eJournals Frühförderung interdisziplinär 30/1

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2011
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STICHWORT: Interdisziplinarität

11
2011
Gerhard Neuhäuser
Wie selbstverständlich wird heute der Begriff Frühförderung mit dem erklärenden Adjektiv interdisziplinär verbunden - aus dem Titel unserer Zeitschrift ist dies ersichtlich. Was steckt dahinter, welche Bedeutung hat es und ist daraus nicht ein besonderer Anspruch oder gar eine Verpflichtung abzuleiten? Das Jubiläum "30 Jahre Frühförderung interdisziplinär" soll Anlass sein, in jedem Heft mit einem Stichwort über Grundpfeiler der Frühförderung zu reflektieren, die diese ja auch vom aktuellen Begriff Frühe Hilfen abgrenzen - am Beginn steht hier die Interdisziplinarität.
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59 FI 1 / 2011 Stichwort Interdisziplinarität Gerhard Neuhäuser STICHWORT Wie selbstverständlich wird heute der Begriff Frühförderung mit dem erklärenden Adjektiv interdisziplinär verbunden - aus dem Titel unserer Zeitschrift ist dies ersichtlich. Was steckt dahinter, welche Bedeutung hat es und ist daraus nicht ein besonderer Anspruch oder gar eine Verpflichtung abzuleiten? Das Jubiläum „30 Jahre Frühförderung interdisziplinär“ soll Anlass sein, in jedem Heft mit einem Stichwort über Grundpfeiler der Frühförderung zu reflektieren, die diese ja auch vom aktuellen Begriff „Frühe Hilfen“ abgrenzen - am Beginn steht hier die Interdisziplinarität. Interdisziplinär bedeutet im Wortsinn „zwischen den Fächern“. Sollte damit ein eigenes Gebiet entstehen, das durch gegensätzliche oder sich ergänzende Pole definiert wird, im Hinblick auf Frühförderung also von der Medizin, der Pädagogik, der Psychologie, der Sozialwissenschaft? Den Disziplinen entsprechen jeweils Professionen mit ihren durch praktische Aspekte oder wissenschaftliche Gesichtspunkte abgesteckten Arbeitsfeldern. Müssen diese erweitert und zusammengeführt werden oder ist ein neues Fach nötig? Interdisziplinarität als Begriff soll doch wohl zum Ausdruck bringen, dass es zwischen verschiedenen Fachrichtungen zu einem regen Austausch kommt. Dies ist vielleicht noch besser, wie es auch vielfach geschieht, durch die wichtige Voraussetzung, nämlich eine transdisziplinäre, die Fächer übergreifende Kooperation zu kennzeichnen. Bezogen auf Frühförderung wird jedenfalls immer ein Prozess beschrieben: In der Zusammenarbeit von mehreren Disziplinen oder Professionen muss das neue Tätigkeitsfeld erschlossen, aufgebaut und stetig erweitert werden. Es geht darum, gleichsam die gemeinsame Schnittmenge zu bestimmen und von da aus die Grenzen zu erweitern. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an alte und neue Diskussionen, ob denn ein eigenes Berufsbild für die „Frühförderer bzw. Frühförderinnen“ anzustreben sei, ob also eine Art interdisziplinäre Superspezialität aufzubauen wäre. Vielfach sah man es dann doch als günstig und sinnvoll an, nach einer grundständigen Ausbildung das erforderliche zusätzliche Wissen zunächst im Rahmen der einzelnen Disziplinen zu erwerben, um es dann in der Realität, also praxisbezogen, durch interdisziplinäre Erfahrungen zu erweitern. Neuerdings werden jedoch, auch im Gefolge von strukturellen und inhaltlichen Änderungen der „Szene“, eigene Studiengänge für „Interdisziplinäre FrühförderIn“ angeboten, so an der Fachhochschule in Gera seit 2006 und bald auch an der „Medical School Hamburg“. Wie kann also Interdisziplinarität gelebt werden? Es hat sich als sinnvoll erwiesen, dass in den Einrichtungen der Frühförderung mindestens drei Fachrichtungen tätig sind - entsprechende Empfehlungen der VIFF bringen dies klar zum Ausdruck, ohne eine Priorität festzuschreiben. Dabei reicht es nicht aus, wenn (Sozial- oder Sonder-)Pädagogen, Psychologen, Ärzte, Therapeuten und Sozialarbeiter vom gleichen Arbeitgeber bzw. Träger bezahlt werden, fest angestellt sind oder einen Kooperationsvertrag haben - sie müssen zu einem Team vereint werden, was nicht selbstverständlich ist und zusätzlich Zeit wie Anstrengung, aber auch Motivation und Aufgeschlossensein erfordert. Interdisziplinarität 60 FI 1 / 2011 Stichwort setzt also immer Teamarbeit voraus. Diese aber fordert stets auch Teamfähigkeit, die bei der grundständigen Ausbildung in den einzelnen Disziplinen recht unterschiedlich vermittelt wird. Notwendig ist deshalb, die Teamarbeit kontinuierlich zu unterstützen und zu begleiten, es muss also eine geeignete Supervision verfügbar sein, die unter anderem dafür sorgt, Kompetenzen und Prioritäten sinnvoll und rationell abzusprechen, auch im Hinblick auf die trotz aller Liberalisierung notwendige Leitung einer Frühförderstelle. Interdisziplinarität als Prozess muss auch immer wieder neu definiert werden; sie kann oder soll sich ändern, wenn das Team in seiner Zusammensetzung wechselt oder wenn die Ziele der Arbeit bzw. das Leitbild einer Stelle wegen anderer Akzente neu zu formulieren sind. Mit den an sie gestellten Anforderungen wird sich also Interdisziplinarität stetig zu entwickeln haben, ohne dabei aber von eindeutig definierten Grundpositionen abzuweichen, selbst wenn als Antwort auf bestimmte aktuelle Entwicklungen die Akzente anders zu setzen sind. Anhaltende Diskussionen um die in der Frühförderungsverordnung von 2003 festgeschriebene Komplexleistung machen dies deutlich - „Leistungen aus einer Hand“ gelten als Devise und sie sind durch Interdisziplinarität gewährleistet, eine dafür angemessene und nötige Finanzierungsregelung konnte aber bisher nicht überall in befriedender Weise erreicht werden. Eine wichtige Basis der Interdisziplinarität ist stets die Kompetenz der einzelnen Disziplinen, die am Team beteiligt sind. Sie müssen gleichberechtigt nebeneinander agieren können, dabei ihre jeweils spezifische Sichtweise respektieren und ohne Anspruch auf Priorität die Meinungen miteinander bzw. aufeinander abstimmen. Bekannt ist der früher so oft betonte Gegensatz zwischen Medizin und Pädagogik, den man heute eigentlich nur noch historisch betrachten und verstehen kann. Stammte er doch aus einer Zeit, da in der Medizin die monokausale, naturwissenschaftlich begründete Betrachtungsweise vorherrschte, durch die zweifellos große Erfolge erzielt wurden, z. B. bei der Bekämpfung von früher tödlichen Infektionskrankheiten, mit der man aber den vielfältigen Bedingungen der kindlichen Entwicklung oder den komplexen Systemen und Prozessen im psychosozialen Bereich nicht gerecht werden kann. Demgegenüber wurde der Pädagogik vielfach nicht die ihr eigentlich zustehende Bedeutung beigemessen, war man doch der Meinung, erziehen könne jeder, nicht zuletzt der Arzt. Dass die Sichtweise der Professionen und damit auch ihre Teamfähigkeit von der im Studiengang jeweils durchlaufenen „Sozialisation“ abhängen, muss auch heute noch berücksichtigt werden. Wenn sich gegenwärtig die interdisziplinäre Kooperation aber gerade im medizinischen Bereich als fast selbstverständlich erweist, beruht dies eben auf vielen Erfahrungen aus der klinischen und ambulanten Praxis: Erfordern medizinische Maßnahmen ein multidisziplinäres Vorgehen, z. B. bei einem Kind mit Spina bifida und Hydrozephalus oder mit einer anderen Mehrfachbehinderung, sind alle Befunde und Empfehlungen, auch die Erkenntnisse bezüglich der psychosozialen Situation, in einer für alle Beteiligten - nicht zuletzt für Eltern und Kind - verständlichen Weise in das interdisziplinäre Team einzubringen und notwendige Aktivitäten aufeinander abzustimmen. Interdisziplinarität muss also immer wieder neu erarbeitet und erworben werden, es sind dabei die Fortschritte bzw. Veränderungen im Bereich der einzelnen Professionen zu berücksichtigen, man muss nicht zuletzt auf aktuelle gesellschaftspolitische Forderungen reagieren. Interdisziplinarität oder Transdisziplinarität ergibt sich demnach ganz einfach aus all den verschiedenen Anforderungen, die sich im Rahmen der Frühförderung und bei frühen Hilfen stellen. Immer muss sichergestellt 61 FI 1 / 2011 Stichwort • Rezensionen sein, dass eine wirksame, auf die individuelle Entwicklung bezogene Unterstützung von Kind und Familie gewährleistet ist. Das aber gelingt nur bei einer vertrauensvollen interdisziplinären Kooperation und im transdisziplinären Austausch zwischen den beteiligten Professionen, zu denen auch die Eltern gehören. REZENSIONEN Therapie von Entwicklungsstörungen. Was wirkt wirklich? Herausgegeben von Waldemar von Suchodoletz, Göttingen et al. (Hogrefe, 2010), 288 S., € 34,95 Dass einmal jemand sagt, was in der Therapie von Entwicklungsstörungen wirklich wirke: Darauf haben wir gewartet. Wie man das herausbekommt, erörtert v. Suchodoletz im einleitenden Kapitel. Festgelegt werden darin der Bezugspunkt ICD-10 für die Definition von „Entwicklungsstörungen“ und die Kriterien für eine wissenschaftliche Befassung mit der Wirksamkeit, Effektivität und Effizienz von Therapie. Danach geht es ins Inhaltliche: Hans Michael Straßburg berichtet über „Therapie motorischer Störungen: Was ist gesichert? “ Seine Antwort ist einerseits ernüchternd, weil keine der heute gängigen physiotherapeutisch akzentuierten Methoden für sich eine nachgewiesene Wirksamkeit im strengen Sinn in Anspruch nehmen kann, nur sehr begrenzt kausale Behandlungsmöglichkeiten verfügbar sind und Heilungsversprechen sich in jedem Fall verbieten. Sie ist andererseits beruhigend und motivierend, weil sie noch einmal unterstreicht, dass ein komplexes Verständnis der Störungen und interdisziplinär entwickelte lebensweltbezogene Angebote für die betroffenen Kinder und ihre Familien die Orientierung der Wahl sind. Frank Häßler befasst sich mit der Therapie psychischer Störungen bei Menschen mit einer Intelligenzminderung. Psychische Störungen sind bei geistig behinderten Menschen häufig und vielfach mit ihrer Intelligenzminderung auch eng verzahnt. Dementsprechend legt Häßler vor allem Wert auf den förderlichen und therapeutischen Umgang mit diesen Menschen. Psychopharmaka können dazu häufig hilfreich, manchmal notwendig sein. Die medikamentöse Therapie, einzelne Psychopharmaka und ihre Kombinationen werden deshalb relativ ausführlich besprochen. Das Altersspektrum der Frühförderung ist nicht angesprochen. Waldemar v. Suchodoletz berichtet über die Therapie von Sprech- und Sprachentwicklungsstörungen. Neben der Definitionsfrage bespricht er eine Reihe von Ansätzen und Orientierungen in der Therapie und Förderung, über deren Wirksamkeit er auch die verfügbaren - eher rudimentären - empirischen Belege zitiert. Ebenso berichtet er über empirische Hinweise auf die Wirksamkeit der Förderung durch Eltern, durch Erzieherinnen oder in Gruppen.