eJournals Frühförderung interdisziplinär 30/2

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
41
2011
302

Stichwort: Ganzheitlichkeit

41
2011
Martin Thurmair
Die "interdisziplinäre Frühförderung behinderter und entwicklungsgefährdeter Kinder", auf den Weg gebracht im Wesentlichen in den 70er Jahren, musste sich als Arbeitsfeld disziplinübergreifend und berufsgruppenübergreifend konstituieren, und sie musste ihr fachliches Profil - ihre fachliche "Identität", könnte man fast sagen - in disziplinübergreifenden Diskursen finden und etablieren. In diesem Prozess hat "Ganzheitlichkeit" sehr früh schon eine wichtige Rolle gespielt.
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122 FI 2 / 2011 Ganzheitlichkeit Martin Thurmair Stichwort StIchwort Die „interdisziplinäre Frühförderung behinderter und entwicklungsgefährdeter Kinder“, auf den weg gebracht im wesentlichen in den 70er Jahren, musste sich als Arbeitsfeld disziplinübergreifend und berufsgruppenübergreifend konstituieren, und sie musste ihr fachliches Profil - ihre fachliche „Identität“, könnte man fast sagen - in disziplinübergreifenden Diskursen finden und etablieren. In diesem Prozess hat „Ganzheitlichkeit“ sehr früh schon eine wichtige rolle gespielt. „Ganzheitlichkeit“ stand 1982 im titel des 2. Symposions Frühförderung, dem 2. Fachkongress für das Arbeitsfeld überhaupt, in der Gegenüberstellung „Ganzheitlichkeit und Methoden in der Frühförderung“. otto Speck, hans- Georg Schlack und hellgard rauh - in der reihenfolge ihres damaligen Auftretens - skizzierten aus pädagogischer, medizinischer und entwicklungspsychologischer Sicht das Spannungsfeld von spezifischen Methoden gegenüber einer „ganzheitlichen“ herangehensweise. Die spezifischen Methoden waren damals vor allem strikte medizinische therapie-Modelle (Stichwort Vojta), verhaltensmodifikatorische Vorgehensweisen in der Psychologie und in der Pädagogik Programme und programmartig ausgelegte Förderansätze. Das konzeptionelle Signal, gegenüber diesen Ansätzen „ganzheitlich“ zu denken und vorzugehen, wurde von vielen Praktikern als öffnend, erleichternd, dem Umgehen mit den Kindern angemessen verstanden. Die „Frühförderung interdisziplinär“, damals frisch etabliert als Fachzeitschrift für das Arbeitsfeld, publizierte die erwähnten Vorträge denn auch unmittelbar in ihrem 2. Jahrgang im Jahr 1983. Das wort von der „Ganzheitlichkeit“ nahm von da an einen raketenartigen Aufstieg, entwickelte sich zu einer Art Losungswort für viele Menschen, die in der Frühförderung arbeiteten, und schnell auch darüber hinaus, und wurde schließlich sozusagen von jedermann und jederfrau wie ein Qualitätssiegel benutzt. wegen seiner Unspezifität und Deutungsoffenheit geriet es aber auch in die Kritik. Dokumentiert ist eine kraftvolle Auseinandersetzung zwischen christoph Anstötz und otto Speck aus dem Jahr 1985: Anstötz qualifizierte „Ganzheitlichkeit“ als „Nebelkerze“ für die jeweilige semantische Umgebung. Aufgrund seiner inflationären Verbreitung hat es seine unterscheidende und profilierende Funktion verloren, wurde in späteren Jahren hinterfragt als „Füllwort“ (hintermair), und unter die „heilpädagogischen Plastik-Begriffe“ gezählt (Kobi). Normierend ist es als Auftrag einer „ganzheitlichen Förderung der persönlichen Entwicklung“ ins SGB IX eingegangen (§ 4, Abs. 1 Satz 4), und wurde in der FrühV sogar der „Komplexleistung“ noch draufgesetzt: § 8 Abs 1 spricht von einer „ganzheitlichen Komplexleistung“. „Ganzheitlichkeit“ ist ein gedrechseltes wort: mit hilfe dreier Suffixe verändert es dreimal seinen wort-charakter. Aus dem Adjektiv „ganz“ wird das Substantiv „Ganzheit“, daraus wiederum das Adjektiv „ganzheitlich“, und daraus wiederum das Substantiv „Ganzheitlichkeit“. So kann man das wort im Satzbau unterschiedlich nutzen; man kann aber auch ein Problem damit bekommen: Adjektive, so lernt man es gemeinhin, bezeichnen Eigenschaften von Sachverhalten, Substantive beziehen sich auf Sachverhalte. Folgefrage mit widerhaken: auf welchen Sachverhalt bezieht sich „Ganzheitlichkeit“? So zu fragen „triggert“ die Definitions- und Sinn-Suche zu diesem wort, die mühsam und wohl auch wenig erfolgreich ist. 123 FI 2 / 2011 Stichwort Auf die Verwendung von „Ganzheitlichkeit“ zu schauen ist da schon interessanter: „Ganzheitlichkeit“ fühlt sich wohl in der Gesellschaft von wörtern wie: Person, ganzer Mensch, Beziehung, ökologisch, systemisch, Interaktion, wertorientierung, aber auch: wohlbefinden, dialogisch, Selbstgestaltung, Autonomie und ähnlichem. „Ganzheitlichkeit“ steht eher in opposition zu: Spezialisierung, Förderprogramm, Defizit, Störung, Problem, Lernziel, Verhaltenstherapie, vielleicht überhaupt „therapie“, gezielte Maßnahme, spezifische Intervention, wissenschaftlich überprüftes Verfahren, … Funktioniert hat „Ganzheitlichkeit“ in der konzeptionellen Entwicklung der interdisziplinären Frühförderung als ein wegweiser, als eine regulative regel (im Sinne John r. Searles) etwa der Art: weite deinen Blick! Schau nicht nur auf das, auf das du mit der Nase gestoßen wirst, nämlich das Problem, das Defizit, die Störung beim Kind, schaue auch auf den Kontext! Besinne dich darauf, dass du mit Kindern, mit Erwachsenen zu tun hast, die wahrgenommen, beachtet, respektiert sein wollen! Besinne dich darauf, daß du Fachkraft auch als Person mit beteiligt bist! was in der orientierung „Ganzheitlichkeit“ vielleicht zu wenig betont werden kann, jedenfalls zu wenig betont worden ist: Bleibe bei deinem Leisten! Besinne dich auf deinen Auftrag! tu etwas Bestimmtes und Zielführendes, über das du auch präzise Auskunft geben kannst! Die orientierung „Ganzheitlichkeit“ hat mittlerweile Konkretisierungen erfahren, die man, zur Ehrenrettung des Begriffs der „Ganzheitlichkeit“ gegenüber seinen Kritikern, als operationalisierungen ansehen könnte: n Im Gespräch mit den Eltern beim Erstgespräch, in der Anamnese und bei vielen anderen Gelegenheiten ist es Standard, das Gespräch klientenzentriert zu führen, weil es darin nicht, zumindest nicht zuvörderst, um objektive Sachverhalte und Informationen geht, sondern darum, das Anliegen, die Geschichte, die Sichtweise der Eltern zu verstehen. n In der Diagnostik ist es Standard, mehrdimensional zu arbeiten, um neben Kind-Faktoren auch das Entwicklungsumfeld zu erfassen und Zusammenhänge im Kind-Eltern- Umfeld-System in den Blick zu bekommen; und es ist Standard, neben objektivierenden Methoden wie tests oder strukturierten Beobachtungen in freien Situationen auch einen „Eindruck“ vom Kind und seinen innewohnenden Kräften zu gewinnen. n In der therapie und Förderung ist es Standard, die Befindlichkeit des Kindes, seinen „Spaß an der Sache“, und den guten Kontakt, die gute Beziehung als bedeutsame Faktoren des Gelingens oder Misslingens von Entwicklungs-Förderung zu beachten und den konkreten Verlauf der Stunden danach auszurichten. n In der Zusammenarbeit mit den Eltern ist es Standard, dass ihre konkrete eigene Lage zur Sprache kommen kann, wenn sie wichtig ist: „Störungen haben Vorrang“. n In der weiterentwicklung der Fachkompetenz der Fachleute ist reflexion und Supervision eine selbstverständliche Anforderung. Aus heutiger Sicht würde man dem Begriff der „Ganzheitlichkeit“ zugutehalten können, dass er - unter dem Leitsatz „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner teile“ - die Bedeutung der Interaktionen und transaktionen in einem System schon thematisiert hat; und auch die Maxime konstruktivistischer Ansätze, dass nur das für ein Individuum wirklich wird, was es in seinem System verstehen und in es integrieren kann, hat er für die Frühförderung in einigen Leit-Maximen bedacht: n „Einbettung von Förderung und therapie in den individuellen Erfahrungsraum“; n „Ausrichtung von Förderung und therapie am thema des Kindes“; n „Beachtung der kindlichen Eigenaktivität“. Die „Ganzheitlichkeit“ hat also - rechtzeitig in die Debatte geworfen - durchaus eine wegweisende Funktion erfüllt; und die Kritik ihrer Kritiker hat in der Sache sicherlich zur Bodenhaftung beigetragen.