Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2011
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Entwicklungsneuropsychologie des Sehens
101
2011
Josef Zihl
Julia A. Zihl
Susanne Schuett
Die Entwicklung der verschiedenen Teilfunktionen der visuellen Wahrnehmung beginnt nach der Geburt und erfolgt in enger Abstimmung zwischen dem aktuellen morphologischen und funktionellen Entwicklungsstand des visuellen Systems und der individuellen visuellen Umwelt des Kleinkindes. Die postnatale Entwicklung der visuellen Wahrnehmung zeigt eine rasche Steigerung der Aufnahme-, Verarbeitungs- und Speicherungsfähigkeit zunehmend komplexerer visueller Informationen; dadurch wird eine altersentsprechende visuelle Wahrnehmungskompetenz sichergestellt. Sehr frühe visuelle Wahrnehmungspräferenzen für komplexe Reize (z. B. Gesichter) weisen auf eine genetische Grundlage einiger visueller Wahrnehmungsleistungen hin, die durch visuelle Erfahrungen allerdings noch ausdifferenziert werden. Frühkindliche Entwicklungsstörungen können in Abhängigkeit von der zugrunde liegenden Ursache sehr spezifische Folgen haben und nur eine Sehleistung (z. B. visuelles Erkennen) oder mehrere Sehleistungen betreffen. Typischerweise findet sich ein Störungsmuster aus mehreren visuellen „Teilleistungsstörungen“ und zusätzlichen kognitiven Beeinträchtigungen. Für die Diagnostik und Behandlung von visuellen Entwicklungsstörungen ist deshalb die Erstellung eines Gesamtprofils erforderlich, das betroffene und erhaltene Sehfunktionen und -leistungen sowie auch den individuellen kognitiven Entwicklungsstand berücksichtigt.
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213 Frühförderung interdisziplinär, 30. Jg., S. 213 -220 (2011) DOI 10.2378/ fi2011.art21d © Ernst Reinhardt Verlag ORIGINALARBEIT Entwicklungsneuropsychologie des Sehens Josef Zihl, Julia A. Zihl, Susanne Schuett 1 Zusammenfassung: Die Entwicklung der verschiedenen Teilfunktionen der visuellen Wahrnehmung beginnt nach der Geburt und erfolgt in enger Abstimmung zwischen dem aktuellen morphologischen und funktionellen Entwicklungsstand des visuellen Systems und der individuellen visuellen Umwelt des Kleinkindes. Die postnatale Entwicklung der visuellen Wahrnehmung zeigt eine rasche Steigerung der Aufnahme-, Verarbeitungs- und Speicherungsfähigkeit zunehmend komplexerer visueller Informationen; dadurch wird eine altersentsprechende visuelle Wahrnehmungskompetenz sichergestellt. Sehr frühe visuelle Wahrnehmungspräferenzen für komplexe Reize (z. B. Gesichter) weisen auf eine genetische Grundlage einiger visueller Wahrnehmungsleistungen hin, die durch visuelle Erfahrungen allerdings noch ausdifferenziert werden. Frühkindliche Entwicklungsstörungen können in Abhängigkeit von der zugrunde liegenden Ursache sehr spezifische Folgen haben und nur eine Sehleistung (z. B. visuelles Erkennen) oder mehrere Sehleistungen betreffen. Typischerweise findet sich ein Störungsmuster aus mehreren visuellen „Teilleistungsstörungen“ und zusätzlichen kognitiven Beeinträchtigungen. Für die Diagnostik und Behandlung von visuellen Entwicklungsstörungen ist deshalb die Erstellung eines Gesamtprofils erforderlich, das betroffene und erhaltene Sehfunktionen und -leistungen sowie auch den individuellen kognitiven Entwicklungsstand berücksichtigt. Schlüsselwörter: visuelle Wahrnehmung, Entwicklung, zerebrale Sehstörungen, Entwicklungsneuropsychologie Developmental Neuropsychology of Vision Summary: The development of different visual functions begins after birth. Visual perception develops in accordance with the actual morphological and functional developmental stage of the visual system and the individual visual world of the infant. Postnatal visual development is characterised by a rapid increase in the ability to acquire, process and store increasingly complex visual information, ensuring age-appropriate visual functioning. Perceptual preferences for complex stimuli (e. g. faces) can be observed very early and seem to indicate the genetic basis of some visual functions, which are nevertheless further differentiated by visual experience. Depending on the underlying cause, early developmental disorders can have very specific consequences affecting only one visual function and ability (e. g. visual recognition). Most commonly, however, infants show multiple visual disorders and additional cognitive deficits. Assessing both the affected and preserved visual functions and abilities with consideration of the cognitive development is therefore of great importance for an effective diagnosis and treatment of visual developmental disorders. Keywords: visual perception, development, cerebral visual disorders, developmental neuropsychology U nser Wissen über die Beschaffenheit der physikalischen und sozialen Umwelt beruht zum Großteil auf visuellen Informationen, die über den Sehsinn aufgenommen und in verschiedenen subkortikalen und kortikalen Strukturen verarbeitet und gespeichert werden. Visuelle Wahrnehmung umfasst alle Aktivitäten, die dem (längerfristigen) visuellen Informationsgewinn dienen, einschließlich der dabei involvierten kognitiven (Aufmerksamkeit, Gedächtnis, exekutive Funktionen), motorischen (vor allem Blick- und Handmotorik), motivationalen (Neugierde) und emotionalen Prozesse (affektive Bewertung); sie bildet somit einen entscheidenden Bestandteil menschlichen Erkennens, 214 FI 4 / 2011 Josef Zihl et al. Erlebens und Handelns (Goldstein, 2007). Aufgrund ihrer Bedeutung als „Fernsinn“ spielt die visuelle Wahrnehmung eine besondere Rolle, da der Großteil der Informationen über unsere Umwelt über diese Modalität aufgenommen wird; die mentale Repräsentation der Welt ist deshalb vorwiegend visueller Natur. Visuelle Wahrnehmungsleistungen lassen sich verschiedenen Kategorien zuordnen: Entdecken, Lokalisieren, Unterscheiden und Erkennen. Visuelles Erkennen baut wesentlich auf anderen visuellen Funktionen/ Teilleistungen auf: dazu zählen z. B. Gesichtsfeld, Sehschärfe, Kontrastsehen, Farbsehen, Formsehen, stereoskopisches Sehen; hinzu kommen die räumliche und zeitliche Synthese der einzelnen Merkmale zu einem Ganzen (Gestaltbildung), der Abgleich mit bereits vorhandenen visuellen Erfahrungen und die Überprüfung des Ergebnisses auf Plausibilität („Hypothesenprüfung“). Da das visuelle Informationsangebot erst nach der Geburt zugänglich ist, kann sich das visuelle System funktionell erst ab diesem Zeitpunkt entwickeln und ausdifferenzieren; allerdings erfolgt die Entwicklung sehr rasch innerhalb von wenigen Monaten (vgl. Tabelle 1). Alter Fähigkeiten Geburt n Reaktionen auf Bewegung, Farbe und Licht n Sehschärfe etwa 20/ 150 n blickmotorisches Abtasten der Umgebung in einem Radius von ca. 45 Grad n Aufnahme von Augenkontakt 1. -2. LM n Suchbewegungen in einem Radius von 60 -90 Grad n Interesse an Mobiles n Sehschärfe nimmt zu n beginnendes Binokularsehen ab etwa der 6. Woche n Intensiver Augenkontakt 2. -4. LM n Zunahme der Akkommodation (Naheinstellung der Linse) n konjugierte Augenbewegungen in allen Blickrichtungen n Ausweitung der Suchbewegungen auf einen Radius von 180 Grad n betrachtet die eigene Hand beim Spielen n zeigt Abwehrreaktionen bei Objekten, die sich auf Kollisionskurs befinden 4. -6. LM n allmähliche Ausdehnung des visuellen Suchfeldes (Aufmerksamkeitsfeldes) n weitere Zunahme der Sehschärfe n Binokularsehen ist etabliert n Beobachten des Fallens und Wegrollens von Objekten n visuelles Erkennen einzelner Objekte und Personen (Gesichter) ist möglich n Greifen nach bewegten Objekten 6. -12. LM n die Sehschärfe beträgt 20/ 100 n Bemerken/ Entdecken von kleinen Objekten (z. B. Brotbrösel) n Berührung von und später Greifen nach stationären Objekten n Farbpräferenzen werden deutlicher n Meiden visueller Tiefe n betrachtet und untersucht Objekte genau n gute visuelle Orientierung in gewohnter Umgebung zu Hause n visuelles Wiedererkennen von Bildern n Augenkontakt mit Erwachsenen über mehrere Meter Distanz n schaut durch das Fenster und erkennt andere Menschen n effiziente visuelle Kommunikation (Mimik, Gestik) möglich Tab. 1: Entwicklung visueller Fähigkeiten (modifiziert nach Reinis & Goldman, 1980 und Hyvärinen, 2000). LM: Lebensmonat 215 FI 4 / 2011 Entwicklungsneuropsychologie des Sehens Die morphologische und funktionelle Entwicklung des Sehsystems erfolgt dabei vorwiegend in seriellen Schritten (Banks & Shannon, 1993; Candy, 2006; Iliescu & Dannemiller, 2008); sie hängt in den ersten Lebensmonaten von der Entwicklung der zentralen und der peripheren Anteile ab (z.B. Reifegrad des Auges). Zum Zeitpunkt der Geburt ist die Netzhaut vor allem im Zentrum (Fovea: Stelle des besten Sehens) noch nicht vollständig entwickelt, daher bleibt die Sehschärfe in den ersten Lebensmonaten im Wesentlichen auf den Nahbereich (bis ca. 30 cm) beschränkt. Am Ende des 1. Lebensjahres ist die Entwicklung der Fovea aber bereits sehr weit fortgeschritten. Frühe visuelle Erfahrungen sind notwendig, damit sich die zentralnervösen Strukturen und Funktionen dem visuellen Umweltangebot und damit auch den visuellen Umweltgegebenheiten entsprechend entwickeln können (Maurer, Lewis & Mondloch, 2008; Lewis & Maurer, 2009). Monokuläre visuelle Deprivation (z. B. bei Strabismus oder Astigmatismus) kann die Entwicklung der Fovea und des zugehörigen visuellen Kortex beeinträchtigen, sodass die Neurone nur einen geringen Grad an Sensitivität für die Verarbeitung von Form- und Mustermerkmalen erreichen. Chronische Folgen sind die fehlende Entwicklung bzw. Ausdifferenzierung von Sehfunktionen (z. B. Sehschärfe, räumliche Kontrastsensitivität) und des beidäugigen Sehens (Kiorpes & McKee, 1999; Sireteanu, 2000; Maurer, Lewis & Mondloch, 2005; 2008; Lewis & Maurer, 2009). Die zunehmende Differenzierung der visuellen Informationsverarbeitung und die Entwicklung der Kohärenz bzw. Konstanz der visuellen Wahrnehmung bilden eine wesentliche Voraussetzung für die zuverlässige visuelle Repräsentation der Umwelt im Gehirn (vgl. Tabelle 2). Das koordinierte Zusammenspiel der verschiedenen visuellen Sehfunktionen, der Blick- und Greifmotorik sowie der Kognition, insbesondere der Aufmerksamkeit, Erfahrungsbildung, Steuerung und Überwachung der visuellen Wahrnehmungsaktivitäten, garantiert eine hohe Geschwindigkeit und Sicherheit auch bei komplexen visuellen Wahrnehmungsaktivitäten bzw. visuell gesteuerten Verhaltensweisen, wie sie zur Beherrschung des Alltags notwendig sind. Bereits zum Zeitpunkt der Geburt stehen einfache und komplexe visuelle Reize zur Verfügung; allerdings ist das Sehsystem zu diesem Zeitpunkt nur in einem sehr begrenzten Umfang in der Lage, komplexe Reize adäquat zu verarbeiten. Interessanterweise finden sich aber bereits in den ersten Lebenswochen Hinweise auf sogenannte visuelle Wahrnehmungspräferenzen, d. h. es werden bestimmte n eine ausreichende Unterschiedsempfindlichkeit für visuelle Reize (Helligkeiten, Grauwerte, Farbe, Größe, Form, Tiefe, Position, Orientierung, Bewegung usw.) n die Selektion von relevanten Merkmalen für das Unterscheiden und Erkennen von Reizen n die simultane bzw. serielle Synthese von Einzelmerkmalen zu einem Ganzen (Objekt, Gesicht, Szene, Wort) n die Speicherung der charakteristischen Merkmale im Gedächtnis als Grundlage für das Wiedererkennen n das Identifizieren eines Objekts (Gesichts, Ortes) auch unter wechselnden Bedingungen (sog. Konstanzleistungen) n die Verbindung (Assoziation) mit zusätzlichen wichtigen Informationen (Gebrauch, Name, Kontext, Erfahrung) Tab. 2: Voraussetzungen für die zuverlässige visuelle Repräsentation der Umwelt im Gehirn (modifiziert nach Zihl et al., 2011) 216 FI 4 / 2011 Josef Zihl et al. optische Reize anderen gegenüber bevorzugt, ohne dass eine entsprechende visuelle Wahrnehmungserfahrung dafür gegeben war (Maurer, Lewis & Mondloch, 2008; McKone, Crookes, & Kanwisher, 2009; Hunnius & Bekkering, 2010). In diesem frühen Alter bevorzugen Kinder z. B. gemusterte gegenüber ungemusterten und dreidimensionale gegenüber zweidimensionalen Reizen. Besonders auffallend ist die Präferenz für Gesichter und Gesichter-ähnlichen Formen gegenüber anderen Formen gleicher Komplexität; diese Beobachtung hat zur Annahme einer angeborenen Wahrnehmungspräferenz (und damit auch Wahrnehmungsfähigkeit) für Gesichter geführt (Pascalis & Slater, 2003; de Haan, 2008; McKone, Crookes & Kanwisher, 2009). Nach der Geburt findet ein sehr rasches Wahrnehmungslernen bezüglich der Differenzierung individueller Gesichter bzw. von Gesichtsmerkmalen statt; dabei dürfte das Gesicht, das am häufigsten wahrgenommen wird (in der Regel das Gesicht der Mutter), eine besondere Rolle spielen. Dieses Gesicht wird sehr früh visuell wiedererkannt und anderen Gesichtern gegenüber bevorzugt; es dient zudem vermutlich auch als „Mittel“ zum Erwerb von Wissen über die Bedeutung des Gesichtsausdrucks (soziale Wahrnehmung und soziales Wissen; vgl. Zihl, Hußlein & Zihl, 2009). Dieses Wissen hilft dem Kleinkind, später auch andere Personen wiederzuerkennen und ihren Gesichtsausdruck richtig zu deuten, d. h. zu verstehen (Bushnell, 2001). Dabei spielt auch die Stimme der Mutter bzw. der Bezugsperson eine wichtige Rolle (Sai, 2005). Im Alter von 4 Monaten können Kinder ein ihnen vertrautes Gesicht auch dann wieder erkennen, wenn typische Zusatzmerkmale (z. B. Frisur) entfernt werden (Turati, Bulf & Simion, 2008). Dies bedeutet, dass Kinder in diesem Alter bestimmte Gesichtsmerkmale für das Erkennen der Identität einer Person zuverlässig verwenden können. Naturalistische („echte“) Gesichter werden ab dem 6. Lebensmonat gegenüber Gesichtsabbildungen (Fotografien; Strichzeichnungen) als „Prototypen“ bevorzugt, und zwar unabhängig von Alter, Geschlecht und Hautfarbe des Gesichts (Rubinstein, Kalakanis & Langlois, 1999). Ähnlich wie für Objekte entwickelt sich in den nächsten Lebensmonaten parallel zur zunehmenden Unterscheidungsfähigkeit von Gesichtern auch die Invariantenbildung und damit die Zuordnung des gesehenen Gesichts zu einem Prototyp, sowohl bezüglich der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse von Gesichtern (z. B. Frauen, Männer, Kinder) als auch der Individualität einzelner Personen (z. B. Vater, Geschwister, Großeltern, Onkel, Tanten usw.). Die visuelle Präferenz für Gesichter, die auch ein gutes Beispiel für die frühe, zumindest teilweise angeborene ganzheitliche Wahrnehmung im Sinne einer Synthese aus globaler und lokaler Verarbeitung darstellt, kann aufgrund prä- oder postnataler Ursachen entweder fehlen oder früh verloren gehen. Ariel & Sadeh (1996) haben einen sehr interessanten Fallbericht über einen achtjährigen Jungen publiziert, der vermutlich eine kongenitale Form einer sogenannten visuellen Agnosie aufwies. Unter visueller Agnosie wird die (angeborene oder durch eine Hirnschädigung verursachte) Unfähigkeit verstanden, optische Reize (z. B. Objekte oder Gesichter) ausschließlich auf der Basis visueller Informationen zu identifizieren bzw. wieder zu erkennen. Trotz komplikationsloser Schwangerschaft und Geburt sowie altersgerechter sozialer Entwicklung fiel bei dem Achtjährigen auf, dass er weder sich selbst noch seine Klassenfreunde auf Fotografien erkennen konnte. Eine ausführliche neuropsychologische Untersuchung ergab, dass im Vergleich zu gleichaltrigen Schülern tatsächlich alle Leistungen der Gesichterwahrnehmung deutlich beeinträchtigt waren; er hatte zudem ähnliche Schwierigkeiten im visuellen Erkennen von Objekten. Interessanterweise war er aber in der Differenzierung von Gesichtern, die einen genauen Vergleich der Gesichtsmerkmale erforderte, der Vergleichsgruppe überlegen. Die Beeinträchti- 217 FI 4 / 2011 Entwicklungsneuropsychologie des Sehens gung der Gesichterwahrnehmung betraf auch das Erkennen des Gesichtsausdrucks, also der affektiven Komponente (vgl. Tabelle 3). Die Sehleistungen (z. B. Gesichtsfeld, Sehschärfe, Kontrastsensitivität, Stereopsis, Formsehen) waren nicht reduziert; sie schieden deshalb als Erklärung für die Störung des visuellen Erkennens aus. In der taktilen und auditiven Modalität bestanden keinerlei Schwierigkeiten im Erkennen. Trotz dieser vermutlich angeborenen visuellen Agnosie für Objekte und Gesichter (Prosopagnosie; Verlust der Fähigkeit, Gesichter visuell zu erkennen), fanden sich keine Auffälligkeiten in der sozialen und emotionalen Entwicklung. Diese positive Entwicklung lässt sich als Anpassung an diese besondere Entwicklungsbedingung interpretieren, deren Grundlage in der „dominanten“ Verwendung lokaler Gesichtsmerkmale (Details; vgl. Stollhoff et al., 2010) liegen könnte. Hinzu kommt vermutlich eine gesteigerte Verwertung auditiver Informationen und Kontextinformationen, die sich ohne spezielle, systematische Förderung entwickeln kann, wie dies auch bei erworbener Prosopagnosie der Fall ist (Hoover et al., 2010). Möglicherweise spielt auch die implizite Gesichtererkennung eine gewisse Rolle, die zumindest eine ausreichende Grundlage für die Entwicklung eines „Gefühls der Bekanntheit“ eines Gesichts darstellt (Avidan & Behrmann, 2008). Seit dem Fallbericht von Ariel & Sadeh (1996) sind weitere Veröffentlichungen insbesondere zur Entwicklungsprosopagnosie erschienen, die zudem nahelegen, dass unterschiedliche visuell-kognitive Funktionsstörungen zu dieser komplexen visuellen Wahrnehmungsstörung führen können und damit Unterformen zu erwarten sind (Kress & Daum, 2003). Kompensationsstrategien können in Fällen von kongenitaler Prosopagnosie auch durch systematisches, Alltag-orientiertes Üben spezifisch vermittelt werden, sodass die Fähigkeit zum (korrekten) Erkennen und Wiedererkennen (z. B. der Gesichter von Familienangehörigen und Freunden) deutlich zunimmt (Brunsdon et al., 2006). Dieses Ergebnis macht deutlich, dass die Wechselwirkung zwischen einem „enriched environment“ (wiederholtes Auftreten von Gesichtern) und der systematischen und wiederholten spontanen oder durch explizites Lernen erworbenen Verwendung dieser „visuellen Umwelt“ zu einer nachhaltigen, auch alltagsrelevanten Funktionszunahme führen kann. Ein anderes Bild der Entwicklungsplastizität ergibt sich, wenn der Verlust des visuellen Erkennens aufgrund einer Hirnschädigung nach Abschluss der Entwicklung dieser wichtigen visuellen Wahrnehmungsleistung eintritt (Lê et al., 2002). Ein zum Zeitpunkt der Untersuchung 30-jähriger Mann war im Alter von 3 Jahren an einer Meningoenzephalitis erkrankt und wies seit dieser Zeit so schwere Störungen der visuellen Wahrnehmung und des visuellen Erkennens auf, dass er als hochgradig sehbehindert eingestuft wurde. Die intensive Sehbehindertenförderung hatte wenig Erfolg; deshalb erhielt er schließlich eine intensive Blindenförderung und lernte auch die Blindenschrift. Die visuelle Bewegungs- und Raumwahrnehmung waren jedoch erhalten, so dass er über eine gute visuell-räumliche Navigation verfügte. Er entwickelte erstaunliche visuomotorische Fertigkeiten; so konnte er Tischtennis spielen und war Torhüter in einer Fußballmannschaft. In der Untersuchung (im Alter von 30 Jahren) zeigte sich, dass er Objekte Stimulusmaterial Leistungen n reale Objekte n Objekte auf Abbildungen n komplexe Szenen n Synthese von Objekten n sich überlappende Objekte n Einzelbuchstaben n vertraute Gesichter (Familie) n Gesichterunterscheidung n Erkennen von Gesichtsteilen n Unterscheidung von Alter und Geschlecht n Erkennen von Gesichtsausdruck å å å å å å å å (å å) ¢ å å å å (å å) Tab. 3: Beeinträchtigung des visuellen Erkennens bei einem 8-jährigen Jungen mit einer kongenitalen Agnosie (modifiziert nach Ariel & Sadeh, 1996). å å: deutlich schlechtere Leistungen als die Kontrollgruppe, å: schlechtere Leistungen als die Kontrollgruppe ¢: bessere Leistungen als die Altersgruppe; (å å): deutlich reduzierte Leistung (kein Vergleich mit Kontrollgruppe) 218 FI 4 / 2011 Josef Zihl et al. und Personen visuell nur schwer oder gar nicht erkennen, ihre Umrisse aber beschreiben konnte. Er wies eine homonyme linksseitige Halbseitenblindheit, aber keinen visuellen Neglect auf. Die beidäugige Sehschärfe (für Formen) betrug 60 %; Farben konnten nicht wahrgenommen werden (zerebrale Achromatopsie); die Stereopsis (Tiefensehen) war intakt. Bei der Wahrnehmung bzw. Identifizierung von Objekten oder Gesichtern war er ausschließlich auf die Verarbeitung sehr charakteristischer Merkmale angewiesen, wobei das Erkennen von Objekten besser erhalten war als das Erkennen von Gesichtern. Die Strategie für die visuelle Differenzierung und das visuelle Erkennen von Objekten und Gesichtern war durch einen sklavischen Vergleich von Details („feature-by-feature analysis“) charakterisiert, der mit einem entsprechend hohen Zeitaufwand verbunden war. Das auditive und taktile Erkennen war hingegen intakt. Beiden Fällen ist eine offensichtlich irreversible Funktionsstörung gemeinsam, die auf der höchsten Ebene visueller Wahrnehmungsleistungen, dem visuellen Erkennen, anzusiedeln und, im ersten Fall aufgrund einer pränatalen Ursache, im zweiten Fall aufgrund einer postnatalen Ursache eingetreten ist. In beiden Fällen finden sich sehr effiziente Anpassungsstrategien. Die normale, „automatisierte“ global-lokale Verarbeitungsweise von Objekten und vor allem von Gesichtern wird durch teilweise sehr zeitaufwändige, vornehmlich lokale Verarbeitungsprozesse ersetzt, d. h. lokale Merkmale werden effizienter genutzt als dies im Normalfall geschieht. Hinzu kommt die offensichtlich bessere Nutzung von Informationen aus anderen Wahrnehmungsmodalitäten, vor allem dem Hörsinn und dem Tastsinn. Interessanterweise entwickelten sich diese Anpassungsstrategien in beiden Fällen auch ohne systematische Therapiemaßnahmen zu Routinen, d. h. sie wurden automatisiert. Dies ist vor allem im zweiten Fall interessant, da das visuelle Erkennen und die dafür erforderlichen Voraussetzungen im dritten Lebensjahr bereits entwickelt waren und nach der Hirnschädigung sozusagen neue Voraussetzungen dafür geschaffen werden mussten. Die Beobachtung, dass sich in diesem Fall die visuelle Raumwahrnehmung und die visuell-motorische Abstimmung offensichtlich normal entwickeln konnten, obwohl nur noch die sog. Wo-Route (dorsaler bzw. okzipito-parietaler Verarbeitungsweg) der linken Hemisphäre dafür zur Verfügung stand, spricht für die Annahme, dass diese Route auch ohne die sog. Was-Route (ventraler oder okzipito-temporaler Verarbeitungsweg; Ungerleider & Haxby, 1994) ihre Funktionen entwickeln kann. Hingegen kann die Annahme, dass visuell-räumliche Leistungen bei Rechtshändern hauptsächlich in der rechten Hemisphäre verarbeitet und gespeichert werden (vgl. Kerkhoff, 2006), für die frühe visuelle Wahrnehmungsentwicklung nicht aufrechterhalten werden; offensichtlich ist, zumindest bis zu einem bestimmten Organisationsniveau und/ oder einem bestimmten Alter, auch die linke Hemisphäre allein dazu in der Lage. Beide Fälle zeigen aber auch die Grenzen der Entwicklungsplastizität auf; das visuelle Erkennen entwickelte sich nicht normal bzw. kehrte nicht in seiner „Normalform“ zurück. Entscheidend für die sehr effiziente Spontananpassung im Sinne einer Kompensation scheint zu sein, dass sich die übrigen kognitiven Funktionssysteme in beiden Fällen normal entwickeln konnten, sodass die erforderliche Lernfähigkeit gegeben war, um die erfolgreiche Anpassung an diese schwierige Bedingung und ihre Folgen zu ermöglichen. Ähnlich wie beim Erwachsenen können auch Kinder bereits in der frühen Entwicklung Störungen von Sehfunktionen bzw. von visuellen Wahrnehmungsleistungen aufweisen, wenn das zentrale visuelle System durch eine angeborene Entwicklungsstörung oder eine morphologische Schädigung betroffen ist. Nachstehend werden häufige zerebrale Sehstörungen (angeführt sind die jeweils betroffenen Funktionen bzw. Leistungen) bei Kindern unter Berücksichtigung der zugrunde liegenden Ätiologie kurz dargestellt (Übersicht bei Zihl et al., 2011). 219 FI 4 / 2011 Entwicklungsneuropsychologie des Sehens Abschließend soll nochmals darauf hingewiesen werden, dass visuelles Wahrnehmen immer in Kooperation mit anderen psychischen Funktionssystemen stattfindet. Dies bedeutet, dass sich Entwicklungsstörungen des Sehens indirekt auch auf andere psychische Funktionssysteme (z. B. Neugierde, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Motorik) auswirken bzw. dass Störungen in nicht-visuellen Funktionssystemen die visuelle Wahrnehmungsentwicklung behindern können. Die Untersuchung visueller Wahrnehmungsfunktionen und -leistungen sollte deshalb die anderen psychischen Funktionssysteme berücksichtigen, damit zwischen primären und sekundären zerebralen Sehstörungen unterschieden werden kann. Diese diagnostische Unterscheidung ist insbesondere für die Planung und Durchführung individueller Behandlungs- und Fördermaßnahmen wichtig. Prof. Dr. Josef Zihl Ludwig-Maximilians-Universität München Department Psychologie, Neuropsychologie Leopoldstr. 13 D-80802 München E-Mail: zihl@psy.lmu.de Anmerkung 1 Josef Zihl, Julia A. Zihl: Ludwig-Maximilians- Universität München, Department Psychologie, Neuropsychologie Susanne Schuett: Universität Wien, Fakultät für Psychologie, Institut für Klinische, Biologische und Differentielle Psychologie Literatur Ariel, R. & Sadeh, M. (1996). 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Philadelphia: Lippincott Williams & Wilkins Turner Syndrom Visuell-räumliche Funktionen bzw. visuell-räumliches Arbeitsgedächtnis Williams Syndrom (Williams-Beuren Syndrom) Sehschärfe, Stereopsis, Raumsehen, globale visuelle Verarbeitung; topografische Orientierung. Frühgeburt verzögerte Entwicklung der Sehfunktionen (Visus, Gesichtsfeld, Kontrastsehen, Stereopsis, visuell-räumliche Funktionen, visuelles Erkennen) und/ oder ein vielfältiges Muster an Funktionseinbußen im visuellen und okulomotorischen Bereich. Periventrikuläre Leukomalazie (PVL), Hypoxie Gesichtsfeld (meist bilateral), Visus, visuell-räumliche Funktionen, visuelles Erkennen Hydrocephalus Sehschärfe, visuell-räumliche Funktionen, visuell-räumliche Orientierung, Simultansehen, visuelles Erkennen. Neonatale Hypoglykämie Gesichtsfeld (uni- oder bilateral), Sehschärfe Schädel-Hirn-Trauma Gesichtsfeld (uni- oder bilateral), Sehschärfe 220 FI 4 / 2011 Josef Zihl et al. de Haan, M. (2008). 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