Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Stichwort: Kindesmisshandlung
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Kindesmisshandlung ist eine gewaltsame psychische oder physische Beeinträchtigung von Kindern in Familien oder Institutionen, die zu nicht zufälligen Schädigungen und/oder Entwicklungsgefährdungen führen kann. In Wissenschaft und Kinderschutzpraxis wird zwischen Vernachlässigung, körperlicher und emotionaler Misshandlung sowie sexuellem Missbrauch unterschieden. Allerdings treten die verschiedenen Gewaltformen häufig gemeinsam auf, sind oft zeitlich und kausal verbunden und lassen sich nicht immer klar voneinander abgrenzen.
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FI 4/ 2010 183 Kindesmisshandlung Kindesmisshandlung ist eine gewaltsame psychische oder physische Beeinträchtigung von Kindern in Familien oder Institutionen, die zu nicht zufälligen Schädigungen und/ oder Entwicklungsgefährdungen führen kann. In Wissenschaft und Kinderschutzpraxis wird zwischen Vernachlässigung, körperlicher und emotionaler Misshandlung sowie sexuellem Missbrauch unterschieden. Allerdings treten die verschiedenen Gewaltformen häufig gemeinsam auf, sind oft zeitlich und kausal verbunden und lassen sich nicht immer klar voneinander abgrenzen. Kindesvernachlässigung beschreibt eine unzulängliche Versorgung und Pflege des Kindes durch die Eltern bzw. Betreuungspersonen auf körperlicher, emotionaler und/ oder kognitiver Ebene, die zu einem chronischen Mangelzustand aufseiten des Kindes führt. Das Kind wird beispielsweise nur unzureichend ernährt, nicht witterungsgerecht gekleidet oder erhält in der Interaktion mit den Bezugspersonen keine angemessene kognitive Förderung und emotionale Zuwendung. Bei extremen Formen der Vernachlässigung sprechen die Eltern das Kind überhaupt nicht mehr an oder wissen nicht, wo es sich aufhält. In der Folge können Entwicklungsverzögerungen bzw. -störungen auftreten. Diese erfassen sowohl die physische Ebene, z. B. Gedeihbzw. Wachstumsstörung, als auch die psychische Ebene, z. B. Entwicklung einer Bindungsstörung. Körperliche Misshandlung betrifft alle gewaltsamen Handlungen der Bezugsperson, wie Schläge, Stöße, Schütteln, Stiche oder Verbrennungen, die beim Kind zu körperlichen Verletzungen führen können. Das aggressive Verhalten der Eltern tritt dabei häufig in Überforderungssituationen in Form von Impulsdurchbrüchen auf. Eine besondere Form ist das Schütteltrauma, bei dem die Eltern, häufig aus Verzweiflung, einen exzessiv schreienden Säugling schütteln. Davon lässt sich die körperliche Bestrafung/ Züchtigung abgrenzen, bei der gewaltsame Handlungen von den Eltern als erzieherische Maßnahme intendiert sind. Die emotionale Misshandlung ist symptomatisch weniger eindeutig als die körperliche und lässt sich schwer operationalisieren. Diese Form der Misshandlung umfasst Handlungen, die Kindern Angst machen oder ihnen ein Gefühl der Wertlosigkeit vermitteln, wie etwa Mangel an Wärme, feindliche Ablehnung oder Sündenbockzuweisung. Unter sexuellem Missbrauch versteht man die Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen in sexuelle Aktivitäten, die sie mitunter wegen ihres Entwicklungsstandes nicht verstehen können. Der Täter nutzt seine Überlegenheit aufgrund seines Alters oder seiner sozialen Position aus, um das Kind auch gegen seinen Willen oder evtl. mit körperlicher oder seelischer Gewalt sexuell zu instrumentalisieren. Das Spektrum reicht über sexuelle Handlungen ohne Körperkontakt, wie Exhibitionismus, sexualisierte verbale Anspielungen, über intensivere Formen, wie sexualisierte Küsse, bis hin zu Geschlechtsverkehr mit Penetration. Spezielle körperliche Befunde, wie Sperma, Geschlechtskrankheiten oder eine Schwangerschaft, liegen nur in den seltensten Fällen vor. Daher müssen Daten aus unterschiedlichen Informationsquellen zur Diagnosestellung zusammengeführt werden. Über die genaue Verbreitung von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung in Deutschland lassen sich aufgrund der schlechten Datenlage leider nur ungenaue Aussagen machen. Aus Aktenanalysen von Jugendämtern und Studien mit klinischen Inanspruchnahmepopulationen wird deutlich, dass die Vernachlässigung zu den am häufigsten anzutreffenden Gefährdungsformen zählt. Bezüglich der körperlichen Misshandlung und des sexuellen Missbrauchs liegen zahlreiche Dunkelfeldstudien vor, die jedoch nicht alle repräsentativ für die deutsche Bevölkerung sind. Im Jahr 1992 berichteten von 3.300 befragten Personen im Alter von 16 bis 59 Jahren 10,6 % davon, in ihrer Kindheit körperlich misshandelt worden zu sein. Die Verbreitung des sexuellen Missbrauchs lag je nach Schutzalter (14 Jahre bzw. 16 Jahre) bei Frauen zwischen 6,2 und 8,6 % und bei Männern zwischen 2,0 und 2,8 % (Wetzels, 1997). Neben den Dunkelfeldstudien erlauben die Polizeiliche Kriminalstatistik und die Kinder- und Jugendhilfestatistik Schätzungen über das Vorkommen von Kindesmisshandlung in Deutschland. Ein entsprechendes bundesweites Erfassungs- und Meldesystem, über das bereits andere europäische Länder sowie die USA und Neuseeland verfügen, wurde bisher in Deutschland nicht etabliert. Es bleibt abzuwarten, welche Erfahrungen derzeit einzelne Bundesländer mit entsprechenden Landesgesetzgebungen machen und inwieweit eine gemeinsame Strategie zur Erfassung der Prävalenzen von Kindeswohlgefährdung auf Landesebene etabliert werden kann. Eine genaue Kenntnis der Häufigkeiten wäre eine wichtige Voraussetzung für die Ressourcenallokation zur Prävention von Misshandlung und Vernachlässigung sowie zur Behand- Stichwort 184 Stichwort FI 4/ 2010 lung deren Folgen und sehr hilfreich für die weitere systematische wissenschaftliche Untersuchung von Risikofaktoren. Säuglinge und Kleinkinder sind bei Misshandlung und Vernachlässigung besonders gefährdet. Gleichzeitig werden gerade bei Säuglingen und Kleinkindern frühe Warnzeichen für emotionale Belastungen und Probleme oder Kindeswohlgefährdung häufig übersehen oder erst dann wahrgenommen, wenn die Belastung und Gefährdung bereits hoch sind. Zu den etablierten Risikofaktoren, die eine gezielte Förderung elterlicher Erziehungs- und Beziehungskompetenzen nahelegen, zählen beispielsweise besondere soziale Belastungen (Armut, beengte Wohnverhältnisse), Kriminalität eines Elternteils, chronische Disharmonie in der Familie, Alter der Mutter unter 18 Jahren, psychische Erkrankungen oder biografische Belastungen der Bezugspersonen mit eigenen Misshandlungserfahrungen. Außerdem steigt für Kinder, die aufgrund einer Erkrankung, Behinderung oder Frühgeburt erhöhte Betreuungsanforderungen an die Eltern stellen, das Misshandlungsrisiko. Neben diesen eher distalen Faktoren lassen sich frühe und dezente Warnzeichen von Kindeswohlgefährdung in der Beziehung und Interaktion mit den Eltern identifizieren. Ein frühes Erkennen möglicher Misshandlung oder Vernachlässigung ist dabei umso wichtiger, als die späteren Folgekosten sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene hoch sind. Zu den Entwicklungsrisiken von vernachlässigten und/ oder misshandelten Kindern zählen kognitive Verzögerungen, die Entwicklung einer hochunsicheren Bindung, Verhaltensprobleme und Probleme der Emotionsregulation, wie z. B. aggressives Verhalten gegenüber Gleichaltrigen, fehlendes Einfühlungsvermögen und Selbstwertprobleme, und schließlich die Entwicklung psychiatrischer Störungsbilder. Daher ist das rechtzeitige Erkennen von möglichen Gefährdungen und die rasche Vermittlung der Familien in passgenaue Hilfsangebote ein zentrales Anliegen von frühen Präventionsprogrammen, wie sie derzeit unter dem Schlagwort „Frühe Hilfe“ erprobt und diskutiert werden. Der Begriff „Frühe Hilfen“ ist nach wie vor in seinem Bezug zum Kinderschutz nicht bestimmt bzw. nicht verbindlich definiert. Es gibt unterschiedliche Auffassungen darüber, wie selektiv-präventiv diese Hilfen auf die Verhinderung von Kindeswohlgefährdung hin ausgerichtet werden (soziale Frühwarnsysteme) bzw. wie breit und universellpräventiv sie vorgehalten werden. Letztere Auffassung stellt eher eine umfassende Förderung von Verwirklichungschancen im Sinn der frühen Förderung von Kindern in den Fokus (Deutscher Bundestag, 2009). Derzeit wird der Begriff Frühe Hilfen in der Praxis auf die verschiedensten Unterstützungsbedarfe von Eltern bezogen. Diese reichen von Informationen über die Entwicklung, die Bedürfnisse und das Verhalten von Säuglingen und Kleinkindern bis hin zu gezielter Unterstützung und Anleitung bzw. spezifischen Interventionen bei Kindeswohlgefährdung. Literatur Deutscher Bundestag (2009): Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe. 13. Kinder- und Jugendbericht. Drucksache 16/ 12860 Wetzels, P. (1997): Zur Epidemiologie physischer und sexueller Gewalterfahrungen in der Kindheit. Ergebnisse einer repräsentativen retrospektiven Prävalenzstudie für die BRD (KFN Forschungsberichte Nr. 59). Hannover: Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen e.V. (KFN) Dipl.-Psych. Melanie Pillhofer Prof. Dr. Ute Ziegenhain Universitätsklinikum Ulm Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/ Psychotherapie Steinhövelstraße 5 D-89075 Ulm E-Mail: melanie.pillhofer@uniklinik-ulm.de
