Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2010.art18d
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Fetales Alkoholsyndrom und Alkoholspektrumstörung - eine zu wenig beachtete Entwicklungsstörung in der Frühförderung
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Klaus Sarimski
Melissa Banse
Das klinische Bild des Fetalen Alkoholsyndroms (FAS) und der Fetalen Alkoholspektrumstörung (FASD) haben im Bereich der Frühförderung noch wenig Aufmerksamkeit gefunden. Viele Kinder mit diesem Störungsbild wachsen in Pflegefamilien auf. Es werden aktuelle Forschungsergebnisse zu Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern mit diesem Störungsbild mitgeteilt, die für die Frühförderung relevant sind. Eine explorative Befragung von Pflegeeltern zeigt, dass es sich um eine Gruppe von Kindern mit hohem Förderbedarf und ausgeprägten Verhaltensauffälligkeiten handelt. Es werden Empfehlungen für eine Verbesserung der Versorgung in der Frühförderung formuliert.
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Frühförderung interdisziplinär, 29. Jg., S. 172 - 182 (2010) DOI 10.2378/ fi2010.art18d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Fetales Alkoholsyndrom und Alkoholspektrumstörung - eine zu wenig beachtete Entwicklungsstörung in der Frühförderung Klaus sarimsKi, melissa Banse Zusammenfassung: Das klinische Bild des Fetalen Alkoholsyndroms (FAS) und der Fetalen Alkoholspektrumstörung (FASD) haben im Bereich der Frühförderung noch wenig Aufmerksamkeit gefunden. Viele Kinder mit diesem Störungsbild wachsen in Pflegefamilien auf. Es werden aktuelle Forschungsergebnisse zu Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern mit diesem Störungsbild mitgeteilt, die für die Frühförderung relevant sind. Eine explorative Befragung von Pflegeeltern zeigt, dass es sich um eine Gruppe von Kindern mit hohem Förderbedarf und ausgeprägten Verhaltensauffälligkeiten handelt. Es werden Empfehlungen für eine Verbesserung der Versorgung in der Frühförderung formuliert. Schlüsselwörter: Fetales Alkoholsyndrom, Alkoholspektrumstörung, Entwicklungsstörungen, Verhaltensauffälligkeiten, Pflegefamilien Fetal Alcohol Syndrome and Fetal Alcohol Spectrum Disorders - A Challenge for Early Intervention Services Summary: The importance of the clinical picture of fetal alcohol syndrome or fetal alcohol spectrum disorders is rarely recognized in early intervention services. Many children with the full FAS grow up in foster families. We present current results of studies on the developmental and behavioural problems which are characteristic for this group of children. A postal investigation reached a small group of foster parents who reported a considerable need of developmental and behavioural support. We give some recommendations which might improve the support they receive from early intervention services. Keywords: Fetal alcohol syndrome, fetal alcohol spectrum disorders, developmental problems, behavioral problems, foster families Fetales Alkoholsyndrom FAS und Fetale Alkoholspektrumstörung FASD Mütterlicher Alkoholkonsum während der Schwangerschaft kann negative Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes haben. Eine solche pränatale Alkoholexposition kann aus Unkenntnis über das Bestehen einer Schwangerschaft oder aus Unkenntnis über die potenziell schädigende Wirkung bereits geringer Mengen Alkohol geschehen. Die Folgen können unterschiedlich schwerwiegend sein. Dabei wird das klinische Bild des Fetalen Alkoholsyndroms (FAS) unterschieden von leichteren Formen, die unter dem Sammelbegriff der Fetalen Alkoholspektrumstörung (FASD) - oder der Bezeichnung „Alkoholbedingte Effekte auf die Entwicklung“ (in der englischen Literatur abgekürzt als ARND, d. h. „alcohol-related neurodevelopmental disorders“) zusammengefasst werden. Alkohol passiert im pränatalen Stadium ungehindert die Plazenta-Schranke, d. h. der Blutalkoholgehalt des werdenden Kindes entspricht jeweils dem momentanen Alkoholgehalt im Blutkreislauf der Mutter. Seine schädigende Wirkung kann zu einer Kombination von Fehlbildungen und Entwicklungsstörungen führen, die zu den diagnostischen Kriterien des Fetalen Alkoholsyndroms zusammengefasst werden: 1) charakteristische Gesichtsveränderungen (Dysmorphien), zu denen u. a. Mikrozephalie, weiter Augenabstand, enge Lidspalten, ein fehlendes oder flaches Philtrum und auffallend schmales Lippenrot gehören; 2) Wachstumsstörungen FI 4/ 2010 Fetales Alkoholsyndrom und Alkoholspektrumstörung 173 (Größen- und Gewichtsentwicklung unter der 10. Perzentile); 3) neurologische Auffälligkeiten, mentale Störungen und Verhaltensauffälligkeiten (Steinhausen, 2000). Die schädigende Wirkung von Alkohol in der Schwangerschaft als Ursache für die Entwicklungsstörungen ist sowohl durch wissenschaftliche Untersuchungen der Hirnstrukturen mittels bildgebender Verfahren beim Menschen wie auch im Tiermodell nachgewiesen. Die Diagnose wird gestellt, wenn alle Symptome vorhanden sind oder wenn zwar nicht alle Symptome nachweisbar sind, aber anamnestisch eindeutige Belege für eine pränatale Alkoholexposition vorliegen. Alkoholbedingte Effekte auf die Entwicklung lassen sich aber auch bei Kindern feststellen, bei denen die körperlichen Veränderungen nicht eindeutig erkennbar sind. Der Schweregrad des Fetalen Alkoholsyndroms wird nach einem Bewertungsschema der Symptome, das Majewski (1993) vorgelegt hat, in eine leichte, mittlere oder schwere Form eingeschätzt. In der neueren Literatur wird dazu auch ein vierdimensionales Klassifikationsschema von Astley & Clarren (2004) verwendet. Die Diagnose eines FAS oder alkoholbedingter Entwicklungsstörungen ist schwierig, da sie in erster Linie auf einer subjektiven Einschätzung der Dysmorphien beruhen. Diese sind allerdings bei jüngeren Kindern ausgeprägter und damit leichter zu erkennen als im Jugendalter, sodass eine Diagnosestellung im frühen Kindesalter durchaus möglich ist. Die neuropsychologischen Entwicklungsmerkmale, die ebenfalls zur Diagnosestellung beitragen können, sind bei leichteren Formen allerdings erst bei komplexeren Anforderungen sichtbar, wie sie im Schulalter gestellt werden, und die Verhaltensauffälligkeiten sind nicht spezifisch, sondern können auch bei anderen Störungsbildern auftreten. So bestehen z. B. Ähnlichkeiten zur Symptomatik eines Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätssyndroms (ADHS) oder einer Bindungsstörung, sodass die Gefahr groß ist, dass Kinder - zumindest zunächst - fehldiagnostiziert werden. Eine korrekte Differenzialdiagnose ist aber für das Verständnis der Auffälligkeiten der Kinder, die Interventionsplanung und die Einschätzung möglicher Interventionserfolge außerordentlich wichtig. Umso bedauerlicher ist es, dass viele Kinder erst im Schulalter diagnostiziert werden. So berichten Carmichael Olson et al. (2007) z. B. aus einer spezialisierten Diagnoseklinik in Washington, dass unter den 781 vorgestellten Kindern nur ein Drittel im Alter von unter vier Jahren zur differenzialdiagnostischen Abklärung angemeldet wurden, d.h. bei zwei Dritteln der Kinder wurden die Möglichkeiten einer spezifischen Frühförderung und Beratung versäumt. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass die Rate der in Deutschland früh diagnostizierten Kinder mit FAS oder FASD höher ist als in den USA. Ein zuverlässiger biologischer „Marker“ als Beweis für das Vorliegen eines FAS ist nicht verfügbar, sodass die Diagnose im Einzelfall aus der Symptomkonstellation gestellt werden muss. In diesem Zusammenhang ist wichtig zu wissen, dass die übliche Frage nach Alkoholkonsum in der Schwangerschaft in der kinderärztlichen Anamnese keine verlässlichen Hinweise auf die Diagnose ergibt. Erstens kann nicht mit zuverlässigen rückblickenden Angaben der Mütter gerechnet werden, insbesondere wenn sie aus Sorge um ein mögliches eigenes Verschulden der Entwicklungsprobleme ihres Kindes durch pränatale Alkoholexposition verständlicherweise zur Verdrängung neigen. Zweitens kann keine eindeutige Schwellenangabe für das Schädigungsrisiko gemacht werden, d. h. es kann nicht nur bei schwerem, chronischem Alkoholabusus zu einer Schädigung kommen, sondern auch bei geringeren Trinkmengen oder einem episodischen Trinkmuster („binge drinking“). So ließen sich z. B. bereits bei einem täglichen Konsum von etwa 1 ½ Flaschen Bier oder 3 ½ Gläser Wein zu je 1 dl alkoholbedingte Effekte auf die Intelligenz- 174 Klaus Sarimski, Melissa Banse FI 4/ 2010 leistung und Verhaltensauffälligkeiten nachweisen (Streissguth et al., 1990; Sood et al., 2001). Drittens kann auch aus dem Wissen eines chronischen Alkoholkonsums in der Schwangerschaft kein eindeutiger Rückschluss gezogen werden, da „nur“ etwa 30 % der Kinder bei chronischer Alkoholexposition eine FAS oder eine FASD entwickeln, sich die übrigen aber durchaus unauffällig entwickeln können. Diese Befunde werden mit bislang nicht vollständig aufgeklärten Unterschieden in der individuellen Toleranz für Alkoholeffekte erklärt. Erschwerend für die Beurteilung der Problematik kommt hinzu, dass ein Teil der Kinder mit Auffälligkeiten, die einen Diagnoseverdacht nahelegen könnten, bei ihren biologischen Eltern und damit nicht selten in einer Umgebung mit multiplen Risiken (psychiatrische Erkrankung eines Elternteils, psychosoziale Deprivation, konfliktreiche Elternbeziehungen u. Ä.) für die Entwicklung aufwachsen, deren Einfluss im Einzelfall nicht eindeutig von alkoholbedingten Effekten unterschieden werden kann. Ein beträchtlicher Teil der Kinder, die zur diagnostischen Klärung vorgestellt werden, sind allerdings Kinder, die zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung in eine Pflegefamilie vermittelt wurden. Auch das erschwert die diagnostische Beurteilung, da in diesen Fällen die Informationen über die pränatale und postnatale Anamnese häufig unvollständig sind oder die Auffälligkeiten auch als Folge von frühen Traumatisierungen durch dysfunktionale Eltern-Kind-Beziehungen, Trennungserfahrungen und die Schwierigkeiten des Beziehungsaufbaus zu neuen Bezugspersonen interpretiert werden können. Gerade im letzten Fall ist die Klärung der Ursache der Entwicklungsprobleme aber unerlässlich, damit die Pflege- oder Adoptiveltern ihr Erziehungsverhalten und ihre Erwartungen an die zukünftige Entwicklung auf die Besonderheiten und Dauerhaftigkeit der Entwicklungsstörung bei Kindern mit FAS abstimmen können. Diese Schwierigkeiten der Diagnosestellung machen verständlich, dass es schwierig ist, eindeutige Prävalenzangaben zur Häufigkeit eines FAS und alkoholbedingter Effekte auf die Entwicklung zu machen. Aus umfangreichen Studien in verschiedenen Ländern lässt sich aber schließen, dass auf 1000 Geburten mit 1 - 3 Kindern mit einem FAS gerechnet werden muss (d. h. 0.1 - 0.3 %). Dies mag auf den ersten Blick eine niedrige Zahl sein, bedeutet aber, dass das Störungsbild mindestens genauso häufig auftritt wie das Down-Syndrom oder eine Autismus-Spektrum-Störung. In Deutschland wird geschätzt, dass jährlich 2200 Kinder mit einem FAS zur Welt kommen (Steinhausen, 2000). Nationale Erhebungen in USA sprechen dafür, dass 10 % der Mütter aller Neugeborenen in der Schwangerschaft Alkohol konsumiert haben und ihre Kinder somit ein erhöhtes Risiko für alkoholbedingte Entwicklungseffekte tragen. Auf Deutschland übertragen, handelte es sich somit um mehr als 60.000 Neugeborene pro Jahr mit erhöhtem Risiko. Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten bei FAS und FASD Aufgrund des meist späten Zeitpunkts der Diagnosestellung bezieht sich die Mehrzahl der wissenschaftlichen Untersuchungen zu Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten bei FAS und FASD auf Kinder im Schulalter. Umfangreiche Längsschnittstudien liefern zusätzlich auch Daten zum Jugend- und Erwachsenenalter der betroffenen Kinder. Zu diesem Wissen haben zwei deutsche Arbeitsgruppen in Münster (Löser, 1995, Feldmann, 2008) und Berlin/ Zürich (u. a. Steinhausen & Spohr, 1998; Steinhausen et al., 2003) beigetragen. Die Mehrzahl der Erfahrungen, die in diesen Studien zusammengetragen sind, bezieht sich auf Kinder, die bei Pflege- oder Adoptiveltern aufwachsen. So wurden z. B. mehr als 70 % der Kinder, die in einer spezialisierten Einrichtung in Washington vorge- FI 4/ 2010 Fetales Alkoholsyndrom und Alkoholspektrumstörung 175 stellt wurden, von Pflege- oder Adoptiveltern begleitet (Carmichael Olson et al., 2007); 61 % der Eltern, die in einer deutschen Studie über Kinder mit FAS/ FASD berichten, waren Pflege- oder Adoptiveltern (Steinhausen et al., 2003). Zum Fetalen Alkoholsyndrom lassen sich diese Ergebnisse kurz zusammenfassen: 1) Der mittlere Intelligenzquotient im Schul- und Jugendalter liegt bei einem IQ von 65 - 72 mit besonderen Schwierigkeiten bei Aufgaben, die abstrakt-schlussfolgerndes Denken, Urteilskraft und Gedächtnisleistungen erfordern. Die individuelle Variabilität ist aber beträchtlich, das Leistungsvermögen vieler Kinder liegt im Bereich der Lernbehinderung. Es besteht ein Zusammenhang zwischen der Ausprägung der dysmorphologischen Merkmale und der Schwere der Intelligenzstörung (Mattson & Riley, 1998). 2) Zwei Drittel der betroffenen Kinder sind mit den Anforderungen der Regelschule überfordert und besuchen Förderschulen, vor allem Schulen für Kinder mit Lernförderbedarf oder geistiger Behinderung. Im Profil ihrer Schulleistungen - auch bei den Kindern, die die Regelschule besuchen - fallen besondere Schwächen in den mathematischen Fähigkeiten auf, die in hohem Maße die genannten kognitiven Funktionen beanspruchen. 3) Die Rate ausgeprägter und dauerhafter Aufmerksamkeitsstörungen, externalisierender Verhaltensauffälligkeiten und sozialer Kompetenzdefizite (aggressives Verhalten, Impulsivität, Missachten von Regeln, Probleme in der Interaktion mit Gleichaltrigen und Schwierigkeiten im Erkennen sozialer Signale und Zusammenhänge) ist - auch bei Kindern, die keine dysmorphologischen Auffälligkeiten oder deutliche Intelligenzstörungen zeigen - deutlich erhöht (Mattson & Riley, 2000; Dixon et al., 2008). Das gilt auch für die Delinquenzrate und das Risiko eigener Alkohol- oder Drogenabhängigkeit im Jugend- und Erwachsenenalter. 4) Viele Kinder weisen neben den neurologischen, kognitiven und sozialen Entwicklungsauffälligkeiten auch körperliche Probleme auf, die die Entwicklung zusätzlich belasten. So berichtet Löser (1995) in seiner Übersicht z. B., dass 29 % der Kinder mit einem FAS einen Herzfehler haben, bei 9 % liegen Nierenfehlbildungen vor, bei 25 % Augenfehlbildungen. Gravierende Belastungen für das Kind und seine Familie entstehen zudem durch schwere Ess- und Schluckstörungen sowie Schlafstörungen, die bei 30 % - 40 % der Kinder mit einem FAS im frühen Kindesalter auftreten. Die Zahl der Untersuchungen, die sich auf alkoholbedingte Effekte bei Kindern im frühen Kindesalter beziehen und damit für die Frühförderung von besonderer Bedeutung sind, ist deutlich niedriger. Testa et al. (2003) führten eine Meta-Analyse zu Studien an Kindern im Alter bis zu zwei Jahren durch. Sie ergab, dass - bei Kontrolle relevanter Faktoren wie z. B. sozial-ökonomischer Status, mütterlicher Bildungsabschluss, Konsum anderer Drogen - der durchschnittliche Entwicklungsquotient bei Kindern, die einem Alkoholkonsum schweren Grades während der Schwangerschaft ausgesetzt waren, um 8.3 Punkte niedriger lag als in der Vergleichsgruppe. Streissguth et al. (1989) wiesen in ihrer Längsschnittstudie ein durchschnittliches Defizit von 5 IQ-Punkten bei Testung im Alter von vier Jahren im Vergleich zu einer Kontrollgruppe nach. Wichtig ist festzuhalten, dass sich diese Studien nicht nur auf Kinder beziehen, die die Diagnosemerkmale eines FAS (z. B. die körperlichen Dysmorphien) erfüllen, sondern auch Kinder mit leichteren alkoholbedingten Effekten einbeziehen. Untersuchungen, die ausschließlich die Ergebnisse von allgemeinen Entwicklungs- oder Intelligenztests mitteilen, geben jedoch ein unvollständiges Bild. So weisen Studien, die differenziertere neuropsychologische Testverfahren bei Kindern mit einer FAS nach schwerem Alkoholkonsum der Mütter benutzten, besondere Defizite in den exekutiven Funktionen der Kinder nach, d. h. die Kinder zeigen weniger kognitive Flexibilität sowie Kontrolle über impulsive Handlungen und haben mehr Schwierigkeiten im schlussfolgernden Denken und in der Handlungsplanung (z. B. Mattson et al., 1999). Das gilt auch für unterschiedliche Gedächtnisfunktionen (Reproduktion von sprachlichen Infor- 176 Klaus Sarimski, Melissa Banse FI 4/ 2010 mationen, Gedächtnis für Geschichten oder Zeichnungen, räumliches Gedächtnis; z. B. Mattson & Riley, 1999). Während die semantischen und syntaktischen Sprachkompetenzen keine spezifischen Defizite aufzuweisen scheinen, viele Kinder sich sprachlich etwa parallel zu ihrer kognitiven Entwicklung entwickeln und sehr sprechfreudig sind, zeigen sich auf höherem Entwicklungsniveau auch im Bereich der sozial-kommunikativen Fähigkeiten spezifische Probleme z. B. beim Nacherzählen von Geschichten oder bei der themenbezogenen Beteiligung an Gesprächen (Coggins et al., 2007). Sie lassen sich ebenfalls als Ausdruck von Defiziten in den exekutiven Funktionen interpretieren. Allerdings sind eben solche Auffälligkeiten erst bei komplexeren Aufgabenstellungen zu erkennen. Das erklärt, dass die Entwicklungsstörung der betroffenen Kinder im frühen Kindesalter von den Bezugspersonen oft als weniger gravierend erlebt wird und erst im Schulalter zu schweren Beeinträchtigungen in der Bewältigung von Alltagsanforderungen führt. Untersuchungen mit Verfahren zur Beurteilung adaptiver Kompetenzen (z. B. der Vineland Adaptive Behavior Scale) sprechen dafür, dass die Probleme im Bereich der sozialen Anpassung (z. B. Befolgen von Regeln) ausgeprägter sind als in anderen Entwicklungsbereichen (z. B. im motorischen Bereich) und die adaptiven Kompetenzen generell niedriger sind als auf der Basis des Intelligenzniveaus der Kinder zu erwarten wäre (Mattson et al., 2005; Carmichael Olson et al., 2007). Einzelne Studien, die mit Elternfragebögen (z. B. der CBCL) arbeiten, wiesen Aufmerksamkeitsstörungen, Impulsivität, Hyperaktivität und Probleme der Emotionsregulation in unterschiedlicher Ausprägung, Anzeichen einer depressiven Störung sowie eine Neigung zu sozialer Distanzlosigkeit (undiskriminative, freundliche Kontaktaufnahme zu fremden Personen) bereits bei Kindern im Vorschulalter nach (Streissguth et al., 1995; Kelly et al., 2000; O’Connor et al., 2002). So fanden Paley et al. (2005) z. B. eine stärkere Ausprägung externalisierender Verhaltensauffälligkeiten bei 4bis 6-Jährigen, unabhängig von soziografischen Faktoren oder dem aktuellen Alkoholkonsum der Mütter, sowie eine Abhängigkeit von der Schwere der pränatalen Alkoholexposition („doseresponse-relationship“). In der klinischen Arbeit werden zudem auch häufig Ess- und Schlafstörungen als frühe Regulationsprobleme berichtet (Eyler & Behnke, 1999). Direkte und indirekte Effekte Bei den genannten Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten muss zunächst davon ausgegangen werden, dass es sich um primäre Effekte der alkoholbedingten Schädigungen handelt, da es sich um Studien handelt, bei denen mögliche konfundierende Variablen (z. B. die Familienumwelt sowie der sozioökonomische Status der Familien oder das Intelligenzniveau der Kinder) beim Vergleich mit Kontrollgruppen beachtet wurden (Mattson & Riley, 2000; Sood et al., 2001; Richardson et al., 2002). Nicht ausgeschlossen ist aber, dass gleichzeitig mit dem Alkohol auch andere Faktoren eine schädigende Wirkung in der Schwangerschaft ausüben, die sich davon nicht trennen lassen. Das kann z. B. eine mögliche Mangelernährung der Schwangeren sein, die sich ebenfalls schädigend auf die Hirnentwicklung auswirkt. Es ist auch an mögliche genetische Dispositionen zu denken; so gibt es mittlerweile Hinweise darauf, dass bei bestimmten genetischen Anlagen - z. B. einer Neigung zu impulsivem Verhalten - ein erhöhtes Risiko für die Ausbildung einer Alkoholabhängigkeit besteht. Das bedeutet, dass Kinder von alkoholabhängigen Erwachsenen auch genetische Anlagen ererbt haben können, die die Wahrscheinlichkeit größer sein lassen als in der übrigen Bevölkerung, dass sie selbst im Laufe ihrer Entwicklung Verhaltensauffälligkeiten (z. B. Hyperaktivität und Impulsivität) ausbilden. FI 4/ 2010 Fetales Alkoholsyndrom und Alkoholspektrumstörung 177 Vor allem darf aber der Nachweis direkter Effekte nicht zu der Annahme verleiten, die postnatalen Entwicklungsbedingungen seien gänzlich ohne Einfluss auf die Entwicklung der Kinder. Auch hier sind Wechselwirkungen wahrscheinlich. So stellen frühe Regulations- und Verhaltensprobleme der Kinder höhere Anforderungen an ein unterstützendes Er- und Beziehungsverhalten der Eltern, welches gerade unter ungünstigen sozialen Rahmenbedingungen von mehrfach belasteten Eltern nicht geleistet werden kann. Überforderung, inkonsistentes Interaktionsverhalten, Vorwürfe an das Kind oder Kompensationsversuche durch Überstimulation sind wahrscheinlich. Diese ungünstigen Interaktionsformen können in einer Pflege- oder Adoptionsfamilie jedoch vermieden werden, sodass bei fremdbetreuten Kindern eine günstigere Prognose möglich ist als bei Kindern, die in ihrer Herkunftsfamilie aufwachsen (wenn dort die ungünstigen familiären Bedingungen fortbestehen und nicht durch familienorientierte Interventionen verändert werden können). Ergebnisse der Langzeitstudie von Streissguth et al. (2004) belegten dann auch, dass bei Jugendlichen mit alkoholbedingten Effekten die Wahrscheinlichkeit einer günstigeren sozialen Anpassung signifikant höher war, je länger sie in stabilen Familienumgebungen aufwuchsen. Andererseits wiesen Whitaker et al. (2006) nach, dass die Rate auffälliger Verhaltensprobleme höher ist, wenn neben dem mütterlichen Alkoholkonsum in der Schwangerschaft zusätzliche Risiken wie Depressionen oder Angststörungen der Mutter oder Gewalterfahrungen in der Familie vorlagen. Welche Erfahrungen machen Pflegeeltern von Kindern mit FAS im Bereich der Frühförderung? Eine frühe Entwicklungsverlangsamung, spezifische Probleme bei der Ausbildung exekutiver Funktionen und belastende Verhaltensauffälligkeiten im Alltag bedeuten, dass es sich bei Kindern mit einem FAS oder FASD um Kinder handelt, bei denen eine - möglichst gut auf ihre spezifischen Bedürfnisse abgestimmte - Frühförderung durch ein interdisziplinär zusammengesetztes Team aus Frühpädagoge, Ergotherapeut, Sprachtherapeut und/ oder Physiotherapeut in enger Zusammenarbeit mit einem erfahrenen Kinderarzt angezeigt ist. Angesichts der beschriebenen Schwierigkeiten einer frühen Diagnosestellung und der relativ geringen Zahl an Studien, die sich auf Kinder im frühen Kindesalter beziehen, ist es jedoch nicht verwunderlich, dass dieses Störungsbild in diesem Arbeitsbereich noch wenig Beachtung gefunden hat. Unter den Kinderärzten ist die Kenntnis über dieses Störungsbild nicht so weit verbreitet, dass frühe Hinweise auf ein FAS oder FASD verlässlich erkannt werden. Pädagogen, Psychologen und Therapeuten haben ihrerseits oft kaum Kenntnisse über das Störungsbild, die spezifischen Unterstützungsbedürfnisse und möglichen Förderschwerpunkte. Feldmann (2007) berichtete in einem Vortrag, dass 50,4 % der Kinder, die in seiner Spezialsprechstunde in Münster vorgestellt wurden, (heil-)pädagogische Frühförderung erhielten, jeweils etwa 35 % Ergotherapie, Logopädie und/ oder Krankengymnastik. Über die Erfahrungen, die (Pflege-) Eltern mit dem Frühförderangebot machen und welche Probleme sie im Alltag als vordringlich erleben, liegen aber keine Untersuchungen vor. Wir haben in einer explorativen Studie im Rahmen einer wissenschaftlichen Hausarbeit zum Abschluss des sonderpädagogischen Studiums daher versucht, einige Eindrücke zu dieser Frage zusammenzutragen. Dazu wurde ein Fragebogen zusammengestellt und Kontakt zur deutschen Selbsthilfegruppe „FASworld Deutschland“ aufgenommen, in der sich Pflegeltern von Kindern mit FAS/ FASD organisiert haben. Der Fragebogen wurde auf der Homepage dieser Gruppe sowie nachfolgend auf der Homepage von drei 178 Klaus Sarimski, Melissa Banse FI 4/ 2010 weiteren Pflegeeltern-Organisationen als Download zur Verfügung gestellt mit einem Begleitschreiben, in dem die jeweiligen Vorsitzenden unser Anliegen unterstützten. Auf diese Weise konnten wir ausgefüllte Fragebögen von elf Pflegeeltern von Kindern mit FAS erhalten. Es handelte sich um sechs Mädchen und fünf Jungen im Alter zwischen einem und sechs Jahren. Acht Kinder wurden von Frühförderstellen betreut. Mit welchen Berufsgruppen sie dort zusammenarbeiteten, lässt sich aus den Elternangaben leider nicht erkennen. Bei zwei Kindern - noch unter zwei Jahren - war das erst für einen späteren Zeitpunkt vorgesehen, bei einem weiteren Kind wurde die Diagnose bisher nicht als Indikation zur Frühförderung vom zuständigen Sozialhilfeträger anerkannt. Sechs Kinder besuchten eine integrative Kindertagesstätte, zwei Kinder einen heilpädagogischen Kindergarten, drei Kinder noch keine Einrichtung dieser Art. Die Pflegeeltern berichteten in dem Fragebogen zunächst in freier Form über die Entwicklungs- und Verhaltensmerkmale sowie Kompetenzen ihrer Kinder und schätzten dann den Förderbedarf in einzelnen Bereichen ein. Als Kompetenzen werden z. B. die positive Grundstimmung, soziale Offenheit, Kontaktbereitschaft, Geschicklichkeit, Musikalität und der Humor des Kindes benannt. Die Abb. 1 zeigt den Grad der Förderbedürftigkeit aus Sicht der Eltern. Die Verteilung zeigt Schwerpunkte in den Bereichen der adaptiven Kompetenzen („Selbstständigkeit im Alltag“) und der sprachlichen Entwicklung, aber auch eine beträchtliche Variabilität in den Einschätzungen der Eltern. Sieben Pflegeeltern gehen von einer geistigen Behinderung des Kindes aus. Sechs Pflegeeltern berichten von einer Ess- oder Schluckstörung, fünf Pflegeeltern von einer Störung des Ein- und Durchschlafens. In einem zweiten Teil des Fragebogens wurden die Eltern gebeten anzugeben, welche Temperaments- und Verhaltensmerkmale sie bei ihrem Pflegekind beobachten. Wir verwendeten dazu einen standardisierten Fragebogen für Kinder zwischen einem und sechs Jahren in einer deutschen Übersetzung, für dessen amerikanische Originalversion Vergleichsdaten vorliegen, die bei über 600 Kindern mit unbeeinträchtigter Entwicklung und mehr als 200 Kindern mit unterschiedlichen Entwicklungsstörungen erhoben werden („Temperament and Atypical Behavior Scale“, TABS, Neisworth et al., 1999). Der Fragebogen erlaubt die Auswertung in vier Verhaltensskalen. Kinder mit einem Prozentrang Abb. 1: Förderbedarf aus Sicht der Pflegeeltern bei ihren Kindern mit FAS FI 4/ 2010 Fetales Alkoholsyndrom und Alkoholspektrumstörung 179 < 15 gelten als auffällig, mit einem Prozentrang < 5 als sehr auffällig. In der Skala „soziale Zurückgezogenheit“ ergaben sich für alle Kinder auffällige (für acht Kinder sehr auffällige) Werte, in der Skala „Hypersensitivität/ -aktivität“ für zehn Kinder auffällige (für sieben Kinder sehr auffällige) Werte. Die häufigsten Einzelangaben waren: „ist an Plätzen mit vielen Menschen überreizt“, „ist regelmäßig erregt über Veränderungen im Ablauf“, „wird zu leicht zornig“, „hat ausgeprägte Wutanfälle“, „ist meist auf Tour“, „sitzt nicht still“, „ist zu stürmisch und impulsiv“, „ist oft irritierbar und empfindlich“. Neun Kinder wurden als sehr auffällig in der Skala „Dysreguliertheit“ beschrieben, die u. a. Schlafstörungen erfragt. In einem dritten Teil des Fragebogens wurden die Pflegeeltern gebeten, die Schwerpunkte der Frühförderung und ihre Zufriedenheit mit dem Angebot der Frühförderung einzuschätzen. Dieser Fragebogenteil wurde nur von den acht Eltern ausgefüllt, die eigene Erfahrungen mit der Frühförderung berichten konnten. Insgesamt entsprachen die Angaben zu den erlebten Förderschwerpunkten weitgehend der Einschätzung der Eltern, in welchen Bereichen die Förderung ihrer Kinder besonders notwendig sei. Sechs Eltern äußerten sich zufrieden oder sehr zufrieden, zwei Eltern jedoch eindeutig unzufrieden. Auf die Frage, was sie in der Frühförderung vermissen, gaben vier Eltern eine Antwort: „Fundierte Kenntnisse über FASD“ „Regelmäßige Elterngespräche“ „Mehr Info und Fachkenntnisse über FASD! “ „Dass gemeint wird, dass FAS-Kinder keine Förderung brauchen, da sie es nicht lernen, deshalb werden Therapien ver- Die Frühförderstelle … zufrieden und Hilfe ausreichend zufrieden, aber Hilfe nicht ausreichend nein, hätten aber Hilfe gebraucht nein, keine Hilfe gebraucht half uns, die Schwierigkeiten unseres Pflegekindes zu verstehen 4 2 1 1 gab uns Informationen, wie wir mit unserem Pflegekind sprechen oder spielen können 4 2 1 1 informierte uns über die Entwicklung unseres Kindes 5 3 0 0 gab uns Ratschläge, wie wir unser Kind fördern können 5 1 2 0 informierte uns über die zukünftige emotionale und soziale Entwicklung unseres Kindes 2 1 3 1 hatte ein offenes Ohr für unsere Fragen 2 1 4 1 informierte uns, wie wir mit schwierigen Verhaltensweisen unseres Kindes umgehen können 6 0 2 0 unterstützte uns moralisch 5 0 2 0 half uns bei der Suche nach einer Krippe oder einem Kindergarten für unser Pflegekind 5 0 1 2 Tab. 1: Zufriedenheit von Pflegeeltern mit der Betreuung ihrer Kinder mit FAS in der Frühförderstelle 180 Klaus Sarimski, Melissa Banse FI 4/ 2010 sagt“. Dieser Teil des Fragebogens beinhaltete auch einen Ausschnitt aus einem in internationalen Studien erprobten Bogen zur Zufriedenheit mit Frühförderdiensten (FFD; Lanners, 2003). Die Tabelle 1 zeigt die Verteilung der Antworten auf die Fragen zu einzelnen Aspekten des Frühförderprozesses. Deutlich wird, dass ein Teil der Eltern mehr Beratung hinsichtlich der Fragen aus dem Alltag und Informationen zu den zukünfti-gen Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes gewünscht und gebraucht hätte. Die Unterstützung im Umgang mit schwierigen Ver-haltensweisen, Ratschläge zur Förderung, entwicklungsbezogene Informationen und Unterstützung bei der Suche nach einem geeigneten Krippen- oder Kindergartenplatz werden dagegen überwiegend - aber nicht ausnahmslos - als zufriedenstellend beurteilt. Spezifische Herausforderungen für die Frühförderung Selbstverständlich erhebt die Auswertung der Angaben der elf Pflegeeltern keinen Anspruch auf Repräsentativität. Es erwies sich auf diesem Wege nicht als möglich, eine größere Stichprobe zur Teilnahme an der Befragung zu gewinnen; dies kann damit zusammenhängen, dass die Zahl der Pflegeeltern von Kindern, bei deren Kindern die Diagnose eines Fetalen Alkoholsyndroms oder fetaler Alkoholspektrumstörung bereits im frühen Kindesalter gestellt ist und die sich in entsprechenden Selbsthilfegruppen organisieren, relativ niedrig ist. Auch lässt sich aus unserer explorativen Befragung natürlich nicht abschätzen, ob sich eher Pflegeeltern beteiligt haben, die mit dem Frühförderangebot zufrieden oder aber solche, die mit dem Angebot unzufrieden waren. Der Forschungsstand und diese ersten Eindrücke aus einer (Pflege-) Elternbefragung sprechen aber dafür, dass es wünschenswert wäre, mehr Erfahrungen zum Entwicklungs- und Verhaltensprofil von Kindern mit FAS/ FASD sowie den Sichtweisen und Bedürfnissen ihrer (Pflege-) Eltern zu sammeln und sie den Mitarbeitern in Frühförderstellen zugänglich zu machen. Auf diese Weise könnte es gelingen, die Förderung der Kinder frühzeitig auf spezifische Aspekte ihres Störungsbildes abzustimmen und die Beratung der Eltern und Erzieher in Kindertageseinrichtungen zu optimieren. Ein wichtiger Schwerpunkt der Förderplanung muss dabei die Suche nach Kompensationsmöglichkeiten für Probleme in der Ausbildung exekutiver Funktionen sein, die als ein Kernsymptom des Störungsbildes gelten können. Bei älteren Kindern eignen sich dazu kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansätze zur Verbesserung der Selbstkontrolle. Erste positive Erfahrungen bei Kindern mit FAS liegen dazu vor, beziehen sich aber auf Kinder im Schulalter („cognitive control therapy“, Premji et al., 2006; Dixon et al., 2008; Bertrand, 2009). Im Kindergartenalter geht es dagegen eher um die Anpassung der Umgebung und des erzieherischen Vorgehens im Alltag an die besonderen Bedürfnisse der Kinder. Dazu gehören der Schutz vor Reizüberflutung, häufige Wiederholung von Aufforderungen und ihre Aufteilung in einzelne, klar formulierte Schritte, Rückversicherung, ob das Kind die Aufforderung oder Regel auch verstanden hat, eindeutige positive und negative erzieherische Konsequenz mit unmittelbarem Bezug auf das kindliche Verhalten, eine systematische Förderung sozialer Fertigkeiten im familiären Alltag und in der Kontaktaufnahme zu anderen Kindern und Erwachsenen sowie die Anpassung der Erwartungen von Eltern und Pädagogen an die durch ihre pränatale Störung begrenzten Selbstregulations- und Selbstkontrollfähigkeiten der Kinder. Ebenso wichtig ist es, die individuellen Stärken der Kinder zu fördern, um ihnen durch „Inseln der Kompetenz“ Anerkennung in der Gemeinschaft zu verschaffen und ihre soziale Integration zu erleichtern. Solche Konzepte für die Beratung der Eltern von Kindern mit alkoholbedingten Entwicklungsstörungen wurden z. B. an einer Gruppe FI 4/ 2010 Fetales Alkoholsyndrom und Alkoholspektrumstörung 181 von 58 Kindern im Alter zwischen drei und sieben Jahren in einem randomisierten Kontrollgruppendesign evaluiert. Eltern, die an diesem Gruppentraining teilnahmen, schilderten nach Abschluss eine signifikante Reduzierung von Verhaltensproblemen der Kinder und der eigenen elterlichen Belastung (Bertrand, 2009). Um Eltern und Pflegeeltern in der Frühförderung von Kindern mit FAS/ FASD bestmöglich beraten zu können, wäre es wünschenswert, dass: - Fachkräfte der Frühförderung die diagnostischen Hinweise auf alkoholbedingte Entwicklungsstörungen kennen und frühzeitig auf die Möglichkeit der Ursachenklärung durch eine ausführliche medizinische Untersuchung hinweisen - Fachkräfte in den medizinischen Versorgungseinrichtungen (z. B. Mitarbeiter in Sozialpädiatrischen Zentren und kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtungen) häufiger an diese Differenzialdiagnose denken und entsprechende Symptome in der Untersuchung des Kindes erkennen, um Fehldiagnosen zu vermeiden - Fachkräfte der Frühförderung um die spezifischen Entwicklungsprobleme der Kinder wissen und ihre Förderplanung frühzeitig auf die Kernsymptome konzentrieren, die Chancen von Interventionen, aber auch ihre Grenzen kennen - sie alkoholbedingte körperliche Fehlbildungen und frühe Ess- und Schlafstörungen in einem interdisziplinären Beratungskonzept berücksichtigen und - die (Pflege-) Eltern über die typischen Entwicklungs- und Verhaltensprobleme der Kinder aufklären, um unangebrachten Zweifeln an der eigenen erzieherischen Kompetenz und der Verfestigung ungünstiger Er- und Beziehungsmuster vorzubeugen, und sie beraten, wie sie sich im Alltag auf die spezifischen Bedürfnisse ihrer Kinder einstellen können - sie bei der Kontaktaufnahme zu Selbsthilfegruppen unterstützen, in denen sie ihre Erfahrungen mit anderen (Pflege- ) Eltern von Kindern mit FAS und FASD austauschen können (z. B. FASworld Deutschland) - Informationsmaterialien zu diesem Störungsbild bereitgestellt werden, die diagnostische Informationen, Interventionsmöglichkeiten und Forschungsergebnisse vermitteln (wie sie in den USA online zugänglich sind unter http: / / fascenter.samhsa.gov/ about/ index.cfm). Besondere Aufmerksamkeit sollte dabei der spezifischen Situation von Pflegeeltern gewidmet werden. Wenn sie ein Kind in ihre Familie aufnehmen, bei dem noch keine Diagnose gestellt ist oder über dessen Diagnose sie nicht informiert sind, besteht die Gefahr, dass sie die anhaltenden Entwicklungs- und Verhaltensprobleme als Ausdruck ihres eigenen Unvermögens in der Förderung oder Erziehung fehlinterpretieren; sie brauchen Hilfe zum Verständnis der Symptomatik und zur Anpassung ihrer Erwartungen an die Entwicklungs- und Selbstkontrollmöglichkeiten des Kindes, die durch die biologische Störung begrenzt sind. Wenn ihnen die Diagnose bekannt ist, müssen sie wissen, dass sowohl genetische Dispositionen wie auch die - mehr oder weniger lange - Erfahrung gestörter früher Eltern-Kind-Beziehungen in der Herkunftsfamilie nachhaltige Auswirkungen auf die Beziehungsfähigkeit ihres Kindes haben, die Aufarbeitung möglicher traumatisierender Erfahrungen sehr viel Zeit und fachliche Unterstützung erfordert und diese durch ihr positives Beziehungsangebot nicht immer vollständig kompensiert werden können. Berater in der Betreuung von Pflegefamilien müssen um diese doppelte Belastung wissen, die aus den spezifischen alkoholbedingten Effekten auf die Entwicklung und den traumatisierenden Erfahrungen in der Herkunftsfamilien entstehen. 182 Klaus Sarimski, Melissa Banse FI 4/ 2010 Literatur Astley, S. & Clarren S. (2000): Diagnosing the full spectrum of fetal alcohol exposed individuals: Introducing the 4-digit-Diagnostic code. Alcohol and Alcoholism, 4, 400 - 410 Bertrand, J. 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