Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Stichwort: Bindung
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Bindungen sind besondere Formen der Sozialbeziehungen, die sich durch emotionale Sicherheit und Vertrautheit auszeichnen und mit nur wenigen Personen entstehen. Sie werden zunächst im unmittelbaren Kreis der Familie erworben, können sich aber auch auf signifikante andere Personen im Umfeld des Kindes und im weiteren Lebenslauf ausdehnen. Der Mutter-Kind-Bindung wird eine besondere Bedeutung beigemessen, weil sie durch biologische Mechanismen unterstützt wird. Diese primären Bindungserfahrungen – die bei frühem Mutterverlust auch mit anderen Personen entstehen können - gelten als Basis für Sozialverhalten und Identitätsentwicklung des Kindes. Weitere Bindungserfahrungen liefern Beiträge zu dieser Entwicklung.
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FI 2/ 2010 87 Stichwort Bindung Bindungen sind besondere Formen der Sozialbeziehungen, die sich durch emotionale Sicherheit und Vertrautheit auszeichnen und mit nur wenigen Personen entstehen. Sie werden zunächst im unmittelbaren Kreis der Familie erworben, können sich aber auch auf signifikante andere Personen im Umfeld des Kindes und im weiteren Lebenslauf ausdehnen. Der Mutter-Kind-Bindung wird eine besondere Bedeutung beigemessen, weil sie durch biologische Mechanismen unterstützt wird. Diese primären Bindungserfahrungen - die bei frühem Mutterverlust auch mit anderen Personen entstehen können - gelten als Basis für Sozialverhalten und Identitätsentwicklung des Kindes. Weitere Bindungserfahrungen liefern Beiträge zu dieser Entwicklung. Die primäre Bindung stützt sich auf Verhaltenssysteme, die Nähe zu einer Bezugsperson garantieren und infolgedessen für den unerfahrenen Nachwuchs Schutz und Sicherheit bedeuten. Die Existenz des Bindungsmotivs wird danach mit besseren Überlebenschancen begründet. Bindungsverhaltensweisen zeigen sich durch Anklammern an die Bindungsperson, akustisches Signalisieren, Annähern und Nachfolgen. Vor allem aber werden die frühen Kommunikationstechniken beim Bindungsaufbau wichtig. Über ausdauernde Blickkontakte lernt das Baby das Gesicht seiner Betreuungsperson zu lesen, den emotionalen Ausdruck zu interpretieren und dessen Zuwendungs- und Betreuungsbereitschaft zu kalkulieren. Zum Aufbau der Bindung aber muss die Betreuungsperson signifikant beitragen. Ihre Verfügbarkeit und Sensitivität sind dafür grundlegend. Richtet ein geängstigtes und irritiertes Kleinkind sein Verhalten auf die Bindungsperson in Form von Nähe-Suchen und Kontakt-Erhalten aus, so ist dies eine Bindungsbeziehung wie sie als sog. sichere Bindung (Typ B) bestimmt wurde. Die Bindungsperson fungiert hierbei als Sicherheitsbasis. Ihre Nähe und Verhaltensweisen helfen dem Kind, Angst und Hilflosigkeit zu bewältigen. Nicht immer ist jedoch eine Mutter in der Lage, eine Sicherheitsbasis für ihr Kind zu sein. Aus unsicheren Bindungsbeziehungen ist bekannt, dass Kleinkinder ihre Mütter regelrecht vermeiden können, ihr beispielsweise den Rücken zudrehen, ihren Blicken ausweichen und sich aus ihrer Berührung oder unmittelbaren Nähe entfernen, wenn die Mutter helfen und trösten will. Um vermutlich Wut und Ärger erst gar nicht ausdrücken zu müssen, führen diese Kinder ihr Verhalten von der Mutter weg und versuchen, sich emotional selbst zu regulieren. Paradoxerweise hält genau dies eine gewisse Nähe zur Mutter aufrecht, da in derartigen unsichervermeidenden Bindungsbeziehungen (Typ A) unangemessene kindliche Emotionsäußerungen ausbleiben und die Interaktion regulär fortgeführt werden kann. Darüber hinaus gibt es eine unsicherambivalente Variante der Bindungsbeziehung (Typ C), bei der ein irritiertes Kind zwar Nähe und Körperkontakt bei der Mutter sucht, es ihm jedoch nicht gelingt, die Irritationen auch tatsächlich abzubauen und emotionale Sicherheit wiederzuerlangen. Während die aktuelle Bindungsforschung über die entwicklungspsychologischen Konsequenzen dieser unsicheren Bindungsvarianten streitet, werden desorganisierte Bindungsmuster (Typ D) übereinstimmend als entwicklungspsychopathologisch angesehen. Desorganisierte Bindungsmuster sind Beziehungen, bei denen die Bindungsperson eine angsterzeugende Rolle im Leben des Kindes spielt. Diese Kinder bringen widersprüchliche und z. T. bizarre Verhaltensbilder hervor, wenn ihre Mütter ihnen Sicherheit und Schutz anbieten wollen. Insgesamt lässt sich feststellen, dass Bindungen durch Beziehungen eines Kindes zu einer bevorzugten Person (Bindungsperson) charakterisiert sind und keine Persönlichkeitsmerkmale darstellen. Bindungsbeziehungen werden deshalb von Person zu Person verschieden ausgebildet und sind zeitlich auch veränderbar; vor allem zu Beginn der Bindungsentstehung. Die Bindung wurde deshalb von Anfang an in einem dynamischen Modell konzipiert, das sich auf Umweltveränderungen stetig neu einstellt. Ein zentraler Begriff in diesem Modell ist das Inner Working Model (IWM), das die bindungsrelevanten Erfahrungen des Kindes intrapsychisch repräsentiert. Das IWM entwickelt sich erst über die Frühe Kindheit hinaus zu einer zunehmend stabilen mentalen Bindungsrepräsentation. Für die Erfassung des primären IWM eines Kindes wird die Fremde Situation eingesetzt, in der kurzzeitige Trennungen des Kindes von der Mutter durchgeführt werden, um bei ihrer Rückkehr beurteilen zu können, inwieweit die Mutter als Sicherheitsbasis fungiert. Auf dieser Basis wird dann das jeweilige Bindungsmuster bestimmt, das als sichere (Typ B), unsicher-vermeidende (Typ A), unsicher-ambivalente (Typ C) und desorganisierte Bindung (Typ D) ausfallen kann. 88 Stichwort/ Vereinigung für interdisziplinäre Frühförderung FI 2/ 2010 Die Fremde Situation dient in einer prospektiven Weise dazu, spätere Konsequenzen dieser Bindungserfahrungen zu untersuchen. Danach haben sichere primäre IWMs eine größere Wahrscheinlichkeit, in bestimmte Entwicklungsverläufe optimierend eingreifen zu können. Der Fremden Situation steht das Adult Attachment Interview gegenüber, das entwickelt worden ist, um das IWM bei Jugendlichen und Erwachsenen zu bestimmen. Es handelt sich dabei um ein retrospektives Verfahren, um vergangene Bindungserfahrungen rekonstruieren zu können. Während die Fremde Situation die verhaltensbezogenen Charakteristiken der Bindungssicherheit in ihren Anfängen erfasst, geht man beim Adult Attachment Interview von einer bereits abstrahierten, symbolischen Bindungsrepräsentation aus. Beide Verfahren verwenden analoge Kategorie-Systeme, die allerdings nur dann miteinander korrelieren, wenn die Veränderungen im Betreuungskontext der Heranwachsenden auf die notwendigen Entwicklungsaufgaben beschränkt bleiben und nicht durch zusätzliche kritische Lebensereignisse (Wohnortwechsel, Betreuungswechsel, Scheidung etc.) gestört werden. Weiterführende Literatur Ahnert, L. (2004) (Hrsg.): Frühe Bindung. Entstehung und Entwicklung. München: Reinhardt Ahnert, L. (2010): Wieviel Mutter braucht ein Kind? Heidelberg: Springer Ahnert, L. (2010): Bindungsbeziehungen. In H.-U. Otto, H. Thiersch, K. Böllert, G. Flösser, C. Füssenhäuser & K.Grunwald (Hrsg.). Handbuch der Sozialarbeit - Sozialpädagogik. München: Reinhard Univ.-Prof. DDr. Lieselotte Ahnert Institut für Entwicklungspsychologie und Psychologische Diagnostik der Universität Wien Liebiggasse 5 A-1010 Wien E-Mail: lieselotte.ahnert@univie.ac.at Vereinigung für interdisziplinäre Frühförderung Kontakte von VIFF zu EURLYAID EURLYAID ist ein eingetragener Verein, der sich vorwiegend aus Vertretern und Vertreterinnen aus Ländern der EU zusammensetzt und dessen offizielle Bezeichnung European Association on Early Intervention (EAEI) lautet. Er wird von einem internationalen Vorstand geführt, der jeweils für eine Funktionsperiode von 3 Jahren gewählt wird und der seinen Sitz in Luxemburg hat. Genaue Informationen sind unter der Website www.eurlyaid.net nachzulesen. Gegründet wurde diese Vereinigung schon 1989 in Rotterdam als freiwillige Interessens- und Arbeitsgemeinschaft. Die Besonderheit dieser Gruppierung ist die von Anfang an gegebene interdisziplinäre Zusammensetzung und vor allem die Einbeziehung betroffener Eltern. Die erste gemeinsame Tätigkeit war die Erarbeitung eines MANIFESTO, das die grundsätzlichen Prinzipien, Aussagen und Regelungen von Frühförderung beinhaltet und von den Mitgliedern laufend aktualisiert wird. Die EAEI stellt einen Zusammenschluss interessierter Personen dar. Sie ist von unten gewachsen - durch freiwillige Mitarbeit, freiwillige Teilnahme an den Jahrestreffen (oft auf eigene Kosten der betreffenden Personen). Derzeit sind über 20 Länder, meist durch Einzelpersonen, vertreten. Im Jahre 2003 kam es in Rom zur offiziellen Vereinsgründung (Statuten siehe auf der Website). Folgende Ziele wurden gemeinsam erarbeitet: • Verbesserung der Lebensqualität für Familien, Eltern und Kinder mit besonderen Bedürfnissen • Förderung der Entwicklung auf einem einheitlichen, europäischen Niveau (theoriegeleitetes Handlungsfeld) • Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Notwendigkeit der frühen Förderung und den ethischen Hintergrund dieser Aufgabe • Laufende Aktualisierung der professionellen Kenntnisse in diesem Aufgabenfeld durch interdisziplinären Austausch Die jährlichen Treffen sind in der Regel auf Themen zentriert, die aktuell in den jeweiligen Ländern bearbeitet werden. Im Folgenden soll als Beispiel ein kurzer Überblick über die Präsentationen des Treffens in Kristiansand vom 3. bis 6. September 2008 gegeben werden. Es stand unter dem Leitthema „Good Practice in Early Childhood Intervention“.
