Frühförderung interdisziplinär
1
0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2010.art15d
101
2010
294
Frühkindliche Bildung und Betreuung: Fakten, Widersprüche und offene Fragen
101
2010
Margit Stamm
Frühkindliche Bildungs- und Betreuungsprogramme sind in den letzten Jahren zu einer viel beachteten Thematik geworden. Unbestritten ist dabei, dass sie einen Beitrag zur so-zialen und kognitiven Entwicklung benachteiligter Kinder leisten können. Umstritten ist aber, ob dies für alle Kinder, also auch für die privilegiert aufwachsenden, gilt. Der vorliegende Beitrag greift die drei am kontroversesten diskutierten Themenbereiche heraus und versucht, folgende Fragen zu beantworten: (1) Welche Auswirkungen hat die Qualität familienexterner Bildungs- und Betreuungsprogramme auf die kindliche Entwicklung? (2) Ab wann und wie intensiv sollen junge Kinder außerfamiliär betreut und gefördert werden? (3) Welche Rolle spielt dabei der Angebotstyp (Kinderkrippe, Tagespflege, Verwandte)? Abschließend werden die berichteten Ergebnisse zusammengefasst und Konsequenzen für die Sozial- und Bildungspolitik formuliert.
1_029_2010_4_0001
Frühförderung interdisziplinär, 29. Jg., S. 147 - 153 (2010) DOI 10.2378/ fi2010.art15d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Frühkindliche Bildung und Betreuung: Fakten, Widersprüche und offene Fragen Margrit StaMM Zusammenfassung: Frühkindliche Bildungs- und Betreuungsprogramme sind in den letzten Jahren zu einer viel beachteten Thematik geworden. Unbestritten ist dabei, dass sie einen Beitrag zur sozialen und kognitiven Entwicklung benachteiligter Kinder leisten können. Umstritten ist aber, ob dies für alle Kinder, also auch für die privilegiert aufwachsenden, gilt. Der vorliegende Beitrag greift die drei am kontroversesten diskutierten Themenbereiche heraus und versucht, folgende Fragen zu beantworten: (1) Welche Auswirkungen hat die Qualität familienexterner Bildungs- und Betreuungsprogramme auf die kindliche Entwicklung? (2) Ab wann und wie intensiv sollen junge Kinder außerfamiliär betreut und gefördert werden? (3) Welche Rolle spielt dabei der Angebotstyp (Kinderkrippe, Tagespflege, Verwandte)? Abschließend werden die berichteten Ergebnisse zusammengefasst und Konsequenzen für die Sozial- und Bildungspolitik formuliert. Schlüsselwörter: Frühkindliche Bildung, familienexterne Betreuung, Qualität, Angebotstyp Early Education and Care: Facts, Antagonisms and Unresolved Questions Summary: Early Education and Care became to a very considered topic, discussed in science and society in the last years. Undisputed is that such offers can make a contribution for the social and cognitive development of disadvantaged children. Whether the effects concern all children, thus the privileged ones too, is however controversial. This article picks out the three most controversially discussed points - (1) the question, when and how intensively young children are to be cared (2) in different types by offers and (3) which effects their quality has. The converging findings are summarized and formulated beside some future directions and some consequences for the educational policy. Keywords: Early education and care; quality; non parental care; type of care 1. Fragestellung Heutzutage werden wir Zeuge grundlegender Veränderungen, die sich im Leben junger Kinder abspielen. Sichtbar werden sie unter anderem im Ausmaß der außerhäuslichen Erwerbsarbeit ihrer Mütter und der damit einhergehenden familienexternen Betreuung. Aktuell sind in der Schweiz 67 % der Frauen mit Kindern unter sechs Jahren berufstätig, in Deutschland 62 % und in Österreich 69 % (Bundesamt für Statistik, 2007; Bundeszentrale für politische Bildung 2008; Statistik Austria, 2008). Diese Tatsache steht im Widerspruch zum vorherrschenden normativen Bild, wonach die beste Betreuung und Förderung in der Familie und vor allem durch die Mutter geschehen soll. Insgesamt sind die Meinungen mehr als nur gespalten (Brandt/ von Bredow/ Theile, 2008; Kapella/ Rille-Pfeiffer, 2007). Neuerdings wird die Diskussion durch bildungs- und sozialpolitische Pläne angeheizt, die familienexternen Betreuungsangebote auszubauen und die kognitive Bildungsfunktion vorschulischer Einrichtungen zu verstärken (Schmidt et al., 2009; Stamm/ Edelmann, 2010). Befürchtet wird zum einen, die frühe Kindheit würde verschult, die Eltern entmündigt und die Kinder bekämen durch vermehrte familienexterne Betreuung und Förderung Verhaltensprobleme. Andererseits werden mit der Forderung nach „Bildung von Anfang an“ (Rabe-Kleberg, 2010) auch euphorische Hoffnungen verbunden, sie vermöge einen Beitrag zur Herstellung von Startchancengleichheit leisten. Original- und Übersichtsarbeiten 148 Margrit Stamm FI 4/ 2010 Kann die Wissenschaft diese unterschiedlichen Überzeugungen unterstützen oder widerlegen? Eine Antwort fällt nicht leicht, liegen doch sehr unterschiedliche Forschungsergebnisse vor. Je nachdem, ob man eher die Angebotsqualität, das Ausmaß der Nutzung oder den Angebotstyp ins Zentrum stellt, variieren sie beträchtlich. Hier setzt der Beitrag ein. Er versucht zunächst, drei Fragen zu beantworten und sie jeweils in Bezug auf die sozial-emotionale und die kognitive kindliche Entwicklung zu diskutieren: (1) Welche Rolle spielt die Qualität früher familienexterner Bildungs- und Betreuungsangebote? (2) Welche Auswirkungen haben der Zeitpunkt, in dem erstmals davon Gebrauch gemacht wird sowie die Intensität der Nutzung? (3) Welche Rolle spielt der Angebotstyp (Kinderkrippe, Tagespflege, Verwandte)? Schließlich arbeitet er die zentralen Befunde zusammenfassend heraus und formuliert einige Konsequenzen für die Sozial- und Bildungspolitik. 2. Welche Rolle spielt die Qualität familienexterner Bildungs- und Betreuungsangebote? Die Frage, welche Rolle familienexterne Bildungs- und Betreuungsangebote im Hinblick auf die kindliche Entwicklung spielen, beschäftigt die Forschung schon seit dreißig Jahren (Belsky/ Steinberg, 1978). Trotzdem liegen keine eindeutigen Antworten vor. Zwar weisen verschiedene, qualitativ hochstehende amerikanische Interventionsprojekte - wie etwa das ‚High/ Scope Perry Preschool Project‘, das ‚Carolina Abecedarian Project‘ und das ‚Chicago Child-Parent Center Program‘ (Schweinhart et al., 2005; Barnett, 2008) - langfristige und deutliche Effekte auf den späteren Schulerfolg, die Bildungslaufbahn und auch auf die soziale und gesundheitliche Entwicklung nach. Da diese Projekte jedoch ausschließlich auf benachteiligte Kinder ausgerichtet waren, dürfen ihre Befunde nicht generalisiert werden. Neuerdings liegen jedoch auch Ergebnisse aus Studien vor, welche die ganze Bandbreite kindlicher Aufwachsbedingungen in den Blick nehmen und deshalb generalisierende Aussagen zur sozial-emotionalen und kognitiven kindlichen Entwicklung erlauben. Dazu gehören die NICHD-Studie (National Institute of Child Health and Human Development; vgl. Belsky et al., 2007), die ECCE-Studie (European Child Care and Education, vgl. Tietze et al., 1998), die CQO-Studie (Cost, Quality and Outcome, vgl. Peisner- Feinberg et al., 2001) und die EPPE-Studie (The Effective Provision of Preschool Education; vgl. Sylva et al., 2004; 2008). Sie alle basieren auf einem Modell pädagogischer Qualität (Tietze/ Lee, 2009), das sich aus den Dimensionen Strukturqualität (Gruppengröße, Personal-Kind-Relation sowie Qualifikation des Ausbildungspersonals), Orientierungsqualität (das vorgegebene Curriculum, das ‚Bild vom Kind‘ der Erzieherinnen, Werteorientierungen) und Prozessqualität (soziale Beziehungen und Interaktionen innerhalb des pädagogischen Alltags) zusammensetzt. Sozial-emotionale Entwicklung: Die Strukturqualität ist insgesamt bedeutsamer als die Prozessqualität. Sowohl in der EPPEals auch der NICHD-Studie gingen kleine Gruppen, ein günstiger Betreuungsschlüssel und eine bessere Ausbildung des Fachpersonals mit geringeren Verhaltensproblemen einher (Belsky, 2001). Prozess- und Strukturqualität spielen jedoch eine nach Lebensalter unterschiedliche Rolle. So konnten Sammons et al. (2004) in der EPPE-Studie für sehr junge Kinder kaum Zusammenhänge zwischen Merkmalen der Prozessqualität und der Sozialentwicklung gefunden werden, wohl jedoch für dreijährige und ältere Kinder. Ferner erwiesen sich einzelne Merkmale der Strukturqualität entweder als bedeutsamer für ältere Kinder (wie etwa die Qualifikationen des Fachpersonals) oder für sehr junge Kinder (wie Gruppengröße und Betreuungsschlüssel). Ähnliche Befunde liefert die ECCE-Studie (Tietze/ Roßbach/ Grenner, 2005). FI 4/ 2010 Frühkindliche Bildung und Betreuung 149 Weshalb wirkt sich die Qualität von familienexternen Angeboten offenbar besonders positiv auf benachteiligte Kinder aus, währenddem sich bei anderen Kindern (aus höheren Einkommensschichten und/ oder hohem häuslichem Anregungsniveau) schwächere Effekte zeigen? Diese zentrale Frage beantwortete Barnett (1998) in Form einer einleuchtenden Hypothese. Sie besagt, dass das Ausmaß der Effekte solcher Angebote eine Funktion des Unterschieds zwischen ihrer Qualität und der Qualität der häuslichen Umgebung darstellt. Dieser Unterschied kann positiv oder negativ sein, sodass insgesamt drei Arten von Wechselwirkungen möglich sind: - Kompensationseffekte: Ist die Angebotsqualität besser als die des häuslichen Umfeldes, dann ergibt sich ein größerer positiver Unterschied und somit auch eine größere positive Wirksamkeit. Eine hohe Angebotsqualität kann somit negative Auswirkungen familiärer Einflussmerkmale kompensieren. - Verlorene Ressourcen: Haben Kinder zu Hause förderlichere Entwicklungsbedingungen als im außerhäuslichen Angebot, so kann dieser Qualitätsunterschied ihre Entwicklung bremsen und zu Verhaltensproblemen oder anderen Auffälligkeiten führen. - Doppeltes Risiko: Sind in der Familie viele Risikofaktoren vorhanden (z. B. geringe Anregungsqualität, psychische Probleme eines Elternteils, familiäre Armut), dann können sie durch eine schlechte Angebotsqualität noch verstärkt werden. Kognitive Entwicklung: Im kognitiven Bereich erweist sich die Prozessqualität als bedeutsame Variable. Ihre begünstigende Wirkung ist sowohl für sehr junge als auch für etwas ältere Kinder, für solche aus benachteiligten als auch aus eher privilegierten Familien nachgewiesen (Barnett, 1998; 2006). Aus deutschen Studien von Tietze (1998) und Roßbach et al. (2005) wissen wir, dass zwar höchstens ein Drittel der Kindergärten in Deutschland eine gute pädagogische Qualität aufweisen, Kinder in solchen Fällen jedoch in ihrer kognitiven Entwicklung einen Vorsprung von bis zu einem Jahr aufweisen können. Unklar ist, welchen Beitrag die Strukturqualität leistet. Während in der NICHD-Studie (NICHD Childcare Research Network/ Duncan, 2003) vor allem das Ausbildungsniveau des Fachpersonals ausschlaggebend für eine gute kognitive Entwicklung war, erwiesen sich im EPPE-Projekt (Sammons et al., 2004) und auch in der Studie von Caughy, DiPietro und Strobino (1994) Betreuungsschlüssel und Gruppengröße als zentrale Wirkgrößen. Insgesamt legen diese Befunde nahe, dass die Angebotsqualität eine nach Lebensalter unterschiedliche Rolle spielt. Deshalb ist anzunehmen, dass dies sowohl für den Zeitpunkt, ab dem ein Kind familienextern betreut und gefördert wird, als auch für die Intensität gilt. Das nächste Kapitel beleuchtet diese beiden Aspekte. 3. Welche Auswirkungen haben der Zeitpunkt des Beginns und die Intensität familienexterner Angebote? Ab wann soll ein Kind ein familienexternes Angebot nutzen, und wie viel Zeit soll es dort verbringen, damit es nicht Schaden nimmt, sondern optimal davon profitiert? Obwohl es sich bei dieser Frage um eine der umstrittensten überhaupt handelt, gibt es dazu nur wenige empirische Arbeiten. Sozial-emotionale Entwicklung: Für diesen Bereich sind die Ergebnisse widersprüchlich. Es liegen sowohl Studien vor, die bessere emotionale und soziale Kompetenzen früh und intensiv familienextern betreuter Kinder nachweisen (Lamb, 1998; Burchinal et al., 2000) als auch solche, die keine (Sylva et al., 2004) oder vielfältige Effekte eruieren konnten. So ließ sich in der NICHD-Studie von 150 Margrit Stamm FI 4/ 2010 Belsky et al. (2007) an nunmehr Zwölfjährigen nachweisen, was vorher schon bei den Vier-, nicht jedoch bei den Achtjährigen festgestellt worden war: Kinder, die besonders früh und intensiv familienextern betreut und gefördert worden waren, neigten später im Urteil der Lehrpersonen zu eher auffälligem Verhalten als die ausschließlich zu Hause betreuten Kinder. Die Autoren kamen deshalb zum Schluss, dass intensive, früh einsetzende familienexterne Bildungs- und Betreuungsangebote die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass Kleinkinder an ihre Mütter unsicher gebunden sind. Kognitive Entwicklung: Zeitpunkt und Intensität wirken sich auf die kognitive Leistungsfähigkeit minimal aus (Brooks-Gunn et al., 2002; NICHD Early Childcare Research Network/ Duncan, 2003). Allerdings erweist sich die soziale Herkunft als wichtige Variable. Sowohl in der Untersuchung von Loeb et al. (2004) als auch von Rumberger und Tran (2006) profitierten benachteiligt aufwachsende Kinder dann besonders, wenn sie zwischen zwei und drei Jahren erstmals familienextern betreut und gefördert worden waren - nicht früher und auch nicht später. In der EPPE- Studie (Sylva et al., 2004) brachte ein Beginn vor dem zweiten Lebensjahr keinen zusätzlichen Nutzen. Aus Deutschland liegen hierzu zwar vereinzelte Ergebnisse vor, doch basieren sie alle auf retrospektiv erhobenen Daten, weshalb sie wenig aussagekräftig für die hier formulierte Frage sind (z. B. Büchner/ Spiess, 2007; Bos et al., 2003). 4. Welche Rolle spielt der Angebotstyp? Die dritte, in diesem Aufsatz interessierende Frage stellt die Auswirkungen des Angebotstyps (Tagespflege, Kinderkrippen, familieninterne Fremdbetreuung [Babysitter, Verwandte, Au-Pairs]) in den Mittelpunkt. Vergleicht man diese Typen miteinander, so zeigen sich vielfältige Unterschiede. So verfügen Kinderkrippen im Vergleich zu den anderen Betreuungsangeboten über besser ausgebildetes Personal, gleichzeitig jedoch auch über ungünstigere Betreuungsschlüssel und schulähnlichere Tagesabläufe. Im Gegensatz dazu ermöglichen Tagespflegeangebote ausladende explorative Spielmöglichkeiten, ausgiebiges informelles und zwangloses Lernen, aber auch unkontrollierten Fernsehkonsum (Ahnert, 2005; Stamm/ Edelmann, 2010). Soziale Entwicklung: Tagespflegebetreuung erweist sich insgesamt günstiger als Krippenbetreuung. Dies belegt sowohl eine Reanalyse des National Longitudinal Survey von Blau (2000) als auch das EPPE-Projekt (Sammons et al. 2004) und die NICHD-Studie (Belsky et al. 2007). In allen diesen Studien zeigten in Kinderkrippen betreute Kinder größere Verhaltensauffälligkeiten als Kinder in Tagespflege. Zu berücksichtigen ist allerdings die Tatsache, dass die Effekte sehr klein und insgesamt nur eine kleine Gruppe von Kindern davon betroffen waren. Kognitive Entwicklung: In Bezug auf die kognitive Entwicklung zeigt sich eine leichte Überlegenheit der familienexternen Betreuung in Kinderkrippen. Dies war in der NICHD-Studie (Belsky et al., 2007), der Untersuchung von Blau (2009) und in der Studie von Loeb et al. (2004) der Fall. Eine Metaanalyse von Erel, Oberman und Yirmia (2000) bestätigt und differenziert diese Ergebnisse dahingehend, dass die Betreuungsqualität eine große Rolle spielte. Während es bei schlechter Krippenbetreuung durchaus vorkam, dass die Ergebnisse im Vergleich zur Betreuung durch Tagesfamilien negativ ausfielen, waren sie bei exzellenter Anregungsqualität besonders positiv. In der NICHD- Studie wurde zudem der Einfluss des Angebotstyps in bestimmten Lebensphasen auf die kognitive Entwicklung untersucht. Kinder, welche in den ersten Lebensjahren in Tages- FI 4/ 2010 Frühkindliche Bildung und Betreuung 151 pflege betreut worden waren, waren im dritten Lebensjahr gegenüber krippenbetreuten Kindern kognitiv und sprachlich fortgeschrittener. Die spätere Entwicklung konnte dann allerdings besser durch Krippenbetreuung vorausgesagt werden (NICHD Early Childcare Research Network/ Duncan, 2003). 5. Zusammenfassende Diskussion und Konsequenzen Der vorliegende Beitrag hat die drei in der aktuellen Debatte um familienexterne Bildungs- und Betreuungsangebote am kontroversesten diskutierten Themen - die Fragen nach den Auswirkungen der Qualität familienexterner Betreuung, nach Zeitpunkt und Intensität sowie nach der Rolle des Angebotstyps - herausgegriffen und versucht, diese im Hinblick auf die sozial-emotionale und kognitive Entwicklung zu beantworten. Nachfolgend sollen diese Erkenntnisse zusammenfassend diskutiert und einige sozial- und bildungspolitische Konsequenzen formuliert werden. Die erste Frage nach der Rolle der Qualität lässt sich so beantworten: Prozessqualität und Strukturqualität erklären die kognitive, sprachliche und soziale kindliche Entwicklung in je unterschiedlicher Art und Weise, weil sie eine nach Lebensalter unterschiedliche Rolle spielen. Sicher scheint, dass für die soziale Entwicklung jüngerer Kinder die Strukturqualität (etwa der Betreuungsschlüssel) eine große Rolle spielt, währendem es für dreijährige und ältere Kinder die Prozessqualität ist. Im Hinblick auf die kognitive Entwicklung scheint hingegen die Prozessqualität insgesamt - sowohl für jüngere als auch für ältere Kinder - bedeutsamer zu sein. Wie Erzieherinnen sich auf das Kind, seine Fähigkeiten und Bedürfnisse einstellen und die Interaktionen mit ihm gestalten, scheint somit das Herzstück der pädagogischen Qualität familienexterner Betreuung auszumachen. Die zweite Frage - zur Rolle von Zeitpunkt des Beginns und der Intensität familienexterner Betreuung - lässt folgende Antwort zu: Eine familienexterne Betreuung wirkt sich ab drei Jahren positiv auf die kognitive Entwicklung aus. Benachteiligt aufwachsende Kinder profitieren jedoch besonders davon, wenn sie solche Angebote bereits früher besuchen können. In Hinblick auf die soziale Entwicklung muss bei einem frühen und intensiven Einsatz von in der Tendenz eher negativen Auswirkungen ausgegangen werden, die sich in verstärkten Verhaltensauffälligkeiten äußern können. Weil sich jedoch die Beziehungen zwischen der Intensität der Fremdbetreuung und dem sozial-emotionalen Bereich mit dem Alter verändern, können problematische Verhaltensweisen auch lediglich temporäre Erscheinungen darstellen und auf bestimmte Transitionsphasen (wie Kindergarten- oder Schuleintritt) beschränkt sein. Auch die dritte Frage zur Rolle des Angebotstyps ist nicht eindeutig zu beantworten. Krippenbetreute Kinder unterscheiden sich zwar in ihrem Sozialverhalten im Allgemeinen nicht von Kindern in Tagespflege. Dies gilt jedoch nicht für bereits sehr früh krippenbetreute Kinder. Frühe Formen der Tagespflege scheinen für die sozial-emotionale und die kognitive Entwicklung etwas förderlicher zu sein als Krippenbetreuung. Ähnliches gilt für die kognitive Entwicklung. Gemäß Ahnert (2005) ist eine Betreuungsstruktur, die mit Tagespflegeangeboten startet, später jedoch von Krippenbetreuung abgelöst wird, besonders förderlich. Tagespflegeangebote ermöglichen über dyadisch orientierte Interaktionen mit wenigen Betreuungspersonen den Aufbau der notwendigen Sicherheitsbasis und unterstützen dadurch die gesunde emotionale Entwicklung des Kindes. Welche Relevanz haben diese Ergebnisse für die Praxis? Zunächst einmal liefern sie mit aller Deutlichkeit den Beweis für die große Bedeutung des Zusammenhangs zwischen der kindlichen Entwicklung und der Angebotsqualität. Ihr und ihrer Optimierung muss deshalb 152 Margrit Stamm FI 4/ 2010 erste Bedeutung zukommen. Wie eine solche Qualitätsverbesserung vonstatten gehen kann, ist eine der großen zukünftigen Herausforderungen. Hierzu liegen bereits ausgereifte Grundlagen vor, die allerdings gerade im Hinblick auf die in diesem Beitrag herausgeschälten Befunde differenziert werden müssten. Es handelt sich um Instrumente wie die Kindergarteneinschätzskala KES-R (Tietze/ Schuster/ Grenner & Roßbach et al., 2005), die Krippenskala KRIPS-R (Bolz et al., 2005), die Tagespflegeskala (TAS) von Tietze, Knobeloch und Gerszonowicz (2005) oder die Hort- und Ganztagsangebote-Skala (HUGS) zur Feststellung und Unterstützung pädagogischer Qualität in Horten und außerunterrichtlichen Angeboten (Tietze et al., 2005). Die große Bedeutung der Angebotsqualität ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite bildet die in diesem Beitrag herausgearbeitete Tatsache, dass es das junge Kind und das System familienexterner Bildung und Betreuung nicht gibt. Deshalb ist immer das individuelle Kind, sein Entwicklungsalter, seine individuellen Bedürfnisse sowie seine soziale Herkunft in den Blick zu nehmen. Zwar stellen familienexterne Bildungs- und Betreuungsprogramme eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung unserer Demokratie dar, aus der sich der Staat nicht heraushalten kann. Sie können jedoch nie für alle Kinder gleichermaßen günstig sein. Dies gilt in erster Linie für die Frage, wie, wann und wie intensiv junge Kinder fremdbetreut werden sollen. Eine generalisierende Antwort lässt die Forschung (noch) nicht zu, auch wenn die Sozial- und Bildungspolitik eine solche einfordert. Literatur Ahnert, L. (2005): Entwicklungspsychologische Erfordernisse bei der Gestaltung von Betreuungs- und Bildungsangeboten im Kleinkind- und Vorschulalter. In Sachverständigenkommission Zwölfter Kinder- und Jugendbericht (Hrsg.), Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern unter sechs Jahren (S. 9 - 54): Deutsches Jugendinstitut, München Barnett, W. S. (1998): Long-term effects on cognitive development and school success. In W. S. Barnett/ S. S. Boocock (Eds.), Early care and education for children in poverty. Promises, programs, and long-term results (pp. 11 - 44): State University of New York Press, Albany Barnett, W. S. (2006): What is the value of early childhood education for our society: maximizing returns from prekindergarten education? In J. E. van Kuyk (Ed.), The quality of early childhood education. Report of a scientific conference (57 - 72): Cito, Arnhem Barnett, W. S. (2008): Preschool education and its lasting effects: Research and policy implications (EPRU Policy Brief). Education and the Public Interest Center & Education and Policy Research Unit, Boulder and Tempe Belsky, J. (2001): Developmental Risks (Still) Associated with Early Child Care. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 42, 845 - 859 Belsky, J./ Steinberg, L. D. (1978): The effects of day care: A critical review. Child Development, 49, 929 - 949 Belsky, J./ Vandell, D. L./ Burchinal, M./ Clarke-Stewart, K. A/ McCartney, K./ Owen, M. T (2007): Are there long-term effects of early child care? Child Development, 78, 681 - 701 Blau, D. M. (2000): The production of quality in childcare centers: another look. Applied Developmental Science, 4, 136 - 147 Bolz, M., Grenner, K., Schlecht, D., Tietze, W. & Wellner, B. (2005): Krippen-Skala (KRIPS-R) Feststellung und Unterstützung pädagogischer Qualität in Krippen. Berlin: Scriptor Brandt, A./ von Bredow, R./ Theile, M. (2008): Glaubenskrieg ums Kind. Der Spiegel, 9, 40 - 47 Brooks-Gunn, J./ Han, W./ Waldfogel, J. (2002): Maternal employment and child cognitive outcomes in the first three years of life: The NICHD study of early child care. Child Development, 73, 1052 - 1072 Büchner, C./ Spiess, C. (2007): Die Dauer vorschulischer Betreuungs- und Bildungserfahrungen. Ergebnisse auf der Basis von Paneldaten. German Institute for Economic Resarch, Berlin Bundesamt für Statistik (2007): Wichtigste Ergebnisse der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung. Bundesamt für Statistik, Bern/ Neuenburg Bundeszentrale für politische Bildung (2008): Erwerbstätigkeit von Eltern nach Zahl der Kinder. http: / / www.bpb.de/ wissen/ ZD5X8F"0,Erwerbst%E4tigen quoten_von_Eltern.html Burchinal, M. R./ Peisner-Feinberg, E./ Bryant, D. M./ Clifford, R. (2000): Children’s social and cognitive development and childcare quality: Testing for differential associations related to poverty, gender, or ethnicity. Applied Developmental Science, 4, 149 - 165 Caughy, M. O./ DiPietro, J. A./ Strobino, D. M. (1994): Day-care participation as a protective factor in the cognitive development of low-income children. Child Development, 65, 457 - 471 Erel, O./ Oberman, Y./ Yirmiya, N. (2000): Maternal versus nonmaternal care and seven domains of children’s development. Psychological Bulletin, 126, 727 - 747 European Child Care and Education (ECCE)-Study FI 4/ 2010 Frühkindliche Bildung und Betreuung 153 Group (1998): School-age assessment of child development: Long-term impact of pre-school experiences on school success, and family-school relationships. Report written by W. Tietze, J. Hundertmark-Mayser and H.-G. Roßbach. Report submitted to: European Union DG XII: Science, Research and Development. RTD Action: Targeted Socio-Economic Research. EU, Brüssel Kapella, O./ Rille-Pfeiffer, C. (2007): Einstellungen und Werthaltungen zu Themen der Vereinbarkeit von Familie und Erwerb. Deskriptive Ergebnisse einer Einstellungs- und Wertestudie zu Mutter- und Vaterrolle, Kinderbetreuung und Erwerbstätigkeit der Frau. ÖIF Working Paper Nr. 66. (PDF-Datei, 64 Seiten, 540 kB) Lamb, M. E. (1998): Nonparental child care: Context, quality, correlates, and consequences. In W. Damon, I. Sigl/ K. A. Renninger (Eds.), Handbook of child psychology (pp. 73 - 133): Wiley, New York Loeb, S./ Bridges, M./ Bassok, D./ Fuller, B./ Rumberger, R. (2004): How much is too much? The influence of preschool centers on children’s social and cognitive development. Working Paper 11812. Economics of Education Review, 26 (1), 52 - 66 NICHD Early Child Care Research Network (1998): Relations between family predictors and child outcomes: Are they weaker for children in child care? Developmental Psychology, 34, 1119 - 1128 NICHD Early Childcare Research Network/ G. J. Duncan (2003): Modeling the impacts of child care quality on children's preschool cognitive development. Child Development, 74 (5), 1454 - 1475 Peisner-Feinberg, E. S./ Burchinal, M. R./ Clifford, R. M./ Culkin, M. L./ Howes, C./ Kagan, S. L./ Yazejian, N. (2001): The relation of preschool child-care quality to children's cognitive and social developmental trajectories through second grade. Child Development, 72, 1534 - 1553 Rabe-Kleberg, U. (2010): Bildungsarmut von Anfang an? Über den Beitrag des Kindergartens im Prozess der reproduktion sozialer Ungleichheit. In H.-H. Krüger et al. (Hrsg.), Bildungsungleichheit revisited. Bildung und soziale Ungleichheit vom Kindergarten bis zur Hochschule (S. 45 - 56). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften Roßbach, H.-G. (2005): Effekte qualitativ guter Betreuung, Bildung und Erziehung im frühen Kindesalter auf Kinder und ihre Familien. In Sachverständigenkommission Zwölfter Kinder- und Jugendbericht (Hrsg.), Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern unter sechs Jahren (55 - 174): Verlag deutsches Jugendinstitut, München Rumberger, R. W./ Tran, L. (2006): Preschool Participation and the cognitive and social development of language minority students. University of California, Santa Barbara Sammons, P., Elliot, K., Sylva, K., Melhuish, M., Siraj- Blatchford, I./ Taggart, B. (2004): The impact of preschool on young children’s cognitive attainments at entry to reception. British Education Research Journal, 30 (5), 691 - 712 Schmidt, T., Roßbach, H.-G. & Sechtig, J. (2009): Bildung in frühpädagogischen Institutionen. In Rudolf Tippelt & B. Schmidt (Hrsg.), Handbuch Bildungsforschung (S. 351 - 363): VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden Schweinhart, L. J./ Montie, J./ Xiang, Z./ Barnett, W. S./ Belfield, C. R./ Nores, M. (2005): Lifetime effects: The High/ Scope Perry Preschool Study through age 40. High/ Scope Press, Ypsilanti/ MI Stamm, M./ Edelmann, D. (2010): Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung: Was kann die Schweiz lernen? Chur/ Zürich: Rüegger. Statistik Austria (2008): Familien- und Haushaltstatistik. Ergebnisse des Mikrozensus. Verlag Österreich, Wien Sylva, K./ Melhuish, E. C./ Sammons, P./ Siraj-Blatchford, I./ Taggart, B. (2004): The effective provision of preschool education (EPPE) project. Zu den Auswirkungen vorschulischer Einrichtungen in England. In G. Faust, M. Götz, H. Hacker/ H.-G. Roßbach (Hrsg.), Anschlussfähige Bildungsprozesse im Elementar- und Primarbereich (S. 154 - 167): Klinkhardt, Bad Heilbrunn Sylva, K., Melhuish, E. C., Sammons, P., Siraj-Blatchford, I. & Taggart, B. (2008): Effective pre-school and primary education 3 - 11 project. Final report from the primary phase: Pre-school, school and family influences on children’s development during key stage 2 Research Report No DCSF-RR061. Institute of Education, University of London Tietze, W. (Hrsg.) (2007): Pädagogische Qualität entwickeln. Praktische Anleitung und Methodenbausteine für Bildung, Betreuung und Erziehung in Tageseinrichtungen für Kinder. Cornelsen, Mannheim Tietze, W. (Hrsg.) (1998): Wie gut sind unsere Kindergärten? Eine Untersuchung zur pädagogischen Qualität in deutschen Kindergärten. Luchterhand, Neuwied Tietze, W./ Roßbach, H.-G./ Grenner, K. (2005): Kinder von 4 bis 8 Jahren. Zur Qualität der Erziehung und Bildung im Kindergarten, Grundschule und Familie. Beltz, Weinheim Tietze, W., Knobeloch, J. & Gerszonowicz, E. (2005): Tagespflege-Skala (TAS). Feststellung und Unterstützung pädagogischer Qualität in der Kindertagespflege. Weinheim: Beltz. Tietze, W., Roßbach, H.-G., Stendel, M. & Wellner, B. (2005): Hort/ Ganztagsangebote-Skala (HUGS). Feststellung und Unterstützung pädagogischer Qualität in Horten und außerunterrichtlichen Angeboten. Weinheim: Beltz Tietze, W./ Schuster, K./ Grenner, M./ Roßbach, H.-G. (2005): Kindergarten-Skala (KES-R). Feststellung und Unterstützung pädagogischer Qualität in Kindergärten. Berlin: Cornelsen. Vandell, D. L./ Ramanan, J. (1992): Effects of early and recent maternal employment on children from lowincome families. Child Development, 63, 938 - 949 Prof. Margrit Stamm Universität Fribourg Departement Erziehungswissenschaften Rue Faucigny 2, CH-1700 Fribourg E-Mail: margrit.stamm@unifr.ch
