Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2010.art05d
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Therapiekonzepte auf den Punkt gebracht: Familientherapie/systemische Praxis
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Günther Emlein
Frühförderung geschieht in einem Umfeld, das über die Fachkraft und das Kind hinaus weitere Personen umgreift, sie hat eine relevante "Beziehungsumgebung". Mit Umfeld ist der soziale Kontext der Kommunikationen gemeint, die dem Frühförderhandeln Bedeutung geben. Familientherapie und systemische Praxis in der Frühförderung beziehen sich auf diesen zweiten Fokus des Arbeitsfeldes: Für wen haben die Einschränkung des Kindes und die Hilfestellung(en) Bedeutung und welche? Wer redet mit, wer gibt welche sinnhaften Bedeutungen in das Szenario? Man kann sagen, dass Frühförderung zwei Fokusse hat: Das Kind und das bedeutungsgebende Beziehungsnetz.
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Frühförderung interdisziplinär, 29. Jg., S. 42 - 45 (2010) DOI 10.2378/ fi2010.art05d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Familientherapie/ systemische Praxis Günther emlein Therapiekonzepte auf den Punkt gebracht Definitionen Frühförderung geschieht in einem Umfeld, das über die Fachkraft und das Kind hinaus weitere Personen umgreift, sie hat eine relevante „Beziehungsumgebung“. Mit Umfeld ist der soziale Kontext der Kommunikationen gemeint, die dem Frühförderhandeln Bedeutung geben. Familientherapie und systemische Praxis in der Frühförderung beziehen sich auf diesen zweiten Fokus des Arbeitsfeldes: Für wen haben die Einschränkung des Kindes und die Hilfestellung(en) Bedeutung und welche? Wer redet mit, wer gibt welche sinnhaften Bedeutungen in das Szenario? Man kann sagen, dass Frühförderung zwei Fokusse hat: Das Kind und das bedeutungsgebende Beziehungsnetz. Neben Familienmitgliedern tragen weitere Professionelle zum Kontext der Bedeutungen bei, ebenso Organisationen wie Kindertagesstätten, Sozialpädiatrische Zentren oder Kliniken. Die Beteiligten reagieren aufeinander, reden miteinander und übereinander - und dies hat Auswirkungen. Die Verkettung der Kommunikationen mehrerer Beteiligter nennt die Theorie soziale Systeme (Luhmann 1984). Familientherapie/ systemische Praxis als Bestandteil des Angebots der Frühförderstelle antwortet auf diese Situation und bietet Wege zu kommunikativen Lösungen. Wer hat die Paradigmen entwickelt? Familientherapie hat ihren Anfang in den USA in den Jahren nach 1950 aufgrund mehrerer Impulse genommen (v. Schlippe und Schweitzer 1996). So machte man die Erfahrung, dass man Kindern besser helfen konnte, wenn man die Familie einbezog. Ein weiterer Impuls kam aus der Psychotherapie schizophrener Adoleszenten. Die Arbeit mit diesen beeinflusste die anderen Familienmitglieder, und diese waren oft mit den Entwicklungen nicht einverstanden. Familientherapie ermöglichte, die gegenseitigen Beeinflussungen in den Blick zu bekommen und wechselseitige Unterstützung vorzuschlagen. Von Beginn an gab es mehrere Versionen der Familientherapie. Einige Gründerväter und -mütter haben ihre unterschiedlichen psychotherapeutischen Theorien auf Familiensettings angewandt. Andere haben neuartige Modelle entwickelt. In Deutschland gab es bald mehrere Zentren für Familientherapie, so in Heidelberg, Gießen und Göttingen. Heute gibt es mehr als 80 deutschsprachige Institute, die systemisch orientierte Familientherapie lehren. Wie erklärt sich das Verfahren damals und heute? Trotz unterschiedlicher Theorien haben alle familientherapeutischen Verfahren eine gemeinsame Hypothese: Die Ursache des auffälligen Verhaltens und Erlebens eines Familienmitglieds liege in familiären Beziehungen und Interaktionen. Man sprach nicht vom kranken Familienmitglied, sondern vom Symptomträger, der symptomatisch auf Dysfunktionalität reagierte. Man identifizierte entsprechend dysfunktionale Strukturen oder Kommunikationsmuster und veränderte diese durch aktive und aktivierende Interventionen. FI 1/ 2010 Familientherapie/ systemische Praxis 43 Mit Familientherapie verbesserte sich das Symptomverhalten oder es verschwand ganz. Diese Änderung der Sichtweise empfand man als großen Fortschritt: Therapien verkürzten sich, und oft zeigte sich, dass es nicht nur einen Symptomträger in der Familie gab, sondern mehrere (mit verschiedenen Symptomatiken), die sich interaktionell gegenseitig in die Hände spielten. Von der Familientherapie zur systemischen Perspektive Manchmal lag die verhedderte Kommunikation nicht innerhalb der Familie, sondern zwischen einem Teil der Familie und einer außenstehenden Einrichtung (z. B. Mutter - Kind - Kindergarten). In solchen Fällen behob Familientherapie nicht das Problem. Diese Beobachtungen leiteten den Schritt von der Familientherapie zur systemischen Perspektive ein. Man änderte noch einmal den Zugang. Man löste Kommunikation von Personen und Familien ab und beobachtet stattdessen die Abfolge der Beiträge, an denen je andere Menschen beteiligt sind. Man spricht nicht mehr von problematischen Familien, sondern von Problemsystemen, an denen auch andere als Familienmitglieder beteiligt sind. Man entdeckte, dass die Wirkung, die in den Folgekommunikationen sichtbar wird, entscheidender ist als der Inhalt (Emlein 2006). Das (soziale) System ist der kommunikative Zusammenhang, zu welchem mehrere etwas beitragen. Wie in einem Netzwerk werden die Bedeutungen von Aussagen aneinandergehängt und miteinander verknüpft. Systemisch zu beobachten heißt, nach solchen zusammenhängenden Clustern von geäußerten Bedeutungen zu suchen. Bedeutungen können so, aber auch anders ausfallen. Sie „kleben“ nicht an Situationen und Gegenständen, sondern sie werden jeweils von Beobachtern „hin beobachtet“. Man kann Situationen und Gegenstände daher anders interpretieren und eine andere Wirkung auslösen. Am Feedback der Kunden ist ersichtlich, ob Ideen passen. Passt eine Idee nicht, sucht man eine andere - eine Ablehnung sagt nichts über die Richtigkeit der Idee, sie sagt nur etwas über misslungene Passung. In diesem (philosophischen) Rahmen sind mit der Entwicklung der systemischen Praxis mehrere Grundideen entstanden, die „typisch“ sind für systemisches Denken: • Orientierung an Ressourcen: Eine Sicht, die auf Defizite fokussiert, ist genauso eine Sinnzuschreibung wie ein Fokus auf Ressourcen, der die Stärken und Kompetenzen und Fördermöglichkeiten eruiert. Familien und Helfenden geht es besser mit einer positiven, vorwärtsweisenden Einschätzung. • Orientierung an Kontexten: Verhaltensänderungen sind leichter möglich, wenn man den Kontext an Kommunikationen und Personen, innerhalb dessen die Änderung stattfinden soll, einbezieht. Es ist nicht hilfreich, Einzelne zu isolieren. • Orientierung an Autonomie: Kunden entscheiden selbst, ob der angebotene Sinn für sie interessant ist oder nicht. Die Expertise der Fachkräfte liegt darin zu lernen, welche Ideen passend und hilfreich sein könnten und wie man diese Ideen am leichtesten einfädelt. • Orientierung an Kommunikation: Wir befassen uns mit dem, was mitgeteilt worden ist in Worten, Metaphern, Gesten, Bewegungen usw. Systemische Praxis rechnet nicht zurück auf (individuelle) Psychologie oder Psychopathologie. • Orientierung an Wirkung: Das Verstehen (des Empfängers) bestimmt, was die Bedeutung des Gesagten ist. Nicht die Richtigkeit einer Aussage entscheidet darüber, wie es weitergeht, sondern die Interpretation, die durch das Verstehen des Anderen der Aussage beigelegt wird. Wirkung hängt an Interpretation - und diese kann verändert werden. Damit vermeidet syste- 44 Günther Emlein FI 1/ 2010 misches Denken Wahrheitskämpfe und Wissensmacht gegen Klienten. Stattdessen arbeitet sie mit dem, was „drüben“ angekommen ist. Für wen ist das Konzept bestimmt? Ideen aus der Familientherapie und der systemischen Praxis eignen sich generell für Beratungssituationen mit Familien und in anderen Settings. Der Blick geht auf den zweiten Fokus der Frühförderung: das Beziehungsnetz. Regelrecht Familientherapie anzubieten, ist wohl die Ausnahme. Familientherapie würde den Fokus weg vom eingeschränkten Kind verschieben zugunsten anderer Themen, für die die Familien aber nicht gekommen sind. Günstiger scheint zu sein, in die Dialoge, die man mit der Familie, mit anderen Helfenden und mit Fachkräften aus Einrichtungen führt, systemisches Know-how einfließen zu lassen und die entsprechenden Methoden zu nutzen.Das Konzept ist daher für alle Beziehungssituationen geeignet. Die einzige Kontraindikation ist unmittelbar drohende Gewalt; hier sind Eingriffe und Entscheidungen wirkungsvoller als Ideenangebote, die zur Disposition gestellt werden. Ein Gespräch kann einmalig sein, aber auch in großen Abständen weitergeführt werden. Werden neue und überraschende Ideen angeboten, benötigen alle Beteiligten Zeit, diese Ideen auszuprobieren und eventuell zu integrieren. Daher kann man auch mit großen Abständen arbeiten (6 - 12 Wochen). Was sollen die Verfahren bewirken? Ziele der Verfahren sind: • Eine gute Kooperation zwischen allen Beteiligten soll ermöglicht werden. • Unterschiedliche Sichtweisen sollen integriert oder zu Kompromissen geformt werden. • Man einigt sich auf einen Förderplan und hält regelmäßig Bilanz. • Die Eltern werden gestützt als Auftraggeber und Entscheidungsträger. In Konfliktfällen zeigen sich die Stärken. Lösungen, mit denen alle Beteiligten einverstanden sind, erhöhen die Kooperationsbereitschaft. Vertragliche Klarheit, wie sie typisch ist für systemisches Denken, steuert den Prozess. Es sollten sinnvollerweise nur solche Themen besprochen werden, die zur Einschränkung des Kindes einen Bezug haben. Welches sind die Rollen? Die Expertise der Fachkräfte besteht in dialogischer Kompetenz. Kunstgerecht Gespräche auf dem Hintergrund familientherapeutischen und systemischen Denkens zu führen, ist die Aufgabe. Insofern geht es nicht um die Anwendung eines Verfahrens bei bestimmten Befunden, sondern um die Ermöglichung eines dialogischen Milieus. Dazu tragen alle bei. Die Kompetenz der Fachkräfte bezieht sich darauf, geschickt ressourcenorientierte, integrierende und lösungsorientierte Fragen zu stellen. Wer wendet es an? Ein familientherapeutisch-systemischer Blick auf Klientel und Arbeitskontext ist jeder Frühförderfachkraft möglich. Um beide Fokusse wahren zu können, ist es hilfreich, die Sichtweisen auf zwei verschiedene Personen zu verlagern: Eine Fachkraft erlaubt sich einen engen Kontakt zum Kind und zur überwiegend betreuenden Person; die zweite Fachkraft behält den Blick auf Beziehungen, führt die Familiengespräche und die Gespräche im weiteren Kontext der Helfenden und der beteiligten Einrichtungen (Emlein 1994). Eine andere Version der Verknüpfung findet man im „Zentrum für systemische Bewegungstherapie und Kommunikation e.V.“, Tübingen. Dort versucht man, Elemente systemischen Denkens mit Bewegung zu integrieren und spontane Körperbewegungen als Lösungsressource zu codieren (Walthes u. a. 1995; Schnurnberger 1996). FI 1/ 2010 Familientherapie/ systemische Praxis 45 Wirksamkeitsstudien Inzwischen gibt es zahlreiche Studien über die Wirksamkeit systemischer Praxis, bezogen allerdings auf Psychotherapie (Schiepek 1999; von Sydow u. a. 2006). Bezüglich Frühförderung gibt es bislang nur Einzelfallstudien. Sie legen nahe, dass das Verfahren effizient ist und Förderungen verkürzt. Was sagen Kritiker? Es gibt einige Einwände gegenüber Familientherapie und systemischer Praxis. Man kann allerdings feststellen, dass die Kritiken ihren Hintergrund in anderen Theorien der Gesprächsführung haben. So kritisiert die Tiefenpsychologie, dass Familientherapie nicht „tief“ genug gehe und außerdem das Unbewusste nicht einbeziehe - aber das setzt voraus, dass es eine objektiv richtige Sicht gibt (dazu und zu anderen Kritikthemen von Schlippe und Schweitzer 1996: 262 - 276; Schiepek 1999). Eine Reihe positionsunabhängiger Anfragen sind inzwischen in das Paradigma eingearbeitet (z. B. die Genderfrage). Wo kann man mehr erfahren? Ein guter Einstieg ist das Buch von v. Schlippe und Schweitzer (1996). Das Werk gilt weithin als die Bibel der systemischen Praxis. Es zeigt viele Möglichkeiten für unterschiedliche Settings, bietet für den Arbeitsbereich Frühförderung keine spezifischen Anhaltspunkte. Den Transfer in dieses Arbeitsfeld ist andernorts geleistet (Emlein 1994, 2001 a, 2001 b, 2006, Emlein und Boller 1995; Jawad 2001). Arbeitsstellen einiger Bundesländer bieten kürzere Curricula zur Erarbeitung systemischen Wissens für die Frühförderung an. Weitere Informationen finden sich auch unter www.systemische-gesellschaft.de und www. dgsf.org. Literatur Emlein, Günther (1994): Frühförderung als soziales System. Frühförderung interdisziplinär 13: 97 - 107 Emlein, Günther, und Boller, Rita (1995): Wider die Psychotherapeutisierung der Frühförderung. Frühförderung interdisziplinär 14: 1 - 10 Emlein, Günther (2001 a): Beraten - Begleiten - Anleiten: Die Beziehung zu „Frühförder“-Eltern. In: Hess. Sozialministerium und Bundesvereinigung Lebenshilfe (Hg.): Ansichten über Frühförderung. Marburg (Lebenshilfe-Verlag), S. 51 - 59 Emlein, Günther (2001 b): Familie, Behinderung, Rehabilitation. In: Hess. Sozialministerium und Bundesvereinigung Lebenshilfe (Hg.): Ansichten über Frühförderung. Marburg (Lebenshilfe-Verlag), S. 323 - 333 Emlein, Günther (2006): Gespräche führen in der Frühförderung - systemische Aspekte. Frühförderung interdisziplinär 25: 122 - 131 Jawad, Saadi (2001): Systemische Therapie in der Behandlung von Kindern mit Entwicklungsauffälligkeiten. Frühförderung interdisziplinär 20: 20 - 33 Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundlagen einer allgemeinen Theorie. Frankfurt (Suhrkamp) Schiepek, Günter (1999): Die Grundlagen der Systemischen Therapie. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) Schnurnberger, Marion (1996): Bewegte Bilder, Bilder bewegen. In: Fauser, P., Madelung, E. (Hrsg.): Vorstellungen bilden. Seelze, S. 11 - 26 von Schlippe, Arist, Schweitzer, Jochen (1996): Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) von Sydow, Kirsten, Beher, Stefan, Retzlaff, Rüdiger, Schweitzer-Rothers, Jochen (2006): Die Wirksamkeit der systemischen Therapie/ Familientherapie. Göttingen (Hogrefe) Walthes, Renate, Cachay, Klaus, Gabler, Hartmut, Klaes, Regina (1995): Gehen, Gehen, Schritt für Schritt … Frankfurt (Campus) Günther emlein Lehrtherapeut und Lehrender Supervisor am Institut für systemische Theorie und Praxis (ISTUP) Projektleiter „Systemische Praxis in der Frühförderung“ Zeißelstr. 11 D-60318 Frankfurt E-Mail: ge@istup-ffm.de
