Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2011
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STICHWORT: Familienorientierung
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2011
Stefan Engeln
Konsequente Familienorientierung in der Früh-förderung ist dringend erforderlich und muss fachlich und organisatorisch abgesichert und weiterentwickelt werden. Bis in die 70er-Jahre lebten Familien mit ihren behinderten Kleinkindern oft vollkommen isoliert, eine Förderung oder Begleitung in ihrer schwierigen Lebenssituation war kaum vorhanden. Es entwickelte sich die Haus- und Frühbetreuung: Ein Name, der die Situation heute noch sehr gut widerspiegelt, der sich mit den Jahren als "Frühförderung" bezeichnete und jetzt als Interdisziplinäre Frühförderung formuliert wird.
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221 FI 4 / 2011 Stichwort STICHWORT Konsequente Familienorientierung in der Frühförderung ist dringend erforderlich und muss fachlich und organisatorisch abgesichert und weiterentwickelt werden. Bis in die 70er-Jahre lebten Familien mit ihren behinderten Kleinkindern oft vollkommen isoliert, eine Förderung oder Begleitung in ihrer schwierigen Lebenssituation war kaum vorhanden. Es entwickelte sich die Haus- und Frühbetreuung: Ein Name, der die Situation heute noch sehr gut widerspiegelt, der sich mit den Jahren als „Frühförderung“ bezeichnete und jetzt als Interdisziplinäre Frühförderung formuliert wird. In der Bezeichnung „Haus- und Frühbetreuung“ befand sich die „Familienorientierung“ zwangsläufig als Ausgangspunkt und ist bis heute ein Schwerpunkt. Die Frühbetreuung wurde fast ausschließlich mobil in den Familien durchgeführt. Die Mutter war in der Regel bei der Frühförderstunde dabei und nicht selten auch Geschwisterkinder. Auch die Großeltern in der damaligen Familienstruktur waren noch häufiger anzutreffen. Durch die direkte häusliche Konfrontationwurde ein einzigartiges Instrumentarium geschaffen, dass sich unmittelbar mit den Sorgen und Nöten der Familie befasste, es entwickelte sich ein differenziertes Angebot. Der Deutsche Bildungsrat formulierte bereits 1973 sehr klar: „Wegen der besonderen Bedeutung der Bezugspersonen für die soziale Entwicklung des Kindes sollte die Förderung behinderter und entwicklungsauffälliger Kinder nach Möglichkeit im häuslichen Bereich erfolgen.“ In relativ kurzer Zeit entstand in Deutschland ein großes Netzwerk an Frühförderstellen, auch anschließend in den neuen Bundesländern. Dieser Erfolg der Frühförderung begründet sich überwiegend durch das mobile und somit familienorientierte Angebot. Durch ambulante Angebote, d. h. durch Maßnahmen in der Einrichtung (Praxiseffekt) kann das Kennenlernen und die direkte Einflussnahme auf das Lebensumfeld des Kindes nur ansatzweise berücksichtigt werden. In diesem Zusammenhang muss allerdings betont werden, dass es auch Gründe für ambulante Maßnahmen gibt, die in der Kürze dieses Beitrages nicht weiter erläutert werden können. Dieses differenzierte Hilfeangebot der Familienorientierung beschrieb Sarimski (1996) folgendermaßen: „Die Vermittlung von Informationen über die Behinderung und die Entwicklungsperspektiven des Kindes, die Vermittlung günstiger Interaktionsformen mit dem Kind, die eine Spiel-, Sprach- und Sozialentwicklung unterstützen, das Stärken der elterlichen Entscheidungskompetenz im System der Förder- und Therapieangebote, die Vermittlung möglicher sozialer und finanzieller Entlastungen sowie die psychologische Beratung, um die Alltagsbelastungen, langfristige Sorgen und Einschränkungen zu bewältigen und ein emotionales Gleichgewicht zu finden oder aufrechtzuerhalten.“ Wie komplex die Angebote der Frühförderung an die Familien sind, wird bei Thurmair und Naggl 2010 geschildert: in der Eingangsphase n Erstgespräch n Diagnosevermittlung im Förderprozess a) innerhalb der Förderstunde n Information und fachliche Beratung n Anleitung Familienorientierung Stefan Engeln 222 FI 4 / 2011 Stichwort n Begleitung n Familienhilfe b) außerhalb der Förderstunde n Krisenberatung n Familienberatung n Beratung zur Entscheidungsfindung bei Behandlungsmaßnahmen n Familienhilfe, Vermittlung sozialer und finanzieller Ressourcen n Elterngruppen und Elterngesprächskreise Hierbei ergibt sich allerdings die Frage der Abgrenzung und die „Überlassung“ von Aufgaben an kooperierende Dienste. Dies muss jeweils individuell abgeklärt werden und für Eltern transparent sein. In der konkreten Frühfördersituation bedeutet dies (Brandau/ Pretis) 1 : n Fachkräfte sind temporäre Gäste in der Familie n Fachkräfte respektieren Wertesysteme (MigrantInnen) n Fachkräfte kommunizieren immer verständlich n Fachkräfte sind Impulsgeber n Fachkräfte akzeptieren Eltern als EntscheidungsträgerInnen. Angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung bei Familien mit besonderen elterlichen Belastungen und Überforderungen durch Arbeitslosigkeit, Überschuldungen, Migrationsproblemen, Veränderungen von komplexen Arbeitsstrukturen u. a. befinden sich besonders Kinder in sozial benachteiligten Familien in häufig sehr ungünstigen Lebenssituationen, die eine gesunde und gute Entwicklung gefährden. Diese familiäre Situation muss realisiert werden und die Familienorientierung in die tägliche Frühförderarbeit einfließen. Neben der kindzentrierten Arbeit muss ein Bewusstsein für die wachsenden Anforderungen an Beratung, Unterstützung und Anleitung der Eltern gewährleistet sein. Die Vereinigung für Interdisziplinäre Frühförderung formulierte in ihrer Stellungnahme zu Komplexleistung 2008: „Im Mittelpunkt der Komplexleistung steht das Kind mit den Besonderheiten seiner Entwicklung in seiner Familie und Lebenswelt … Die Angebote richten sich an das Kind und seine Familie. Die Einbeziehung der Eltern ist wesentlicher Bestandteil der Komplexleistung.“ In den Folgejahren der Frühförderung zeigte sich der Ansatz der „Familienorientierung“ als sehr erfolgreich: „Eltern die gelernt haben, ihre eigenen Kompetenzen weiterzuentwickeln und durch Selbsthilfe zu Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung gekommen sind, können auch ihre Töchter und Söhne angemessen unterstützen“ (Wilken, 2000). Somit trägt die Familienorientierung dazu bei, die Qualität der Frühförderleistungen zu gewährleisten und zu steigern, dies bedeutet auch, gesunde Ressourcen zu verstärken und zu aktivieren. Die verschiedenen Maßnahmen der Frühförderung erfordern ein hohes Maß an Aufgabenteilung. Das interdisziplinäre Team muss die Angebote den Eltern gegenüber klar definieren und auch Abgrenzungen deutlich machen. Einfach gesagt: Wer gibt welche Informationen? Wer führt welche Beratungen durch? Wer führt welche Anleitungen durch? und: Wer fasst zusammen und koordiniert die Maßnahmen? Besonders gefordert ist die Frühförderung, wenn andere Maßnahmeträger in der Familie tätig sind z. B. sozialpädagogische Familienhilfe, allgemeine Sozialdienste. Auch die Absprache mit den behandelnden Kinderärzten, Kliniken und Kindertagesstätten ist erforder- 1 Brandau/ Pretis, 2008: Professionelle Arbeit mit Eltern. 10. Forum Frühförderung, Überregionale Arbeitsstelle Frühförderung Brandenburg 2008. Innsbruck, Studienverlag 223 FI 4 / 2011 Stichwort / Fachtagungen und Kongresse lich, sie werden zwar außerhalb der Familien aufgesucht, aber in der Beratung und Information spielen sie eine wichtige Rolle. Bei dieser Aufgabenbeschreibung eines familienorientierten Ansatzes in der Frühförderung sind entsprechende Rahmenbedingen erforderlich, die leider noch nicht ausreichend zur Verfügung stehen, aber in der aktuellen gesellschaftlichen Situation, in der sich Familien befinden, dringend geboten sind. Von daher sind besonders die Versuche von Kostenträgern zu kritisieren, die mobile, familienorientierte Frühförderung reduzieren wollen oder sogar verhindern. Die Familienorientierung und der niederschwellige Ansatz der Frühförderung muss erhalten und ausgebaut werden. Stefan Engeln Vorsitzender der „Vereinigung für Interdisziplinäre Frühförderung“ Leiter der Interdisziplinären Frühförderung und Beratungsstelle der Lebenshilfe Nürnberg e.V. Krelingstraße 41 D-90408 Nürnberg E-Mail: EngelnS@lhnbg.de FACHTAGUNGEN UND KONGRESSE 45. Bundesfachtagung des BHP ! Gemeinsame Wege - Inklusion als Anspruch und Auftrag der Heilpädagogik 25. - 27. November 2011, Berlin Kontakt: Berufs- und Fachverband Heilpädagogik e.V., Michaelkirchstr. 17/ 18, 10179 Berlin info@bhponline.de, www.bhponline.de Wissenschaftliches Symposium des Bundesverbandes der akademischen Sprachtherapeuten dbs Prosodie und Kindersprache 27. und 28. Januar.2012, Universität Marburg Information: http: / / dbs-ev.de/ index.php? id=96
