Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2011
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Psychomotorische Förderung des Selbstkonzeptes von Kindern aus psychosozialen Risikolagen in der Frühförderung
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2011
Lena Hartmann
Kinder, die aufgrund von psychosozialen Risikofaktoren in ihrer Lebensumwelt Entwicklungsauffälligkeiten entwickeln, bedürfen einer ihren Bedürfnissen entsprechende Frühförderung. In diesem Zusammenhang bieten die Ergebnisse der Resi-lienzforschung einen Förderansatz, um Kinder zu stärken, d. h. protektive Faktoren zu entwickeln, die ihnen helfen, sich trotz vorhandener Risikofaktoren gesund zu entwickeln. Unter anderen stellt ein positives Selbstkonzept einen zentralen Schutzfaktor dar. Das Selbstkonzept beeinflusst die Herangehensweise an Herausforderungen und damit auch den Umgang mit psychosozialen Risiken. Im Rahmen der Psychomotorik kann die Entwicklung eines positiven Selbstkonzeptes durch die Vermittlung von Körper- und Selbstwirksamkeitserfahrungen gefördert werden.
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17 Frühförderung interdisziplinär, 30. Jg., S. 17 -25 (2011) DOI 10.2378/ fi2011.art02d © Ernst Reinhardt Verlag ORIGINALARBEIT Psychomotorische Förderung des Selbstkonzeptes von Kindern aus psychosozialen Risikolagen in der Frühförderung Lena Hartmann Zusammenfassung : Kinder, die aufgrund von psychosozialen Risikofaktoren in ihrer Lebensumwelt Entwicklungsauffälligkeiten entwickeln, bedürfen einer ihren Bedürfnissen entsprechende Frühförderung. In diesem Zusammenhang bieten die Ergebnisse der Resilienzforschung einen Förderansatz, um Kinder zu stärken, d. h. protektive Faktoren zu entwickeln, die ihnen helfen, sich trotz vorhandener Risikofaktoren gesund zu entwickeln. Unter anderen stellt ein positives Selbstkonzept einen zentralen Schutzfaktor dar. Das Selbstkonzept beeinflusst die Herangehensweise an Herausforderungen und damit auch den Umgang mit psychosozialen Risiken. Im Rahmen der Psychomotorik kann die Entwicklung eines positiven Selbstkonzeptes durch die Vermittlung von Körper- und Selbstwirksamkeitserfahrungen gefördert werden. Schlüsselwörter: Frühförderung, Psychomotorik, psychosoziale Risiken, Resilienz, Selbstkonzept, Körpererfahrung, Selbstwirksamkeit Psychomotorical Promotion of the Self Concept of Children in Psychosocial Risk Situations within Early Intervention Summary: Children who experience an abnormal development due to psychosocial risk factors in their living environment need early support corresponding to their needs. In this respect, the results of resilience research offer an approach to strengthen children, by developing protective factors that support healthy development in spite of the risk factors. A positive self-concept is one of the central protective factors. The self-concept influences the approach to challenges and for this reason also the handling of psychosocial risks. Within the scope of the psychomotor activity, the development of a positive self-concept can be encouraged by body and self-efficacy experiences. Keywords: Early intervention, psychomotor activity, psychosocial risk factors, resilience, self-concept, body experience, self-efficacy experience D ie Differenz der Lebenslagen, in denen Kinder heute aufwachsen, hat sich in den letzten Jahren vergrößert. Während einige Kinder in Wohlstand aufwachsen, lebt ein immer größerer Teil von Kindern in Armut und Vernachlässigung und somit in psychosozialen Risikolagen (Opp/ Fingerle 2007 b, 11). Nicht immer können Risikofaktoren, denen betroffene Kinder ausgesetzt sind und die sich zum Teil negativ auf die kindliche Entwicklung auswirken, effektiv beeinflusst werden (vgl. ebd., 16). Daher stellt sich die Frage, wie Kinder in diesen Fällen im Rahmen der Frühförderung unterstützt und gefördert werden können. Als ein Ansatzpunkt, im Sinne der Resilienzforschung, wird innerhalb dieses Artikels die psychomotorische Förderung des Selbstkonzeptes vorgestellt. 18 FI 1 / 2011 Lena Hartmann Kinder aus psychosozialen Risikolagen „Der Begriff ,psychosoziale Risiken‘ meint psychische, soziale und ökonomische Bedingungen in der Umwelt eines Säuglings oder Kleinkindes, die die Entwicklung dieses Kindes beeinträchtigen und in solchem Maße hemmen oder stören können, dass diese Kinder später deutliche Entwicklungsverzögerungen, Lernbehinderungen oder Verhaltensstörungen zeigen“ (Klein 2002, 8). Viele Kinder, die heute in der Frühförderung betreut und gefördert werden, weisen Entwicklungsauffälligkeiten auf, die auf psychosoziale Risikofaktoren in ihrer Lebensumwelt zurückgeführt werden können (Willms-Fass 2008, 171). Als wesentliche Risikofaktoren der kindlichen Entwicklung gelten unter anderem Deprivation, Armut sowie Alkoholismus, Drogenabhängigkeit, psychische Störungen oder Überforderung der Eltern bzw. eines Elternteils (vgl. Klein 2002, 8). Bei der Bewertung und Diskussion psychosozialer Risikofaktoren ist ein reflektierter Blick notwendig. Jeder der Faktoren kann, jedoch nicht in zwingender Weise, Entwicklungsbeeinträchtigungen beim Kind hervorrufen. „Erst mit der Kumulation mehrerer Risiken steigt die Wahrscheinlichkeit von Verhaltensstörungen deutlich an“ (Lösel/ Bender 2007, 63). Häufig zieht jedoch ein Risikofaktor weitere Risikofaktoren nach sich. Beispielsweise bedingt ein niedriges Bildungsniveau der Eltern mit einer höheren Wahrscheinlichkeit eine Arbeitslosigkeit und damit verbunden ein Leben in Armut (vgl. Weiß 2000 b, 56). Laut Weiß (ebd., 65f.) tritt Armut wiederum häufig zusammen mit Störungen der Mutter-Kind-Interaktion, mit Vernachlässigung und mit Gesundheitsgefährdungen bzw. biologischen Risiken und Schädigungen auf. Die beschriebene Klientel ist von der Frühförderung oft nicht einfach zu erreichen, sodass Kinder, die aufgrund prekärer Lebensbedingungen Entwicklungsauffälligkeiten entwickeln, häufig keine oder erst spät Frühförderung erhalten (vgl. Weiß/ Neuhäuser/ Sohns 2004, 66). Ursächlich hierfür können verschiedene Gründe bzw. Hürden aufgezeigt werden. Klein (2002, 56) spricht in diesem Zusammenhang von einem Früherkennungsproblem. Bevor ein Kind Frühförderung erhalten kann, muss es erstens „[…] irgend jemand aus seiner Umgebung aufgefallen sein […]“ (ebd.) und zweitens müssen die Eltern bereit sein, das Kind in der Frühförderung vorzustellen. Da psychosoziale Risikolagen auch Stress und häufig Überforderung der Eltern bedeuten, sind diese zum Teil nicht in der Lage, die Bedürfnisse ihrer Kinder im ausreichenden Maße wahrzunehmen (vgl. Willms-Fass 2008, 168). Eine weitere Hürde stellt die geringere „Visibilität“ (Klein 2002, 57) von Entwicklungsverzögerungen dar, die durch benachteiligende Lebensbedingungen hervorgerufen werden. Diese gelten als weit weniger offensichtlich als klassische Behinderungen. Darüber hinaus ist häufig eine „Wohnsegregation“ (Meier 2004, 162) in benachteiligten Stadtteilen vorzufinden. Durch den oft ausschließlichen Kontakt mit Familien in ähnlichen Problemlagen wird die Wahrscheinlichkeit minimiert, dass Bekannte oder Freunde der Familie diese auf eine eventuelle Entwicklungsbeeinträchtigung des Kindes hinweisen (vgl. Klein 2002, 57). Letztendlich darf die Schwellenangst vieler Familien aus psychosozialen Risikolagen vor öffentlichen Einrichtungen nicht unterschätzt werden. Selbst wenn Eltern eine Entwicklungsauffälligkeit bei ihrem Kind erkennen, finden viele Familien nicht den Weg in die Frühförderung. Zum einen spielt hier die Angst mit, der Verdacht einer Entwicklungsbeeinträchtigung könne sich bestätigen, zum anderen ruft die häufige Unkenntnis über die Einrichtung Frühförderung und ihre Arbeitsweisen bei einigen Eltern eine Unsicherheit hervor (vgl. ebd., 59). 19 FI 1 / 2011 Psychosoziale Risikolagen und Förderung des Selbstkonzeptes Aus den genannten Gründen weist Werner (2004, 27) darauf hin, dass der Zugang zur Frühförderung für sozial benachteiligte Familien sowie für Familien mit Migrationshintergrund so einfach und direkt wie möglich und dementsprechend niedrigschwellig gestaltet sein muss. Besonders die Zusammenarbeit mit Kindergärten ist ihr zufolge von Bedeutung, da vor allem ausländische Kinder „signifikant häufiger“ (ebd., 25) über die Kindertagesstätte in der Frühförderung angemeldet werden. Im Rahmen der Vernetzung mit benachbarten Institutionen hat sich in der Praxis ebenfalls eine gut funktionierende Kooperation mit den kommunalen Kinderärzten bewährt. Neben dem Aspekt der erschwerten Erreichbarkeit der genannten Familien ist ein weiterer Aspekt für die Frühförderung von Kindern aus psychosozialen Risikolagen von besonderer Brisanz. Familien in multiplen Problemlagen stehen oft nur im geringeren Maß Ressourcen zur Verfügung. Aufgrund des häufigen Fehlens der notwendigen ökonomischen, sozialen sowie personalen Ressourcen sind sie zum Teil nicht in der Lage, ihre Probleme selbstständig zu lösen bzw. zu reduzieren (vgl. Weiß 2004, 135). Daher machen Opp und Fingerle (2007 b, 16) darauf aufmerksam, dass es in der Lebensumwelt von Kindern Risikofaktoren geben kann, die nicht effektiv beseitigt werden können. Einen möglichen Ansatzpunkt liefert in diesen Fällen die Resilienzforschung. Resilienz bezeichnet „[…] eine psychische Widerstandsfähigkeit von Kindern gegenüber biologischen, psychologischen und psychosozialen Entwicklungsrisiken“ (Wustmann 2004, 18). Im Rahmen der Resilienzforschung werden Faktoren ermittelt, die dazu beitragen, dass sich Kinder trotz des Vorhandenseins verschiedener Risikofaktoren gesund entwickeln (vgl. Fingerle/ Freytag/ Julius 1999, 303). Vor dem Hintergrund der Herausforderungen, mit denen Kinder in psychosozialen Risikolagen oft täglich konfrontiert werden, gilt es Wege aufzuzeigen, Kinder zu stärken, das heißt protektive Faktoren zu fördern. Als ein wesentlicher protektiver Faktor gilt u. a. ein positives Selbstkonzept (vgl. Lösel/ Bender 2007, 57). Selbstkonzept Das Selbstkonzept wird innerhalb verschiedener Fachdisziplinen diskutiert. Der Schwerpunkt dieses Artikels liegt auf Aspekten der Selbstkonzeptförderung im Rahmen der Psychomotorik. Das Selbstkonzept kann als „[…] Theorie über das eigne Selbst […]“ (Fischer 2009, 77) bezeichnet werden. Es beinhaltet neben den im Umgang mit der Umwelt gemachten Erfahrungen die individuellen Einstellungen, Werte und Handlungsziele einer Person (vgl. Eggert/ Reichenbach/ Bode 2003, 15). Daraus resultiert ein Bild über das eigene Selbst, das bestimmt, inwieweit sich ein Individuum als erfolgs- oder misserfolgsorientiert wahrnimmt und mit welcher Energie es an Herausforderungen herantritt (vgl. ebd, 27). Während Kinder mit einem positiven Selbstkonzept der Überzeugung sind, Probleme meistern zu können, erleben Kinder mit einem negativen Selbstkonzept Herausforderungen als bedrohlich und oft überfordernd und geben daher eher auf (vgl. Zimmer 2006, 56, 59). Damit beeinflusst das Selbstkonzept auch den Umgang mit psychosozialen Risiken. Da der Ursprung der Selbstkonzeptentwicklung in der frühen Kindheit liegt, sollte es ein Ziel sein, Kindern frühzeitig und damit bereits in der Frühförderung, Erfahrungen zu ermöglichen, die den Auf bau eines positiven Selbstkonzeptes unterstützen. 20 FI 1 / 2011 Lena Hartmann Entwicklung des Selbstkonzeptes In den ersten Lebensjahren sind es vor allem Erfahrungen, die das Kind über den eigenen Körper gewinnt, auf deren Grundlage das Bild des Selbst entwickelt wird. Körpererfahrungen bilden demnach das Fundament der kindlichen Identitätsentwicklung. Die Wahrnehmung des Körpers ermöglicht Säuglingen und Kleinkindern, zwischen Ich und Umwelt zu unterscheiden (vgl. Zimmer 2006, 63). Der Körper stellt somit das Bindeglied zwischen der eigenen Person und der Außenwelt dar, wodurch er ein Leben lang eine besondere Bedeutung für das Selbstkonzept behält (vgl. Fischer 2009, 87). Auch Pior (1998, 32) stellt fest, dass das „körperlichen Selbst“ im Vordergrund der frühkindlichen Selbstkonzeptentwicklung steht. Er weist jedoch auch auf Befunde hin, die zeigen, dass drei bis fünfjährige Kinder eine Selbstbeschreibung mit Hilfe von Aktivitäten der eigenen Beschreibung durch körperliche Merkmale vorziehen. Daher schlägt er eine stärkere Ausdifferenzierung des Altersbereiches vor. Während bei Säuglingen eher das körperliche Selbst im Vordergrund stehe, überwiege bei Vorschulkindern das aktive Selbst (vgl. ebd.). Quellen selbstbezogener Informationen Für den Bereich der Psychomotorik kann auf die bei Zimmer (2006, 62) aufgezeigten Informationsquellen für den Auf bau des Selbstkonzeptes verwiesen werden. Sie beschreibt vier Informationsquellen, aus denen das Kind sein Selbstkonzept auf baut: n „Informationen über die Sinnessysteme (das ,Körperselbst‘ oder das ,sensorische Selbst‘); n Erfahrungen der Wirksamkeit des eigenen Verhaltens; n Folgerungen aus dem Sich-Vergleichen und dem Sich-Messen mit anderen; n Zuordnungen von Eigenschaften durch andere“ (ebd.) Zimmer (2006, 51f) weist damit auf den Stellenwert von Körper- und Bewegungserfahrungen hin. Über die Bewegung erhalten Kinder unmittelbare Rückmeldungen über den Erfolg oder Misserfolg ihrer Handlungen und damit über die Selbstwirksamkeit ihres Verhaltens. Sie machen Erfahrungen, die sie zu Einstellungen über die eigene Person generieren. Auf diese Weise entsteht ein Konzept über das Selbst (vgl. ebd.). Da Körpererfahrungen sowie Selbstwirksamkeitserfahrungen demnach als Ansatzpunkte für eine psychomotorische Förderung des Selbstkonzeptes dienen können, werden diese nun eingehender beleuchtet. Körpererfahrungen/ -konzept Körpererfahrungen werden nicht nur als Quelle und Fundament für die Entwicklung des Selbstkonzeptes angesehen, das Körperkonzept gilt ebenfalls als ein Teilkonzept bzw. Element des Selbstkonzeptes. Dem Modell von Shavelson, Hubner und Stanton (1976, 413) folgend setzt sich das „Allgemeine Selbstkonzept“ aus einem akademischen und einem nicht-akademischen Selbstkonzept zusammen. Das nicht-akademische Selbstkonzept wiederum beinhaltet ein soziales und emotionales Selbstkonzept sowie ein Körperselbstkonzept (vgl. ebd.). Auch Eggert, Reichenbach und Bode (2003, 29) nennen in ihrem „Selbstkonzept Inventar (SKI)“ das Körperkonzept als ein Element des Selbstkonzeptes. Bielefeld (1991 b, 17) untergliedert den Gesamtkomplex der Körpererfahrung in ein Körperschema und ein Körperbild. Das Kör- 21 FI 1 / 2011 Psychosoziale Risikolagen und Förderung des Selbstkonzeptes perschema beinhaltet die kognitiven Inhalte der Körpererfahrung und lässt sich in die Subkategorien Körperorientierung, Körperausdehnung und Körperkenntnis unterteilen. Das Körperbild meint die emotionale Komponente der Körpererfahrung und umfasst das Körperbewusstsein, die Körperausgrenzung und die Körpereinstellung. Die einzelnen Elemente der Körpererfahrung 1 können jeweils durch entsprechend gestaltete Angebote im Rahmen der Psychomotorik gefördert werden. Selbstwirksamkeit Selbstwirksamkeit drückt die Gewissheit einer Person aus, über Kompetenzen zu verfügen, mit Hilfe derer sie mögliche Probleme lösen kann, und meint somit das Gefühl, das eigene Leben unter Kontrolle zu haben. Ein solches Gefühl der Selbstwirksamkeit entsteht, wenn sich Kinder als Verursacher von Handlungen und Effekten erleben (vgl. Fischer 2009, 89). Kinder entwickeln demnach entsprechend der Lebenserfahrungen, die sie insbesondere in den ersten Lebensjahren machen, eine Grundüberzeugung darüber, inwieweit sie ihr Leben kontrollieren können (vgl. Fröhlich-Gildhoff/ Dörner/ Rönnau, 18). Die protektive Wirkung von Selbstwirksamkeit wird vor allem „[…] in der Motivation für und Ausführung von aktiven Bewältigungsversuchen […]“ (Wustmann 2004, 101) gesehen. „Wer nicht erwartet, mit seinen Handlungen etwas zu bewirken, wird gar nicht erst versuchen, etwas zu ändern bzw. zu riskieren, sondern die Situation meiden und sich selbst negativ einschätzen. Wer hingegen positive Erwartungen hinsichtlich seiner eigenen Selbstwirksamkeit hat, wird diese auch auf neue Situationen übertragen und sich ein gewisses Schwierigkeitsniveau zutrauen“ (ebd.). Selbstwirksamkeitsüberzeugungen sind demnach im besonderen Maße für Kinder in psychosozialen Risikolagen relevant. Die Überzeugung, selbst etwas bewirken zu können, stärkt sie für eine ausdauernde Herangehensweise an die oft täglichen Herausforderungen, vor die sie ihre Lebensumwelt stellt. Im Bezug auf eine Förderung des Selbstkonzeptes gilt es also, Kindern die Möglichkeit zu bieten, sich zum einen über ihren Körper zu erfahren und sich zum anderen selbst als Akteur der eigenen Entwicklung zu erleben und somit Selbstwirksamkeitserfahrungen zu sammeln. Dazu bietet die Psychomotorik einen kindgerechten Förderansatz. Psychomotorik Die Psychomotorik konzentriert sich auf die „[…] wechselseitige Beeinflussung von Bewegung, Wahrnehmung, Verhalten und Selbsterleben […]“ (Zimmer 2006, 22). Über das Medium Bewegung zielt sie auf eine Förderung der gesamten Persönlichkeit von Kindern (vgl. ebd.). In entwicklungsgemäßen Spielsituationen sollen Kinder Ich-, Sach- und Sozialkompetenz erwerben. Dadurch lernen sie, sowohl sich selbst als auch ihre materiale und personale Umwelt zu erleben, sich mit dieser auseinanderzusetzen und mit ihr umzugehen (vgl. Fischer 2009, 23). Im Vordergrund des Erlebens von Körper-, Material- und Sozialerfahrungen steht dabei die Eigenaktivität. Ziel ist es, Kindern individuelle Handlungsmöglichkeiten zu bieten und sie dadurch in ihrer Identitätsbildung zu unterstützen (vgl. Zimmer 2006, 185). Im Rah- 1 Für weitergehende Erläuterungen siehe Bielefeld (1991 b). 22 FI 1 / 2011 Lena Hartmann men der Psychomotorik können Kinder somit sowohl Körperals auch Selbstwirksamkeitserfahrungen sammeln. Zur Praxis der psychomotorischen Förderung des Selbstkonzeptes Die Praxis der Psychomotorik bietet sowohl offene Bewegungsangebote, z. B. Bewegungslandschaften, auf denen die Kinder selbstständig und selbstverantwortlich Bewegungserfahrungen sammeln, sowie angeleitete und von dem/ der PsychomotorikerIn vorbereitete Angebote zu bestimmten Themen. Zur Veranschaulichung folgen abschließend sowohl einige Anmerkungen zur Gestaltung von Bewegungslandschaften als auch Beispiele für angeleitete Angebote zur Förderung des Körperschemas und des Körpergefühls. Im Rahmen offener Bewegungsangebote lassen sich durch den Auf bau unterschiedlicher Geräte einer Turnhalle sowie psychomotorischer Materialien, Bewegungswelten für Kinder schaffen, die ihnen vielfältigste Möglichkeiten „[…] zum Schaukeln, Schwingen, Klettern, Springen, Hüpfen, Balancieren, etc. […]“ (Fischer 2009, 270f) bieten. Dabei üben die psychomotorischen Spielmaterialien, Geräte und Auf bauten einen enormen Aufforderungscharakter auf Kinder aus und fordern diese zu Aktivitäten heraus (vgl. Zimmer 2006, 76). Im Bewegungshandeln sammeln Kinder vielfältigste Erfahrungen, die zur Förderung des Körperkonzeptes beitragen. Im Bewegungsspiel verbessern sie ihre körperlichen Fähigkeiten, lernen ihren Körper zu koordinieren und erweitern ihre Körperkenntnis. Ebenso bietet der Bewegungsraum vielfältigste Möglichkeiten, Wissen über die Körperausdehnung sowie die Körperorientierung zu erlangen (vgl. Bielefeld 1991 b, 17). Kinder können z. B. die Erfahrung machen, dass sie sich bücken müssen, um durch einen Tunnel zu krabbeln. Sie lernen so ihre Körpergrenzen einzuschätzen und entwickeln ein Verständnis für die Lage ihres Körpers im Raum. Sie krabbeln durch den Tunnel. Um Kindern neben Körpererfahrungen auch das Erleben der eigenen Selbstwirksamkeit zu ermöglichen, ist die psychomotorische Förderung so zu gestalten, dass sich das Kind selbst als Verursacher einer Handlung erlebt (vgl. Zimmer 2006, 141). Diese Erfahrung, selbst etwas bewirken zu können, führt dann wiederum zur Entwicklung eines Gefühls der Selbstwirksamkeit und damit zu Kontrollüberzeugungen (vgl. Fischer 2009, 89). Nach Krus müssen für den Auf bau von Kontrollüberzeugungen Angebote bereitgestellt werden, die eine aktive Auseinandersetzung mit den eigenen Möglichkeiten des Handelns zulassen (vgl. Krus 2004, 89f). Daraus ergibt sich das Ziel, die Umgebung so zu gestalten, dass sie die Kinder vor unterschiedliche Herausforderungen auf verschiedenen Niveaus stellt (vgl. Teschner 2008, 45). Dadurch, dass Bewegungslandschaften so gestaltet werden, dass sie unterschiedliche Schwierigkeitsgrade besitzen, ist es allen Kindern möglich, selbstständig Erfolge zu erfahren. Sie können selbst auswählen, was sie sich zutrauen (vgl. Zimmer 2006, 145). Ein Beispiel bietet die Abbildung 1: Bei diesem Auf bau haben die Kinder die Möglichkeit, über die Treppe, die Rutsche oder die umgedrehte und sich in der Luft befindliche Längsbank auf und von dem großen Kasten zu kommen, wobei verschiedene Schwierigkeitsgrade gegeben sind. „Auf diese Weise üben Kinder, sich neuen Aufgaben zu stellen und ihre Fähigkeiten realistisch einzuschätzen“ (Teschner 2008, 45). Das heißt, das selbstverantwortliche und zwanglose Erobern des Bewegungsraumes im jeweils individuellen Tempo sowie das selbstständige Spielen nach eigenen Wünschen stehen im Vordergrund der psychomotorischen Förderung (vgl. Köckenberger 2007, 29). 23 FI 1 / 2011 Psychosoziale Risikolagen und Förderung des Selbstkonzeptes Die Aufgabe des/ der Erwachsenen besteht bei offenen Bewegungsangeboten darin, im Hinblick auf den momentanen Entwicklungsstand des Kindes sowie dessen Bedürfnisse, angemessenes Material und Bewegungsräume bereitzustellen und so zu arrangieren, dass die Kinder diese selbstständig erobern können (vgl. ebd., 39). Selbstständigkeit ermöglichen bedeutet dabei auch, nicht vorschnelle Hilfestellungen zu leisten, sondern Kinder dazu zu ermutigen, einen Weg zu finden, wie sie eine Herausforderung selbstständig bewältigen können, um dadurch Selbstwirksamkeit zu erfahren (vgl. Zimmer 2006, 70). Da das Körperbild „[…] alle emotionalaffektiven Leistungen des Individuums bzgl. des eigenen Körpers […]“ (Bielefeld 1991 b, 17) umfasst, hat die erfolgreiche selbstständige Bewältigung einer motorischen Aufgabe ebenfalls positive Auswirkungen auf das Körpergefühl bzw. Körperbild des Kindes. Zu Beginn dieses Abschnittes ist darauf hingewiesen worden, dass im Rahmen der Psychomotorik ebenfalls angeleitete Angebote zum Thema Körperschema und Körpergefühl durchgeführt werden können. Hierzu folgen abschließend einige Beispiele. Es bieten sich jegliche Formen der Körpermassage an, mit den Händen, mit Igelbällen, mit Cremes oder auch als Massagegeschichten. Beispielsweise kann mit den Kindern eine Waschstraße gebaut werden, durch die sie dann mit ihrem Auto (Rollbrett) fahren können und dabei gründlich gereinigt werden. Hierzu können Schwämme, Bürsten, Poliertücher, aber auch ein Fön zum Trocknen der saubergewaschenen Autos zum Einsatz kommen. Die Kinder dürfen dabei überlegen, ob sie sich beim Durchfahren der Waschstraße mit dem Rücken oder dem Bauch auf das Rollbrett legen wollen. Ebenso kann die Option vereinbart werden, unterschiedliche Programme wählen zu können. So entscheidet etwa das eine Kind, dass nur die Füße und Beine gewaschen werden müssen, und nur ein Kurzprogramm notwendig ist, da diese nicht besonders dreckig sind. Ein anderes Kind entscheidet sich dagegen vielleicht für das Vollprogramm inklusive Vorwäsche. Beim Durchfahren der Waschstraße kann das Kind gefragt werden, wie sich die einzelnen Bürsten und Schwämme auf dem Körper anfühlen, was angenehm oder vielleicht auch unangenehm ist, um so auf die Ebene der Reflexion zu gelangen. In der Praxis findet ebenfalls das Spiel „magnetische Körperteile“ großen Anklang. Dabei laufen die Kinder zur Musik durch den Raum, bei Musikstopp verzaubert der Zauberer ein Abb. 1 24 FI 1 / 2011 Lena Hartmann Körperteil, dass dann magnetisch vom Boden angezogen wird. Die Kinder müssen daraufhin bspw. die Hand, den Ellenbogen oder den Rücken auf den Boden legen. Bei diesem Spiel können ebenfalls Selbstwirksamkeitserfahrungen ermöglicht werden, indem ein Kind die Rolle des Zauberers übernimmt und erfährt, welche Auswirkungen sein Zauberspruch auf die Mitspieler hat. Schlussbemerkung Die Ausführungen zeigen, dass die Förderung des Selbstkonzeptes einen möglichen Ansatzpunkt zur Frühförderung von Kindern aus psychosozialen Risikolagen darstellt. Grundsätzlich bleibt zu beachten, dass neben der Förderung des Kindes die gesamte Familie durch die Frühförderung anzusprechen ist. Die Verankerung der Frühförderung in die primäre Lebenswelt des Kindes gilt als entscheidend, um wirksame Veränderungen anstoßen zu können. Möglichkeiten hierfür bieten sowohl individuelle Elterngespräche und -beratungen als auch Elterngruppen, in denen sie sich mit anderen austauschen können. In diesem Artikel sollte aber die frühe Förderung des Selbstkonzeptes bei Kindern im Mittelpunkt stehen. Kinder mit einem positiven Selbstkonzept, das als ein wesentlicher Resilienzfaktor gilt, können Herausforderungen mit der Überzeugung begegnen, sie erfolgreich bewältigen zu können. Dies macht Kinder aus psychosozialen Risikolagen stark, mit ihren häufig sehr belasteten Lebensumständen umzugehen. Wie zuvor gezeigt, gelten Körper- und Selbstwirksamkeitserfahrungen als wichtige Quellen für den Auf bau des Selbstkonzeptes. Hierfür bietet die Psychomotorik vielfältige Erfahrungsräume. In einer entsprechend gestalteten Umgebung können sich Kinder spielerisch Herausforderungen stellen und diese eigenaktiv bewältigen. Dadurch sowie mit Hilfe themenspezifischer Bewegungsspiele, lernen sie ihren Körper und sich selbst kennen und erleben Erfolge und die Wirksamkeit ihres eigenen Handelns. Auf diesem Weg können sie ein positives Selbstkonzept aufbauen. Lena Hartmann Wiesenweg 24 D-33106 Paderborn Literatur Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) (2008): Chancen ermöglichen - Bildung stärken. 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