eJournals Frühförderung interdisziplinär 29/3

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2010.art10d
71
2010
293

Belastungserleben von Müttern ehemals sehr früh geborener Kinder und Zufriedenheit mit der Unterstützung in einem interdisziplinären Nachsorgeprojekt

71
2010
Armin Gehrmann
Ursula Köhler-Sarimski
Reinhard Roos
Klaus Sarimski
Das Nachsorgeprojekt "Harl.e.kin", das an die Kinderklinik München-Harlaching angegliedert ist, ist ein niedrigschwelliges, frühzeitig, interdisziplinär und interinstitutionell angelegtes Angebot zur Entwicklungsbegleitung von Familien mit sehr früh geborenen Kindern. In einer Elternbefragung berichten 71 Mütter von sehr früh geborenen Kindern (mittleres Alter 2;11 Jahre) über ihre aktuelle Belastung und ihre Zufriedenheit mit der Unterstützung durch das Projekt. Zum Befragungszeitpunkt beschreiben sich knapp 15 % der Mütter als hoch belastet. Das sind nicht mehr, als nach den Normierungsdaten des Fragebogens (PSI-SF) bei Müttern reifgeborener Kinder zu erwarten wäre. Mehr als 80 % der Mütter waren zufrieden mit der Unterstützung bei praktischen Fragen des Alltags, schätzten die Wirkung der Beratung sehr positiv ein und fühlten sich im persönlichen Kontakt mit dem Beratungsteam angenommen. Aus den Angaben der Eltern lässt sich schließen, dass eine Kombination ärztlicher, psychologischer und pflegerischer Nachsorge besonders dann indiziert ist, wenn Mütter hoch belastet sind, Fütter- und Essprobleme oder Schlafprobleme den Alltag belasten und/oder eine nachhaltige Entwicklungsbeeinträchtigung des Kindes droht.
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Frühförderung interdisziplinär, 29. Jg., S. 99 - 111 (2010) DOI 10.2378/ fi2010.art10d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Belastungserleben von Müttern ehemals sehr früh geborener Kinder und Zufriedenheit mit der Unterstützung in einem interdisziplinären Nachsorgeprojekt Ergebnisse einer retrospektiven Befragung Armin GehrmAnn, UrsUlA Köhler-sArimsKi, reinhArd roos, KlAUs sArimsKi Zusammenfassung: Das Nachsorgeprojekt „Harl.e.kin“, das an die Kinderklinik München-Harlaching angegliedert ist, ist ein niedrigschwelliges, frühzeitig, interdisziplinär und interinstitutionell angelegtes Angebot zur Entwicklungsbegleitung von Familien mit sehr früh geborenen Kindern. In einer Elternbefragung berichten 71 Mütter von sehr früh geborenen Kindern (mittleres Alter 2; 11 Jahre) über ihre aktuelle Belastung und ihre Zufriedenheit mit der Unterstützung durch das Projekt. Zum Befragungszeitpunkt beschreiben sich knapp 15 % der Mütter als hoch belastet. Das sind nicht mehr, als nach den Normierungsdaten des Fragebogens (PSI-SF) bei Müttern reifgeborener Kinder zu erwarten wäre. Mehr als 80 % der Mütter waren zufrieden mit der Unterstützung bei praktischen Fragen des Alltags, schätzten die Wirkung der Beratung sehr positiv ein und fühlten sich im persönlichen Kontakt mit dem Beratungsteam angenommen. Aus den Angaben der Eltern lässt sich schließen, dass eine Kombination ärztlicher, psychologischer und pflegerischer Nachsorge besonders dann indiziert ist, wenn Mütter hoch belastet sind, Fütter- und Essprobleme oder Schlafprobleme den Alltag belasten und/ oder eine nachhaltige Entwicklungsbeeinträchtigung des Kindes droht. Schlüsselwörter: Sehr früh geborenes Kind, Elternbegleitung, Elternbelastung Reducing Distress by an Interdisciplinary Support Program for Mothers of Very Preterm Infants - The Examination of Parenting Stress Scores Summary: This study examined present parenting stress and satisfaction with a postdischarge service („Harl.e.kin“-Nachsorge, Munich) in 71 mothers of very preterm children (mean age 2; 11 years). At this point of time 15 % report a high parenting stress level in the PSI-SF which is no difference to mothers of term children according to the PSI-norm tables. More than 80 % reported a (high) satisfaction with the assistance in coping with daily problems which they had received, found the services very helpful or helpful and felt personally supported by the team. An interdisciplinary team approach seems to be useful especially for mothers with high stress levels who have to deal with feeding or sleeping problems or have to cope with a perspective of developmental disabilities in the child. Keywords: Very preterm infant, parent support, parenting stress Original- und Übersichtsarbeiten 1. Risikobelastung bei frühgeborenen Kindern und ihren Eltern Als sehr früh geborene Kinder werden jene bezeichnet, die vor der 32. Schwangerschaftswoche geboren wurden; die meisten dieser Kinder wiegen bei Geburt weniger als 1500 Gramm. Als extrem unreif geborene Kinder gelten Kinder, die mit einem Geburtsgewicht unter 1000 Gramm zur Welt kommen. In Abhängigkeit vom Reifegrad besteht bei ihnen ein erhöhtes Risiko von neurologischen und sensorischen Behinderungen sowie schweren mentalen Entwicklungsstörungen. Die Bayerische Entwicklungsstudie, die sehr früh geborene Kinder bis ins Schulalter nachunter- 100 Armin Gehrmann et al. FI 3/ 2010 suchte, die in den Achtzigerjahren geboren wurden, wies bei 20 - 30 % dieser Kinder schwere und oft mehrfache kognitive, sprachliche, motorische und sozial-emotionale Störungen nach (Wolke & Meyer, 1999). Verbesserungen der perinatalen Versorgung in den letzten 25 Jahren haben zwar zu einem rapiden Anstieg des Überlebens und einer Reduzierung der Rate von cerebralen Paresen, Seh- oder Hörschädigungen bei diesen Kindern geführt. Vergleichende Untersuchungen an extrem unreifen Kindern, die in verschiedenen Zeitperioden zur Welt kamen, zeigen aber, dass die Rate von Kindern, die eine mentale Störung (IQ < 70) ausbilden, bei Kindern, die nach dem Jahre 2000 geboren wurden, nicht niedriger ist als bei Kindern, die in den Achtzigerjahren zur Welt kamen (Wilson- Costello et al., 2007). Eine sehr unreife Geburt bedeutet somit nicht nur - bis heute - ein erhöhtes Risiko für die Ausbildung von Entwicklungsstörungen beim Kind, sondern stellt auch für die Eltern eine erhebliche emotionale Belastung und Gefährdung ihrer psychosozialen Stabilität dar. In systematischen Befragungen von Müttern während der stationären Betreuung ihres Kindes auf der neonatologischen Intensivstation und vor der Entlassung werden regelmäßig deutlich erhöhte Raten von ängstlichen und depressiven Symptomen berichtet (Meyer et al., 1994; Singer et al., 1996; Jotzo & Poets, 2005; Miles et al., 2007). Der Grad der psychischen Belastung variiert dabei mit dem gesundheitlichen Zustand der Kinder und der Unterstützung, die die Mütter auf der Station und innerhalb ihrer Familie erleben (Meyer et al., 1994; Ganseforth et al., 2002). Diese psychische Belastung endet nicht mit dem Zeitpunkt der Entlassung nach Hause. Prospektive Verlaufsstudien zur Entwicklung des Belastungserlebens bei Müttern frühgeborener Kinder zeigen bei vielen, aber keineswegs allen Müttern eine allmähliche psychische Stabilisierung. Miles et al. (2007) verfolgten die Entwicklung bei 102 Müttern frühgeborener Kinder. Ihre Depressionswerte nahmen in den ersten sechs Monaten nach Entlassung ab. Alleinerziehende Mütter, Mütter von Kindern, die erneut hospitalisiert werden mussten, sowie Mütter, die in der ersten Zeit wenig Gelegenheit hatten, bei ihren Kindern zu sein, waren aber auch im weiteren Verlauf anhaltend hoch belastet. Singer et al. (1996, 1999) begleiteten 328 Mütter bis zum dritten Lebensjahr der Kinder. Unmittelbar nach der Entlassung fühlten sich mehr als 30 % von ihnen hoch belastet. Im Alter von zwei Jahren fand sich dann bei den Müttern, deren Kinder ein niedriges Risiko für langfristige Entwicklungsstörungen hatten, kein Unterschied mehr in der psychischen Belastung zu den Müttern von reifgeborenen Kindern, während sich die Mütter von Kindern mit höherem Risiko als weiterhin deutlich mehr belastet beschrieben. Im Alter von drei Jahren hatte sich auch in dieser Gruppe die emotionale Belastung auf das Niveau der Vergleichsgruppe reduziert, während die Belastung in der alltäglichen Interaktion mit den Kindern unverändert als höher empfunden wurde als bei reifgeborenen Kindern. Die Mütter der Babys mit hohem Risiko äußerten zu allen Untersuchungszeitpunkten mehr negative Auswirkungen auf die Familie: finanzielle Probleme, Belastungen der Beziehungen innerhalb der Familie und persönliche Erschöpfung. Dies ließ sich bei einer Untersuchung von 219 Müttern extrem früh geborener Kinder auch noch nachweisen, als die Kinder bereits im Schulalter waren (Drotar et al., 2006). 2. Familienorientierte Nachsorgeprojekte Angesichts dieser empirischen Hinweise auf den Unterstützungsbedarf der Eltern frühgeborener Kinder haben sich in den letzten Jahren zunehmend mehr Kliniken um eine Verbesserung der Nachsorge und Entwicklungsbegleitung sehr früh geborener Kinder und ihrer Eltern bemüht. Diese Nachsorgeprojekte FI 3/ 2010 Belastungserleben von Müttern 101 sind interdisziplinär angelegt und beginnen auf der Neugeborenen-Intensivstation. Dort werden die Eltern weitaus mehr als früher in die Versorgung ihrer Kinder eingebunden, sie erhalten Unterstützung beim Beziehungsaufbau zu ihren Kindern und beim Erkennen ihrer Bedürfnisse und finden eine stützende Beratung in psychotherapeutisch geschulten Fachkräften. Je nach Bedarf sind mit der Neugeborenen-Intensivpflege vertraute Kinderkrankenschwestern für Hausbesuche verfügbar, durch die die Eltern in der Pflege unterstützt werden. Eine kinderneurologische und kinderpsychologische Entwicklungsbegleitung in regelmäßigen Abständen trägt dazu bei, die Sicherheit der Eltern im alltäglichen Umgang mit ihren Kindern zu stärken und, wo erforderlich, rechtzeitig eine Frühförderung gemeinsam mit den Eltern zu planen und einzuleiten. Die Nachsorgeangebote werden in den ersten Jahren eng an die erstversorgende Klinik angebunden, da die dortigen Mitarbeiter um die peri- und postnatale Geschichte der Kinder wissen und häufig eine vertrauensvolle Beziehung zu den Eltern aufgebaut haben (Höck, 1999; Orth, 1999). Ein wichtiger Baustein ist dabei die Beratung der Eltern in der Gestaltung einer feinfühligen Interaktion mit ihren Kindern, die in der Regel videogestützt erfolgt (Sarimski, 2000; Brüggemann, 2006). Erste Ergebnisse von prospektiven, kontrollierten Studien sprechen für die Wirksamkeit einer solchen Entwicklungsbegleitung. Jotzo & Poets (2005) konnten z. B. zeigen, dass eine psychologische Beratung zur Traumaprävention während der stationären Betreuungsphase zu einer signifikanten Verringerung der Rate von emotionalen Belastungszeichen führte. Zwar wiesen 36 % der Mütter, die in einer kontrollierten Vergleichsstudie eine solche Beratung erhielten, zum Zeitpunkt der Entlassung noch Zeichen einer hohen emotionalen Belastung durch die Traumatisierung auf; ihr Anteil war jedoch um mehr als die Hälfte reduziert gegenüber Müttern, die keinen Zugang zu einer solchen Beratung hatten. Kaaresen et al. (2006) führten eine prospektive, kontrollierte Studie mit 67 Müttern frühgeborener Kinder durch und verglichen ihre psychische Belastung - gemessen mit dem international etablierten Parenting Stress Index (PSI) - mit der von Müttern reifgeborener Kinder. Die Beratung bestand aus acht Sitzungen vor und vier Hausbesuchen nach Entlassung durch speziell fortgebildete Pflegekräfte mit dem Ziel, die Sicherheit der Eltern im Umgang mit speziellen Verhaltens- und Temperamentsmerkmalen des Kindes und in der Gestaltung förderlicher Interaktionen zu unterstützen. In der Interventionsgruppe ergaben sich mit sechs und zwölf Monaten signifikant niedrigere Belastungswerte im Parenting Stress Index gegenüber einer sorgfältig parallelisierten Kontrollgruppe von Müttern frühgeborener Kinder. Ihre Belastung unterschied sich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr von der Belastung reifgeborener Kinder. Beide Studien können als empirische Belege für die Effektivität einzelner Elemente eines Konzepts der Elternbegleitung gelten. Bisher fehlt es allerdings an Untersuchungen, die sich mit interdisziplinär angelegten Nachsorgeprojekten beschäftigen, in denen verschiedene Elemente der Elternbegleitung miteinander kombiniert werden. Ein vielversprechendes Konzept dieser Art ist das Nachsorgeprojekt des „Bunten Kreises“ in Augsburg, über das Porz et al. (2003) berichten. Es beruht auf dem Konzept eines „Case-Managers“, zu dessen Aufgaben die Stärkung der Feinfühligkeit der Mutter in der Wahrnehmung ihres Kindes und der Eltern-Kind-Beziehung ebenso gehört wie der Aufbau eines funktionierenden sozialen Netzwerks nach der Entlassung und die Koordination aller Behandlungsmaßnahmen. Dabei werden Kinderkrankenschwestern als Fachkräfte der Pflegenachsorge und Sozialpädagogen als Fachkräfte für die psychosoziale Betreuung zur Stabilisierung der Eltern und Geschwister einbezogen. Eine Studie zur Effektivität und Effizienz dieses Konzepts ist als PRIMA-Studie angekündigt, aber noch nicht publiziert. 102 Armin Gehrmann et al. FI 3/ 2010 Höck (2009) stellt unter dem Titel „Harl.e.kin-Nachsorge“ ein Projekt vor, das zunächst als lokales Pilotprojekt an der Kinderklinik München-Harlaching begonnen und mittlerweile als bayernweites Modell niedrigschwelliger, frühzeitiger, interdisziplinär und interinstitutionell angelegter Betreuung von Familien mit Früh- und Risikogeborenen an acht weiteren Standorten etabliert wurde. Es kombiniert verschiedene „Module“ wie eine bereits während der stationären Betreuung beginnende neurologische und psychologische Entwicklungsdiagnostik mit einer interaktionsorientierten, videogestützten und familienorientierten Beratung und weiter einer pflegerischen Unterstützung durch eine den Eltern aus der Neonatologie bekannte Pflegekraft nach der Entlassung. Das Angebot ist lebens- und alltagsbezogen, d. h. umfasst Hausbesuche, die auch als Tandem durchgeführt werden können, Begleitung zu Therapeuten und Institutionen, wenn erforderlich, und Beratung in „Alltagskrisen“, die auch durch ausführliche Telefonate erfolgen kann. Entwicklungsneurologe und Pflegekraft sind in der Klinik verankert, die Psychologin in der regionalen interdisziplinären Frühförderstelle. Sie bilden ein Nachsorgeteam innerhalb der Kinderklinik, das für die jeweilige Familie kontinuierlich ansprechbar bleibt. Eine erste Evaluation, die sich u. a. auf die Dokumentationsbögen zu 61 Familienbetreuungen, ärztliche Krankenakten und 57 schriftliche Elternbefragungen stützte, wurde als Bericht zur wissenschaftlichen Projektbegleitung durch die Medizinische Abteilung der Arbeitsstelle Frühförderung Bayern im Jahre 2006 veröffentlicht (Höck, 2006). 3. Retrospektive Elternbefragung: Methoden und Stichprobe Um die Zufriedenheit der Eltern mit dem Nachsorgeprojekt „Harl.e.kin“ im weiteren Projektverlauf zu erfragen und seine Wirkung auf die von Müttern erlebte Belastung zu beurteilen, wurde eine zweite postalische Befragung durchgeführt, bei der Daten zur aktuellen Belastung zum Zeitpunkt der Befragung, zur retrospektiven Belastung im ersten Lebensjahr nach der Entlassung aus der Klinik sowie nun insbesondere zur differenziellen Einschätzung der ärztlichen, psychologischen und pflegerischen Unterstützung durch das Nachsorgeteam bei der Bewältigung der Alltags- und Familienbelastung erhoben werden sollten. Dabei sollten mögliche Zusammenhänge zwischen der aktuellen Belastung und Zufriedenheit mit dem Nachsorgekonzept einerseits und verschiedenen Merkmalen des Kindes (z. B. Geburtsgewicht, poststationäre Entwicklungsprobleme), der Familie (z. B. Familien- und Bildungsstatus der Eltern, kritische Lebensereignisse im ersten Lebensjahr des Kindes) sowie der Struktur des Hilfeangebots (ärztliche Entwicklungsbegleitung vs. kombinierte Entwicklungsbegleitung) exploriert werden. Die Befragung erfolgte retrospektiv, nachdem die betreuten Kinder mindestens das zweite Lebensjahr abgeschlossen hatten. Bei einer Teilgruppe der befragten Eltern konnte zusätzlich ein Vergleich mit einer Kontrollgruppe vorgenommen werden, die an einer anderen Klinik betreut wurden, welche derzeit noch über kein kombiniertes Nachsorgekonzept verfügt; über die Ergebnisse dieses Vergleichs wird an anderer Stelle berichtet (Gehrmann et al., 2010). Die Eltern wurden gebeten, einen umfangreichen Fragebogen zu beantworten. Dieser enthielt Fragen zum Familienhintergrund, zur kindlichen Risikobelastung, zu familiären Risikofaktoren, zum Therapiebedarf des Kindes, seinem gegenwärtigen Entwicklungsstand sowie zur Zufriedenheit mit den Nachsorgeangeboten (s. Tab. 3 - 5). Zur Beurteilung der aktuell erlebten Belastung wurde zudem ein standardisierter Fragebogen eingesetzt, der sich in Forschungsarbeiten zur Beurteilung des Belastungserlebens bei Eltern von Kindern mit unterschied- FI 3/ 2010 Belastungserleben von Müttern 103 lichen Entwicklungsrisiken bewährt hat (Parenting Stress Index - Short Form; PSI- SF; Abidin, 1995). Er erlaubt einen Vergleich mit der Verteilung der Selbsteinschätzungen aus einer repräsentativen US-Stichprobe, in der Eltern von Kindern befragt wurden, die keine Entwicklungskomplikationen aufwiesen; mehrere Studien haben gezeigt, dass diese Referenznormen im Wesentlichen auch für Eltern in Deutschland zugrunde gelegt werden können. 22 Items zur Einschätzung der Elternzufriedenheit wurden aus Fragebögen zusammengestellt, die ursprünglich für die Evaluation von Frühfördermaßnahmen entworfen wurden. Sie beziehen sich sowohl auf die erlebte Hilfe in konkreten Fragen des Alltags, der Förderung und der Erziehung des Kindes, auf die Stärkung der elterlichen Zuversicht in die Bewältigung der besonderen Belastung und die Mobilisierung sozialer Unterstützung als auch die Qualität der Zusammenarbeit zwischen Eltern und Fachkräften. Zusätzlich wurden den Eltern zwei offene Fragen gestellt, in denen sie gebeten wurden, mitzuteilen, was ihnen in der Beratung am wichtigsten war und was sie am meisten vermisst haben. Es wurden 100 Fragebögen an Eltern versandt, die vom „Harl.e.kin“-Nachsorgeteam mindestens ein Jahr lang betreut worden waren oder noch betreut wurden. Von diesen Fragebögen wurden 83 zurückgesandt; 12 der Fragebögen bezogen sich auf Kinder, die nicht im ersten Lebensjahr, sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt in die Beratung des Nachsorgeteams einbezogen worden waren. Sie wurden für die Datenauswertung nicht berücksichtigt. Somit beziehen sich die Ergebnisse der Befragung auf die Angaben von 71 Eltern, wobei davon ausgegangen werden kann, dass die Bögen überwiegend von den Müttern ausgefüllt wurden. Eine vergleichende Erhebung der väterlichen Einschätzung war im Rahmen dieser Evaluation nicht möglich. Das durchschnittliche Alter der Kinder zum Befragungszeitpunkt lag bei 35.3 Monaten (SD = 20.9). Es handelte sich um sehr unreif geborene Kinder mit einem mittleren Gestationsalter von 28.2 Wochen (SD = 3.3) und einem mittleren Geburtsgewicht von 1171.6 g (SD = 565.7). Im Durchschnitt wurden die Kinder 2.85 Monate (d. h. etwa 11 Wochen) in der Klinik behandelt. Das Entlassungsgewicht betrug 2695.1 g (drei Angaben fehlend). 67 Mütter leben in einer festen Partnerschaft, vier sind alleinerziehend. Aus den demografischen Angaben ergab sich ein durchschnittliches Alter der Mutter von 36.3 Jahren, des Vaters von 39.4 Jahren. 26 Kinder haben ein Geschwister, 12 zwei Geschwister, 8 Kinder drei Geschwister und ein Kind vier Geschwister. 32 Mütter geben als höchsten Bildungsabschluss ein Studium, 11 Mütter das Abitur, 16 Mütter die Mittlere Reife und 10 Mütter den Hauptschulabschluss an. - Auf die Frage zu kritischen Lebensereignissen, die die Familie im ersten Jahr nach Entlassung des Kindes belastet haben, berichten 16 Familien, in diesem Zeitraum umgezogen zu sein, sechs Familien berichten über finanzielle Probleme, vier bzw. fünf Mütter geben schwerwiegende psychosoziale Belastungen (Trennung, Arbeitslosigkeit, Tod eines Familienmitglieds oder Freundes, eigene behandlungsbedürftige Erkrankung) an. 4. Entwicklungsprobleme der Kinder Die Tab. 1 gibt einen Überblick über die Zahl der Kinder, bei denen verschiedene Therapie- und Fördermaßnahmen eingeleitet wurden, und die Dauer der Behandlung. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in Einzelfällen die Behandlung noch andauert. Bei 87.3 % wurde eine Physiotherapie eingeleitet. Bei etwa 15 % waren Ergotherapie, Frühförderung und/ oder logopädische Behandlung indiziert. Bei 46.5 % der Kinder wurden diese Therapiemaßnahmen (zumindest teilweise) zu Hause durchgeführt. 104 Armin Gehrmann et al. FI 3/ 2010 Die Abb. 1 zeigt, wie viele Kinder nach Einschätzung der Eltern zum Befragungszeitpunkt in verschiedenen Entwicklungsbereichen leicht auffällig oder deutlich beeinträchtigt sind. 34 % werden von den Eltern als in ihrer motorischen Entwicklung auffällig eingeschätzt (darunter 7 % als deutlich beeinträchtigt). Bei 22 % werden Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung angegeben (darunter bei 7 % deutlichen Grades), bei 16 % in der Spielentwicklung (darunter bei 6 % deutlichen Grades). Ernährungs- und Gewichtsprobleme bestehen noch bei 34 % (darunter bei 10 % in deutlicher Ausprägung), Auffälligkeiten im Schlafverhalten bei 20 % (darunter bei 6 % in deutlichem Maße). 5. Mütterliche Belastung im ersten Lebensjahr und in der Gegenwart Mit einer globalen Frage wurden die Mütter um ihre Einschätzung gebeten, wie stark sie sich im ersten Lebensjahr nach der Entlassung belastet fühlten. 33 % der Mütter beschreiben sich rückblickend als sehr belastet, weitere 30 % als belastet. Das aktuelle Belastungserleben wurde mit dem standardisierten Fragebogen „Parenting Stress Index - Short Form“ (PSI-SF) erhoben. Die Angaben der Eltern können dabei mit den Referenznormen einer US-Stichprobe verglichen werden, die von Müttern von Kindern ohne Entwicklungsprobleme stammen, und erlauben eine Differenzierung nach „psychischer Belastung der Mutter“, „Belastung in der alltäglichen Mutter-Kind-Interaktion“ und „Belastung durch schwierige Temperamentsmerkmale des Kindes“. Als hoch belastet gelten bei diesem Fragebogen alle Mütter, deren Angaben einem Prozentrangwert von 85 oder höher in der Normalstichprobe zugeordnet werden. Zahl % Krankengymnastik 62 87.3 Ergotherapie 10 14.1 Frühförderung 12 16.9 Logopädie 9 13.2 m sd Dauer der Krankengymnastik (in Mon.) 15.4 15.0 Dauer der Ergotherapie (in Mon.) 10.6 15.9 Dauer der Frühförderung (in Mon.) 13.0 18.3 Dauer der Logopädie (in Mon.) 8.6 22.7 Tab. 1: Art und Dauer von Therapie- und Fördermaßnahmen (n = 71) Abb. 1: Relativer Anteil (%) von Kindern mit leicht auffälliger bzw. deutlich beeinträchtigter Entwicklung in fünf Entwicklungsbereichen (n = 69 - 71) FI 3/ 2010 Belastungserleben von Müttern 105 Die Tab. 2 zeigt die Mittelwerte und Standardabweichungen in den Subskalen und im Gesamtwert sowie die Zahl der Mütter mit hoher subjektiver Belastung. Bei drei Fragebögen wurden die Fragen zur Belastung durch schwieriges Temperament des Kindes nicht ganz vollständig ausgefüllt, sodass bei dieser Skala nur 68 Bögen berücksichtigt wurden. Zum Befragungszeitpunkt erlebten sich knapp 15 % der Mütter als hoch belastet im Vergleich zu Müttern von Kindern vergleichbaren Alters, die keine Entwicklungsrisiken oder -störungen aufweisen (d. h. erreichen einen PSI-Gesamtwert, dem in der Referenzgruppe ein Prozentrang > 85) zugeordnet ist. D. h. der Anteil der Mütter dieser Gruppe, die sich als hoch belastet empfindet, ist nicht höher als in einer Referenzgruppe von Müttern mit unbeeinträchtigter Entwicklung. Es ergeben sich in Korrelationsanalysen keine systematischen Zusammenhänge zwischen dem Grad der aktuellen Belastung in den verschiedenen Skalen des „Parenting Stress Index“ und demografischen Variablen (Alter oder Bildungsgrad beider Elternteile, Geschwisterzahl oder Wohnungsgröße). Auch der Grad biologischer Risiken des Kindes korreliert nicht mit der jetzt aktuellen Belastung, d. h. die Mütter von Kindern mit niedrigerem Geburtsgewicht oder kürzerer Schwangerschaftsdauer geben - zum Befragungszeitpunkt heute - keine systematisch höhere Belastung an als Mütter von Kindern mit geringerem biologischen Risiko. Tendenziell - aber nicht signifikant - größer ist der Anteil von hoch belasteten Müttern unter denen, deren Kinder in ihrer Spielentwicklung verzögert sind (Chi 2 = 5.40; p = .07) und deren Ernährung und Gewichtszunahme unbefriedigend sind (Chi 2 = 5.51; p = .06). Signifikant größer ist er bei den Kindern, deren Schlafverhalten problematisch ist (Chi 2 = 13.09; p = .001). 6. Zufriedenheit mit dem Nachsorgeangebot Neben der Betreuung durch den niedergelassenen Kinderarzt haben alle befragten Mütter eine Beratung durch den Arzt in der neurologischen Frühgeborenen-Nachsorge erhalten. Bei 28 Kindern erfolgte die Beratung nur durch diesen Arzt. Eine zusätzliche Beratung durch die Psychologin haben 13 Mütter erhalten, in Kombination mit einer Beratung durch die Pflegekraft weitere 15 Mütter (insgesamt also 28). Eine zusätzliche Beratung nur durch die Pflegekraft haben 15 Mütter erhalten, ebenso viele in Kombination mit einer Beratung durch die Psychologin (insgesamt 30). Eine kombinierte Beratung durch Arzt, Psychologin und Pflegekraft erfolgte bei 15 Kindern. Die Angaben zur Häufigkeit der Nachsorgetermine schwanken sehr und sind (wie bei retrospektiven Befragungen nicht anders zu erwarten) unvollständig. Im Durchschnitt gaben die Mütter 7.6 Beratungstermine beim Arzt, 4.5 bei der Psychologin und 4.8 bei der Pflegefachkraft an, soweit dies zutraf. Kombinierte Beratungen von Arzt und Psychologin haben in den meisten Fällen 2 - 3-mal Verteilungsmaße Zahl der hoch belasteten mütter m sd Zahl % Psychische Belastung der Mutter 24.7 10.2 11 15.5 Belastung in Eltern-Kind-Interaktion 19.0 9.9 8 11.3 Belastung durch Temperament 24.5 11.2 12 17.6 Gesamtbelastung 68.1 28.7 10 14.7 Tab. 2: Subjektive Belastung zum Befragungszeitpunkt (PSI-SF; n = 68 - 71) 106 Armin Gehrmann et al. FI 3/ 2010 stattgefunden. Bei einem Teil der Kinder kam es aber zu wesentlich häufigeren Terminen. Die Zufriedenheit der Mütter mit den Beratungspartnern wurde in 22 Fragen differenziert erhoben. Die Zahl der Elternangaben zu den einzelnen Fragen schwankt etwas, je nachdem ob die Eltern sich erinnern, dass das jeweilige Thema in der Beratung behandelt wurde. Daher werden in Tab. 3 - 5 jeweils prozentuale Angaben genannt in Bezug auf die Zahl der Eltern, die sich zu diesem Beratungsaspekt geäußert haben. Aus Gründen der Übersichtlichkeit wird nur die jeweilige Prozentzahl der Eltern angegeben, die für den jeweiligen Satz die Antwortmöglichkeit „trifft zu“ oder „trifft sehr zu“ ankreuzten. Arzt in der Frühgeborenen-nachsorge Psychologe/ -in in der Frühgeborenennachsorge Pflegefachkraft in der Frühgeborenen-nachsorge 1. Ich habe mich bei Fragen der Ernährung gut unterstützt gefühlt. 79.4 80.0 86.4 2. Ich habe mich im Umgang mit Schlafproblemen meines Kindes gut unterstützt gefühlt. 58.8 56.3 63.1 3. Ich habe mich im Umgang mit dem besonderen Pflegebedarf meines Kindes gut unterstützt gefühlt. 80.0 80.0 76.4 4. Ich habe mich in der Sorge um Entwicklungsstörungen meines Kindes gut verstanden gefühlt. 87.3 83.9 69.2 5. Ich habe mich durch die fachliche Einschätzung des Entwicklungsverlaufs in meiner Zuversicht gestärkt gefühlt. 88.1 79.3 66.4 6. Ich habe mich bei der Auswahl von Therapien gut unterstützt gefühlt. 69.5 77.7 51.9 7. Ich habe mich gut beraten gefühlt, wie ich die Entwicklung meines Kindes zu Hause unterstützen kann. 80.9 81.5 72.7 8. Ich habe mich gut unterstützt gefühlt bei der Auswahl geeigneten Spielmaterials für mein Kind. 56.8 52.1 43.8 9. Ich habe mich gut unterstützt gefühlt, wie ich mit meinem Kind beim Essen, Schlafen oder im Alltag umgehen kann, wenn es Probleme gab. 67.3 66.6 68.2 10. Ich habe mich gut unterstützt gefühlt bei der Suche nach praktischer Unterstützung zur Bewältigung des Alltags. 39.0 60.0 50.0 11. Ich habe mich gut unterstützt gefühlt bei der Suche nach finanzieller Unterstützung für die Bewältigung des Alltags. 32.1 47.0 45.5 Tab. 3: Zufriedenheit mit der Unterstützung bei praktischen Fragen des Alltags FI 3/ 2010 Belastungserleben von Müttern 107 Zunächst ist festzuhalten, dass etwa 80 % der Eltern sich von allen Berufsgruppen gut unterstützt fühlen, wenn es um Fragen der Ernährung geht, des Umgangs mit dem besonderen Pflegebedarf des Kindes, in der Unterstützung der Entwicklung des Kindes zu Hause sowie hinsichtlich der Einschätzung des Entwicklungsverlaufs und der Zuversicht in den weiteren Verlauf. Bei anderen Items unterscheidet sich die Zufriedenheit in nachvollziehbarer Weise je nachdem, wie sie von der jeweiligen Berufsgruppe erwartet werden kann (z. B. werden entwicklungsbezogene Fragen zufriedenstellender von Arzt und Psychologin als von der Pflegekraft beantwortet). Etwa zwei Drittel der Eltern haben sich generell gut unterstützt gefühlt, wenn es Probleme beim Essen, Schlafen oder im Alltag gab. Geringer ist die Zufriedenheit der Mütter mit der Beratung zur Auswahl geeigneten Spielzeugs und bei der Suche nach finanzieller Unterstützung, ebenso bei der direkten Frage nach der Lösung von Schlafproblemen. Auch bei den Fragen zur Einschätzung der Wirkung der Beratung auf die Entwicklung des Kindes sowie der Familie im Allgemeinen wird eine überwiegend hohe Zufriedenheit deutlich. Weniger als 50 % der Mütter geben aber an, dass sie im Rahmen der Beratung einen guten Überblick über mögliche Hilfen im Versorgungssystem oder eine Unterstützung bei der Kontaktaufnahme zu anderen Eltern erhalten haben. Auch hinsichtlich der Qualität des Beratungskontakts geben die Mütter schließlich weit überwiegend positive Urteile ab. Dies gilt für alle Berufsgruppen gleichermaßen. Die Zufriedenheit spiegelt sich auch darin wieder, dass mehr als 80 % anderen Eltern wünschen würden, eine ähnliche Beratung zu erhalten, wie sie sie erhalten haben. Für die weitere Analyse wurden dann vier Teilgruppen gebildet je nach der Art der Beratung, die die Mütter erhalten haben: Beratung durch den Arzt allein, durch Arzt und Psychologin, durch Arzt und Pflegekraft und Arzt in der Frühgeborenen-nachsorge Psychologe/ -in in der Frühgeborenennachsorge Pflegefachkraft in der Frühgeborenen-nachsorge 12. Die Beratung hat insgesamt eine positive Auswirkung auf unsere Familie gehabt. 83.9 75.0 76.9 13. Die Beratung hat insgesamt eine positive Auswirkung auf die Entwicklung unseres Kindes gehabt. 72.4 71.4 76.0 14. Die Beratung hat eine positive Einstellung zu Fachleuten entstehen lassen. 77.1 67.9 74.0 15. Die Beratung hat uns eine gute Übersicht über mögliche Hilfen im Versorgungssystem gegeben. 46.8 52.2 47.4 16. Die Beratung hat unsere Zuversicht gestärkt, die besondere Aufgabe bewältigen zu können. 82.0 78.6 77.0 17. Die Beratung hat uns Wege gewiesen, wie wir Unterstützung durch Kontakt zu anderen Eltern finden können. 22.5 43.5 31.6 Tab. 4: Einschätzung der Wirkungen der Beratung 108 Armin Gehrmann et al. FI 3/ 2010 durch alle drei Fachkräfte. Die Abb. 2 gibt die aktuelle Belastungseinschätzung in diesen vier Gruppen wieder. Die Gruppenunterschiede im Belastungserleben und in den Einzelaspekten der Zufriedenheit mit dem Beratungsangebot wurden mittels einer Varianzanalyse auf Signifikanz geprüft. Unter den vier Gruppen geben die Mütter, die eine Beratung durch Arzt und Pflegekraft erhalten haben, eine aktuell höhere psychische Belastung an. Mütter, die eine Beratung durch Arzt und Psychologin oder durch alle drei Berufsgruppen erhalten haben, äußern aktuell eine geringere Belastung. Das Gleiche gilt für die Belastung in der alltäglichen Eltern-Kind-Interaktion. Hinsichtlich der erlebten Belastung durch schwierige Temperamentsmerkmale des Kindes ergeben Arzt in der Frühgeborenen-nachsorge Psychologe/ -in in der Frühgeborenennachsorge Pflegefachkraft in der Frühgeborenen-nachsorge 18. In der Beratung war genügend Zeit für unsere Fragen und Sorgen zur Verfügung. 89.4 87.1 84.4 19. Ich hatte den Eindruck, dass meinen Sorgen und Fragen wirklich zugehört wird. 88.1 87.1 88.2 20. Ich habe Vertrauen in die Beratungsperson entwickelt. 88.8 84.8 80.0 21. Es war gut, dass ich mich in der Beratung nicht immer wieder auf eine neue Person einstellen musste. 89.2 90.0 85.2 22. Ich würde anderen Eltern wünschen, eine ähnliche Beratung zu erhalten, wie ich sie erhalten habe. 92.6 81.3 87.1 Tab. 5: Art und Weise des Beratungskontakts Abb. 2: Aktuelle erlebte Belastung (PSI-Teilskalen) in Abhängigkeit von der erhaltenen Nachsorge (PSI-Gesamtwert; n = 67) FI 3/ 2010 Belastungserleben von Müttern 109 sich auch bei den Müttern hohe Werte, die von Arzt und Psychologin oder von allen drei Teampartnern begleitet wurden. Die Unterschiede in der Gesamtbelastung erreichen jedoch nicht statistische Signifikanz, sondern können nur als Tendenz angesehen werden (F = 2.00; p = .12). Generell die niedrigste Belastung berichten die Mütter, die nur vom Arzt allein betreut wurden. Diese Verteilung deutet darauf hin, dass Müttern mit höherer subjektiver Belastung eher - entsprechend ihrem Unterstützungsbedarf - ein kombiniertes Beratungsangebot gemacht wurde. Dies war offenbar nicht vom Grad des biologischen Risikos der Kinder abhängig, denn Schwangerschaftsdauer, Geburtsgewicht, Dauer des Klinikaufenthalts oder Häufigkeit von erneuten Klinikeinweisungen erwiesen sich ohne systematischen Einfluss auf die Art des Beratungsangebots. Bemerkenswert ist, dass sich die Mütter, die eine psychologische Beratung erhalten haben, hinsichtlich ihrer eigenen psychischen Belastung und ihrer Belastung in der Mutter-Kind- Interaktion günstiger beschreiben als die Mütter, die eine Beratung durch Arzt und Pflegekraft erhalten haben. Das weist darauf hin, dass eine psychologische Beratung belastungsreduzierend wirkt und effektiv dazu beiträgt, dass die Mütter die besonderen Herausforderungen des Alltags besser meistern (auch wenn sie mit schwierigen Temperamentsmerkmalen des Kindes konfrontiert sind), während eine Beratung durch Arzt und Pflegekraft ohne psychologische Beteiligung weniger erfolgreich bei der Belastungsreduzierung ist. Einige Äußerungen der Mütter zu den offenen Fragen, was sie am Nachsorgekonzept besonders geschätzt oder vermisst haben, illustrieren dies. Ich habe mich anfangs vollkommen überrannt gefühlt von der gesamten Situation. Für mich war es besonders wichtig, wieder ein Gefühl von Sicherheit zu bekommen und Zuversicht - die Möglichkeit, auch mit jemandem reden zu können über aktuelle Probleme. Mein Kind hat sich bisher sehr gut entwickelt und ich denke, dass die gute Betreuung (auch nach der Entlassung aus dem Krankenhaus) einen hohen Anteil daran hat. Sie hat mir Sicherheit gegeben, eine Anlaufstelle, wo ich mich bei Fragen/ Problemen hinwenden kann und kompetente Antwort erhalte. Die Gewissheit, dass bei Bedarf Fachleute erreichbar sind. Telefonisch oder auch durch das Nachsorgeprogramm, z. B. die wöchentliche Stunde bei einer ausgebildeten Fachkraft. Diese kam auch ins Haus, sehr hilfreich. Konnte sie doch vor Ort Tipps geben. Auch die Untersuchungen gaben mir eine seelische Unterstützung, natürlich auch die Gewissheit, dass er hier auf Herz und Nieren geprüft wurde. Und zwar von Fachleuten. Ich habe es als sehr angenehm empfunden, die Psychologin bei Fragen jederzeit anrufen zu können. Ihre regelmäßigen Besuche bei uns zu Hause haben Sicherheit gegeben, das Gefühl, dass nichts versäumt wird und auch kleine Veränderungen am Kind besprochen, angeschaut werden. Gut getan hat auch die Beratung zur gesamten Familiensituation, meiner eigenen Krankheitsgeschichte mit dem Aufzeigen von Hilfsangeboten. Die entwicklungsneurologischen Untersuchungen waren zusätzlich beruhigend, zu wissen, ob die Entwicklung normal verläuft bzw. zeitnah Hilfsangebote zu bekommen. Die Tabellen 3 - 5 geben jeweils die Zufriedenheit der Mütter mit der Beratung durch die einzelnen Berufsgruppen wieder. Wenn man die verschiedenen Kombinationen miteinander vergleicht, in denen Beratung im Einzelfall angeboten wurde, ergeben sich einige signifikante Unterschiede in den mütterlichen Einschätzungen. So wird die Beratung zu Fragen der Ernährung als weniger hilfreich empfunden, wenn sie nur von Arzt und Pflegekraft, 110 Armin Gehrmann et al. FI 3/ 2010 d. h. ohne Beteiligung der Psychologin durchgeführt wurde (Item 1; F = 4.85; p = .01). Das gilt auch für die Beratung zum Umgang mit dem besonderen Pflegebedarf im Allgemeinen (Item 3; F = 6.49; p < .01). Die Beratung in der Auswahl der Therapien wird als weniger hilfreich erlebt, wenn sie vom Arzt und der Pflegekraft durchgeführt wurde, als wenn der Arzt diese Beratung zusammen mit der Psychologin durchführt (Item 6; F = 3.50; p < .05). Die Beratung hat nach Einschätzung der Mütter weniger ihre Zuversicht in ihre Bewältigungskräfte gestärkt, wenn sie vom Arzt und der Pflegekraft durchgeführt wurde, als wenn der Arzt diese Beratung zusammen mit der Psychologin durchführt (Item 16; F = 7.76; p < .01). Schließlich schätzen die Mütter ihr Vertrauen in die Beratungsperson höher ein, wenn sie den Arzt in Zusammenarbeit mit der Psychologin erlebt haben, als wenn sie zusätzlich nur eine pflegerische Unterstützung erhalten haben (Item 20; F = 3.15; p < .05). 7. Diskussion und Schlussfolgerungen für die Praxis Berichtet werden die Ergebnisse einer Befragung von 71 Müttern ehemals sehr früh geborener Kinder im durchschnittlichen Alter von 2; 11 Jahren, die an einem interdisziplinären Nachsorgeprojekt teilnahmen. Zu diesem Zeitpunkt ist der relative Anteil von Müttern, die sich selbst als hoch belastet beschreiben, nicht höher als in der Normalpopulation. Das bestätigt die Ergebnisse aus prospektiven Langzeitstudien, die einen deutlichen Abfall der subjektiven Belastung gegenüber der Zeit während der stationären Versorgung der Kinder und in der ersten Zeit nach der Entlassung dokumentieren (Singer, 1996, 1999, 2003; Miles et al., 2007). In dieser Stichprobe fand sich auch kein systematischer Zusammenhang zum Grad des biologischen Risikos der Kinder, d. h. die Mütter von Kindern mit niedrigem Geburtsgewicht oder kürzerer Schwangerschaftsdauer gaben zu diesem Zeitpunkt keine stärkere Belastung mehr an als Mütter von Kindern mit geringerem Risiko. Bedeutsamer für das aktuelle Belastungsempfinden ist, ob das Kind eine Retardierung in der kognitiven Entwicklung (Spiel) zeigt oder Essbzw. Schlafverhaltensprobleme vorliegen. Welchen Anteil das Nachsorgeprojekt an der Belastungsreduzierung hatte, lässt sich ohne Vergleich mit einer Kontrollgruppe, die keine solche Unterstützung erhalten hat, nicht beurteilen. Die erhaltenen Hilfen im Nachsorgekonzept wurden jedoch von der weit überwiegenden Mehrheit der Mütter als sehr positiv eingeschätzt. Das gilt sowohl für die alltagsbezogenen Hilfen, die Antworten zu Entwicklungsfragen, die Wirkungen der Beratung insgesamt als auch die persönliche Qualität des Beratungskontakts. Eine deutlich geringere Zufriedenheit äußern die Eltern bei Fragen zum Umgang mit Schlafproblemen, bei der Auswahl von geeignetem Spielzeug, bei der Beratung zu finanzieller Unterstützung, zur Information über das Versorgungssystem im Allgemeinen und zu den Möglichkeiten der Kontaktaufnahme zu anderen Eltern. Aus den Daten lässt sich auch schließen, dass ein kombiniertes Beratungsangebot unter Beteiligung einer Psychologin erfolgreicher zur Belastungsreduzierung beiträgt als eine Beratung durch einen Arzt und eine Pflegekraft. Bei der Interpretation der Ergebnisse müssen einige Einschränkungen beachtet werden. Es handelte sich um eine retrospektive Befragung zur subjektiven Einschätzung der Belastung und zur Zufriedenheit mit dem Nachsorgekonzept. Obwohl die Rücklaufquote mit 87 % für eine postalische Befragung als hoch angesehen werden kann, kann nicht beurteilt werden, ob es systematische Unterschiede zwischen den Müttern gibt, die an der Befragung teilnahmen, und solchen, die sich dazu nicht entschließen konnten. Auch sprechen die Angaben zum Bildungsabschluss der Mütter und den Wohnverhältnissen sowie den kritischen Lebensereignissen, mit denen sie FI 3/ 2010 Belastungserleben von Müttern 111 im ersten Lebensjahr nach Entlassung konfrontiert waren, dafür, dass es sich um eine Stichprobe mit einer relativ geringen psychosozialen Gesamtbelastung handelt. Beides bedeutet, dass fraglich ist, inwieweit diese Ergebnisse - z. B. auf Familien mit multiplen Risikokonstellationen - verallgemeinert werden können. Für das konkrete Nachsorgeprojekt „Harl.e.kin“ lässt sich aus den Angaben der Mütter eine Bestätigung für den niedrigschwelligen, interdisziplinären und interinstitutionellen Ansatz entnehmen, bei dem Fachkräfte aus Klinik und Frühförderstelle gemeinsam eine Entwicklungsbegleitung für sehr früh geborene Kinder und ihre Eltern organisieren. Aus den Erfahrungen der Eltern lässt sich schließen, dass die Kombination ärztlicher, psychologischer und pflegerischer Nachsorge besonders dann indiziert ist, wenn Mütter hoch belastet sind, Fütter- und Essprobleme und/ oder Schlafprobleme den Alltag belasten und/ oder eine nachhaltige Entwicklungsbeeinträchtigung droht und eine Entscheidung über geeignete Therapieverfahren erfolgen soll. Verbesserungswürdig erscheinen die fachliche Beratung zu sozialrechtlichen Hilfen sowie die Unterstützung bei der Kontaktaufnahme zu anderen Eltern frühgeborener Kinder. Literatur Abidin, R. (1995): Parenting Stress Index. 3 rd ed. 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