerade am Tisch angesprochen wurde usw. Was dadurch tagtäglich passiert, hat einen hohen Stellenwert für Lernprozesse. Durch dieses beiläufige Lernen vernetzt und vertieft, verschärft und differenziert sich unser Wissen fortlaufend. Für hörgeschädigte Kinder ist dieses beiläufige Lernen häufig sehr erschwert und eine permanente Herausforderung. Insbesondere in geräuschintensiven Situationen und vor allem in sozialen Begegnungen mit mehreren Kindern, wie dies vor allem auch im Kindergarten der Fall ist, ist hier für hörgeschädigte Kinder stets mit erschwerten Bedingungen zu rechnen. FI 4/ 2009 Was Kinder mit einer Hörbehinderung brauchen 163 • Aber auch wenn Menschen (wie die Eltern, Pädagogen etc.) sich dem hörgeschädigten Kind direkt und gezielt zuwenden, ist das in aller Regel etwas anderes als wenn das Gleiche mit gut hörenden Kindern geschieht. Das Phänomen der „geteilten Aufmerksamkeit“ beschreibt den Umstand, dass in der Kommunikation vor allem mit dem hochgradig hörgeschädigten Kind in der Regel nicht problemlos das Kind sich einem Gegenstand zuwenden kann und gleichzeitig über diesen Gegenstand getroffene Informationen aufnehmen kann. Beim gut hörenden Kind ist das in der Regel kein Problem: Die Mutter sitzt neben oder hinter dem Kind, freut sich mit ihm über den schönen Turm, den es gebaut hat, und begleitet sprachlich die Aktivitäten ihres Kindes. Die Mutter kann sogar in der Küche stehen, ihr Kind im Wohnzimmer beim Spielen beobachten und gleichzeitig das Spiel ihres Kindes kommentieren. Vergleichbare Situationen sind im Kindergarten anzutreffen, wenn Themen im Stuhlkreis behandelt werden etc. Das gut hörende Kind erfährt so sein eigenes Tun stets kontingent begleitet durch kommunikative Kommentierung. Auch dieser Lerneffekt ist von hoher Bedeutung. Es ist aus Forschungsergebnissen bekannt, dass bei hörgeschädigten Kindern erwachsene Bezugspersonen sehr häufig anfangen, mit den Kindern zu kommunizieren, obwohl die Kinder dafür (noch) nicht „empfangsbereit“ sind (Mohay 2000; Spencer 2003). So passiert gehäuft eine Dyssynchronisation von Handeln und begleitender Kommentierung, was Effekte für den Lernzuwachs der Kinder haben kann. Die empirischen Befunde zur Situation integriert beschulter hörgeschädigter Kinder (vgl. Cerney 2007; Elanjiamattom & Hintermair 2009) bestätigen die grundlegende Bedeutung der benannten Faktoren für den Bereich der schulischen Sozialisation. Befriedigung psychischer Grundbedürfnisse im Kontext einer Hörschädigung Um die Entwicklungsförderung hörgeschädigter Kinder mit dem oben aufgezeigten Wissen über mögliche Gefährdungen dieser Entwicklung auf einen guten Weg zu bringen, ist es wichtig, dies in Einklang zu bringen mit dem Wissen, das vorhanden ist bzgl. grundlegender psychischer Bedürfnisse von Kindern, deren Befriedigung sich als bedeutsam erweist für eine gesundheitsförderliche Lebensführung. Was kindliche Entwicklungsbedürfnisse angeht, so liegen verschiedene Einteilungsversuche vor (vgl. Brazelton & Greenspan 2002; Grawe 2004), im Folgenden erfolgt die Orientierung an der Einteilung von Grawe (2004). Er hat ein Erklärungsmodell psychischen Erlebens und Verhaltens vorgelegt, das den Stellenwert frühkindlicher Beziehungserfahrungen für die Entwicklung von Lebenszufriedenheit und Lebensqualität sichtbar macht. Grawe geht in seiner Einteilung von vier menschlichen Grundbedürfnissen aus, deren Befriedigung entscheidenden Einfluss darauf hat, ob Menschen sich gut entwickeln oder Gefahr laufen, psychische Probleme zu bekommen: • Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung • Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle • Bedürfnis nach Lustgewinn bzw. Unlustvermeidung • Bedürfnis nach Bindung Er hebt insbesondere das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz hervor, da es ein spezifisch menschliches Bedürfnis ist. Er sieht - und das ist im Kontext einer Hörbehinderung ein wesentlicher Punkt - als Voraussetzung dafür Sprache und Reflexivität: „Das Selbstbild … ist zu einem wesentlichen Teil das Ergebnis sprachlicher Kommunikation und selbstreflexiver Prozesse, die ihrerseits wieder auf verinnerlichter Sprache beruhen“ (S. 250). 164 Manfred Hintermair FI 4/ 2009 Werden diese Bedürfnisse in der Kindheit nicht ausreichend befriedigt, dann führt dies in aller Regel zu psychischer Instabilität. Grawe kann anhand zahlreicher Studien aufzeigen, dass nahezu alle seiner erwachsenen (hörenden) Patienten mit schweren psychischen Problemen eine Vorgeschichte von Verletzungen ihres Bindungs- und Kontrollbedürfnisses in ihrer frühen Kindheit aufweisen: „Ihr Problem lässt sich deshalb nicht auf die zuletzt entwickelte Störung reduzieren. Sie ist nur ein letztes Glied in einer langen Kette verletzender Erfahrungen, die schließlich zu so hoher Inkonsistenz geführt haben, dass ein qualitativ neues Mittel zu ihrer Reduktion erforderlich wurde“ (a.a.O., S. 362). Er sieht es deshalb bei der Therapie dieser Patienten als notwendig an, nicht nur an der aktuellen Symptomatik zu arbeiten, sondern in gewisser Weise im therapeutischen Prozess die Erfahrungen dieser Grundbedürfnisse nachzuholen. Wenn man dieses Modell von Grawe auf die Situation von hörgeschädigten Kindern und ihre Familien überträgt, stellen sich mit dem Wissen um die Auswirkungen einer frühkindlichen Hörschädigung auf interaktive und kommunikative Prozesse u. a. folgende Aufgaben (und hier kommen dann die oben erwähnten Aspekte eines fragmentierten Sprachzugangs, der Erschwerung beiläufigen Lernens und der geteilten Aufmerksamkeit zum Tragen): • Damit Selbstwert beim (kleinen) Kind entstehen kann, ist es wichtig, dass Sorge dafür getragen wird, dass kindliches Handeln und Tun positive Bestätigung erfährt und dass vor allem das Kind diese Bestätigung verlässlich wahrnehmen kann. Umgekehrt müssen Eltern wie Pädagogen dazu befähigt sein/ werden, dass sie dem hörgeschädigten Kind diese Bestätigung in angemessener Weise geben können. Man weiß z.B. aus zahlreichen Studien, dass diese Abstimmung zwischen Eltern und ihrem gehörlosen Kind deutlich erschwert ist bzw. erschwert sein kann (Spencer 2003). Früh erfasste und früh mit guter Technik versorgte Kinder und ihre Eltern finden hierfür im Schnitt zweifelsohne in aller Regel verbesserte Ausgangsbedingungen vor (vgl. Thoutenhoofd 2006). Was man dennoch gerade ob der verbesserten technischen Möglichkeiten im Auge zu behalten hat, ist, wie gut und verlässlich die auditive Anbindung an die Welt ist und ob darüber ausreichend und gesicherter kommunikativer Austausch erfolgen kann. Hier ist insbesondere zu beachten, „die Welt mit den Augen der Kinder zu sehen“ (Erting 2003, S. 376), also das Erleben der Kinder einzubinden und dies im diagnostischen Prozess versuchen zu erfassen. Es liegen z. B. Studien bei älteren hörgeschädigten Kindern vor, die zeigen, dass die Wahrnehmung, wie gut Kommunikation im Alltag funktioniert, zwischen Eltern und Kind deutlich differieren kann (Kammerer 1988). • Damit Orientierung und Kontrolle gewonnen werden können, ist es wichtig, dass die engsten Bezugspersonen sich ihrem hörgeschädigten Kind in all dem, was sie bewegt, was sie dem Kind von der Welt zeigen und erklären wollen, auch möglichst locker, fließend und differenziert erklären können. Sprache ist dann - wie der Titel dieses Beitrags nahelegt - mehr als nur Wortschatz, Syntax und Semantik, sondern sie ist eben interaktive Welterschließung (Prillwitz 1995). Deshalb müssen umgekehrt die eigenen Versuche des Kindes, Ordnung in seine Weltwahrnehmung zu bekommen, von den Bezugspersonen sicher wahrgenommen und verstanden werden. Was also sehr entscheidend für die Befriedigung des Grundbedürfnisses Orientierung/ Kontrolle ist, ist kommunikative Sicherheit, sind kommunikative, verlässliche Strukturen der Begegnung mit anderen Menschen. Es geht darum, dass das Kind die Welt möglichst umfassend verstehen lernt und damit steht hierfür auch FI 4/ 2009 Was Kinder mit einer Hörbehinderung brauchen 165 die Wahl der dafür geeigneten kommunikativen Mittel nicht an erster Stelle: „…fluent and intelligible communicative interaction is more important than the kind of communication“ (Paul & Quigley 1990, S. 84). Entwicklungspsychologisch relevante Konzepte späterer Entwicklungsstufen wie Selbstwirksamkeit (Bandura 1997) oder ein Gefühl von sicherer Kohärenz (Antonovsky 1997), die wiederum wichtig sind für die Entwicklung psychischer Gesundheit in höherem Alter, finden hier ihre Wurzeln (vgl. Hintermair 2007 b). • Damit dem Bedürfnis angemessen Rechnung getragen wird, Lust zu erhöhen und Unlust so weit möglich zu vermeiden, ist ein wesentlicher Aspekt. dass die Interaktionen zwischen Eltern, Pädagogen und dem hörgeschädigten Kind von Freude, Wärme, Zuneigung und Interesse geprägt sind. Die Begegnung von Eltern, Pädagogen und den Kindern muss Spaß machen, es muss gegenseitige Freude spürbar und sichtbar werden. Das Diktat pädagogischer Vorgaben - egal in welcher Richtung (Lautsprache/ Gebärdensprache) - ist hierfür hinderlich. Pädagogische Prämissen wie sie in der Vergangenheit immer wieder zu lesen waren wie ,Mit hörgeschädigten Kindern muss man …‘, ,Mit hörgeschädigten Kindern darf man nicht …‘ etc. tragen eher dazu bei, Freude an Begegnung und Austausch einzuschränken als diese positiv zu befördern. Das Aufgreifen vorhandener Kompetenzen in der gemeinsamen Begegnung und das positive Bestärken dieser Kompetenzen hingegen erhöhen die Freude an sozialen Beziehungen (Bodner-Johnson & Sass-Lehrer 2003). • Damit Bindungssicherheit entsteht, ist dafür Sorge zu tragen, dass die Sensitivität, also die Wahrnehmungsfähigkeit der Eltern für kommunikative Signale ihres Kindes geschärft wird und ebenso die Responsivität, also die Antwortbereitschaft der Eltern auf diese Signale gestärkt wird. Wir wissen einerseits aus zahlreichen Studien, dass diese Kompetenzen in Eltern- Kind-Konstellationen, die nicht den gleichen Hörstatus haben, gefährdet sind (Spencer 2003), wir wissen andererseits ebenfalls aus anderen Studien, dass die emotionale Verfügbarkeit („emotional availability“, Biringen et al. 1998) von Eltern und Kind insbesondere unter der Bedingung ,Hörschädigung‘ von besonderer Relevanz für die kindliche Gesamtentwicklung ist. So konnten z. B. Pressman et al. (1999, 2000) in einer Längsschnittstudie zeigen, dass die emotionale Verfügbarkeit der Eltern und der Kinder im ersten Lebensjahr einen signifikanten Beitrag zur sprachlichen Entwicklung der Kinder zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr leistet (vgl. auch Yoshinaga- Itano 2003; 2006). Es erweist sich demnach als besonders wichtig, die wechselseitige emotionale Verfügbarkeit von Eltern und Kind besonders im Blick zu haben und dafür zu sorgen, dass sie von Anfang an gestärkt wird. Dazu könnte es dann durchaus auch von Interesse sein, sich Kompetenzen von gehörlosen Eltern gehörloser Kinder anzueignen, die diese bei der Interaktionsgestaltung mit ihren hörgeschädigten Kindern nutzen (vgl. Hintermair 2004; Mohay 2000; Spencer 2003). Es gilt hier, neben den auditiven Möglichkeiten auch die visuellen und taktilen Bedürfnisse (und Kompetenzen! ) der Kinder zu nutzen und sich nicht von der unberechtigten Angst leiten zu lassen, die Befriedigung dieser Bedürfnisse würde der Entwicklung des Hörens und Sprechens schaden. Empirische belastbare Befunde liegen hierfür bislang zumindest nicht vor (Marschark 2001). Probleme in der kindlichen Entwicklung sind eher dann zu erwarten, wenn Fachleute die vorhandenen Ressourcen von Eltern und Kindern nicht ausreichend wahrnehmen wollen, weil sie möglicherweise nicht in ihr pädagogisches Konzept passen. 166 Manfred Hintermair FI 4/ 2009 Fazit • Wenn man zusammenfassend Überlegungen für die pädagogische Praxis anstellt, dann ist zunächst festzuhalten, dass trotz der Besonderheiten der Entwicklungssituation hörgeschädigter Kinder das „Rad der Frühförderung“ nicht neu erfunden werden muss. Wenn die vier Prinzipien der Frühförderung - Ganzheitlichkeit, Familienorientierung, Interdisziplinarität und Vernetzung (vgl. Weiß et al. 2004, S. 13) - konsequent in der frühen Erziehung hörgeschädigter Kinder umgesetzt werden, dann werden damit auch bei hörgeschädigten Kindern und ihren Familien wichtige Grundvoraussetzungen für eine gelingende kindliche Entwicklung geschaffen. • Ein zentraler Aspekt innerhalb der Familienorientierung ist die Elternberatung und Elternbegleitung. Die Kunst der Gestaltung dieser Arbeit bei Familien mit hörgeschädigten Kindern besteht darin, die neuen, im Zuge der Diagnose „Hörschädigung“ zumeist völlig unvertrauten Dinge für die Eltern zu verknüpfen mit den Ressourcen, die trotz dieser Diagnose in den Familien bereits vorhanden sind und wertvolle Potenziale bereithalten. Gerade nach einer Diagnosestellung „Ihr Kind ist hörgeschädigt! “ denken viele Eltern, dass sie für den Umgang damit nichts mitbringen würden, was hilfreich sein könnte. Es gilt, diese Haltung - wo vorhanden - konstruktiv aufzubrechen. Schlesinger (1992) konnte in einer Längsschnittstudie zeigen, dass der beste Prädiktor für die spätere Lese- und Schreibleistung der von ihr betreuten Familien mit hörgeschädigten Kindern die Entwicklung des Empowerment der Mutter war. Es geht folglich in der Zusammenarbeit mit den Familien um die Stärkung der Eltern, ihre Kompetenzen zu sehen und zu nutzen. • Es geht aber auch darum - und hier steht noch viel diagnostische Grundlagenforschung an - die Kompetenzen der hörgeschädigten Kinder selbst schon ganz früh zu erkennen, um möglichst bald auch Entscheidungen zu ermöglichen, welche kommunikativen Angebote das jeweilige Kind für seine Entwicklung braucht. Ann Geers, eine der bekanntesten Psychologinnen im Bereich der Cochlea-Implant- Forschung, bestärkt diesen Aspekt (2006, S. 264) ausdrücklich und zeigt auf, was für die Zukunft notwendig ist: Benötigt würden bessere Methoden, die hörgeschädigtenspezifisch zu adaptierten sind, um die sprachliche Entwicklung der hörgeschädigten Kinder schon in ganz jungen Jahren zu erfassen, egal in welcher sprachlichen Modalität; die kognitiven Grundlagen der Hör-, Sprach- und Sprechentwicklung müssten erforscht und dazu diagnostische Instrumente entwickelt werden, um diese Faktoren in jungen Jahren fassbar zu machen; schließlich sei bei cochlea-implantierten Kindern zu schauen, welche Faktoren bereits ganz früh als Hinweis dafür dienen können, dass bestimmte Kinder möglicherweise Probleme bei der Lautsprachentwicklung bekommen können. Es muss somit versucht werden, die heute möglich gewordene frühe Erfassung zu nutzen, um herauszufinden, auf welchem Wege die einzelnen Kinder am besten in die Welt der Sprache kommen und sich so ihre Zukunft in sprachlicher, emotionaler, sozialer und kognitiver Hinsicht erschließen können. • Für hörgeschädigte Kinder, die eine Kinderkrippe oder Kindertagesstätte besuchen, gilt es, das Hauptaugenmerk vor allem auf diejenigen Aspekte zu fokussieren, die für Partizipation von Bedeutung sind und häufig bei hörgeschädigten Kindern erschwert sind (vgl. Cerney 2007; Elanjiamattom & Hintermair 2009). Insbesondere in Gruppensituationen, in Situationen mit erschwerten akustischen FI 4/ 2009 Was Kinder mit einer Hörbehinderung brauchen 167 Bedingungen, wie sie in diesen Einrichtungen gehäuft anzutreffen sind, ist dafür Sorge zu tragen, dass diese Kinder „dabei sind“ und damit ein wichtiger Baustein in der aktuellen Inklusionsdiskussion beigesteuert werden kann. „What is likely to work, for which children in which circumstances does remain uncertain“ (Young et al. 2006, S. 327). Wir wissen nicht, was bei welchem Kind wie unter welchen Umständen und Voraussetzungen funktioniert. Diese Ungewissheit mag auf den ersten Blick verunsichern, sie sollte aber eher als Herausforderung gesehen zu werden, mit jedem Kind neu die Welt zu entdecken, zu erkunden und dabei seine Potenziale aufzugreifen und zu nutzen, sowie durch eigenes Zutun dem Kind zu helfen, neue Fähigkeiten zu entdecken und zu erproben mit dem Ziel, dass das Kind sich als selbstbewusster, sich wertschätzender, zufriedener Mensch in der Welt positionieren kann. Literatur Antonovsky, A. (1997): Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: DGVT-Verlag. Bandura, A. (1997): Self-efficacy: The exercise of control. New York: Freeman Biringen, Z., Robinson, J. & Emde, R. N. (1998): The Emotional Availability Scales (3rd ed.). Unpublished manual. Colorado State University, Fort Collins, CO Bodner-Johnson, B. & Sass-Lehrer, M. (Hrsg.) (2003): The young deaf or hard of hearing child. A familycentered approach to early education. Baltimore, London, Sidney: Paul H. Brookes Brazelton, T. 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Manfred Hintermair, dipl.-Psych. Pädagogische Hochschule Heidelberg Institut für Sonderpädagogik Keplerstraße 87 D-69120 Heidelberg E-Mail: hintermair@ph-heidelberg.de
