eJournals Frühförderung interdisziplinär 30/2

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2011.art09d
41
2011
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Ein Dreijähriger verliert seine Pflegefamilie

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2011
Maria Mögel
Die Frühe Eltern-Kind-Beziehung im familialen Gruppenkontext Die von der Psychotherapie- und Bindungsforschung inspirierte Säuglingsforschung hat sich in den letzten Jahrzehnten intensiv mit der prägenden Bedeutung der frühen Mutter-Kind-Beziehung für die kindliche Entwicklung beschäftigt und zur Anwendung dieser Erkenntnisse in angrenzende Fachgebiete wie z. B. im Kindesschutz (Ziegenhain et al., 2008) angeregt. In der Einschätzung, Begleitung und Behandlung früher hochbelasteter Mutter-Kind-Dyaden begegnen wir Frauen mit ihren Babys, die den besonderen Schutz stationärer oder anderer institutioneller Hilfen zur Bewältigung des Alltags brauchen. Können wir unsere Konzepte der frühen Eltern-Kind-Beziehung auf diese Verhältnisse besonderer Elternschaft übertragen oder müssen wir hier nicht Anpassungen vornehmen?
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105 Frühförderung interdisziplinär, 30. Jg., S. 105 -113 (2011) DOI 10.2378/ fi2011.art09d © Ernst Reinhardt Verlag AuS DER PRAxIS Ein Dreijähriger verliert seine Pflegefamilie Soziale Elternschaft als Aufgabe der Frühen Kindheit Maria Mögel Die Frühe Eltern-Kind-Beziehung im familialen Gruppenkontext D ie von der Psychotherapie- und Bindungsforschung inspirierte Säuglingsforschung hat sich in den letzten Jahrzehnten intensiv mit der prägenden Bedeutung der frühen Mutter-Kind-Beziehung für die kindliche Entwicklung beschäftigt und zur Anwendung dieser Erkenntnisse in angrenzende Fachgebiete wie z. B. im Kindesschutz (Ziegenhain et al., 2008) angeregt. In der Einschätzung, Begleitung und Behandlung früher hochbelasteter Mutter-Kind-Dyaden begegnen wir Frauen mit ihren Babys, die den besonderen Schutz stationärer oder anderer institutioneller Hilfen zur Bewältigung des Alltags brauchen. Können wir unsere Konzepte der frühen Eltern-Kind-Beziehung auf diese Verhältnisse besonderer Elternschaft übertragen oder müssen wir hier nicht Anpassungen vornehmen? Die hohe gegenseitige Abstimmung in der Dyade und ihre Verletzbarkeit durch Trennung hat die psychotherapeutische Forschung seit langem inspiriert (R. Spitz, D. W. Winnicott, W. Bion, J. Bowlby, M. Mahler, D. Stern, P. Fonagy u. a.). So beschrieb D. W. Winnicott als primäre Mütterlichkeit (1958) einen auf die ersten Lebensmonate zeitlich begrenzten Zustand von besonderer Sensibilität, in dem Mütter für eine Weile ihre affektive Aufmerksamkeit von den Tagesgeschäften abziehen und sich so konzentriert auf das Baby einstellen, dass sie, gleichsam aus der Empfindsamkeit ihrer Säuglinge heraus, diese schrittweise mit Umweltreizen und -anforderungen vertraut machen oder sie vor ihnen schützen. Vor allem Winnicott unterstreicht, dass Mütter ihrerseits hierfür ein schützendes Umfeld brauchen. Denn das empathische „sich dem Baby zur Verfügung stellen“ benötige immer auch das Korrektiv erwachsener Strukturiertheit, damit Mütter in dieser sensiblen Zeit nicht von Affekten überschwemmt werden. Winnicott schärfte damit auch unser Verständnis für die kindlichen Autonomiekämpfe im zweiten Lebensjahr, die der Abgrenzung in der enormen Abhängigkeit der frühen Dyade gelten. Dass Mütter mit diesen Aufgaben nicht alleine dastehen, verdanken wir den Forschungen von Bürgin et al. (1990), die die Bedeutung des Vaters für die Entwicklung des kleinen Kindes in seiner Position als Dritten in der Mutter-Kind-Beziehung würdigen. Als Gegenüber von Mutter und Kind bewahrt der Vater das Kind vor der Fusion mit der Mutter und verschafft ihm so Raum für autonome Lernschritte und Ambivalenzfähigkeit als Voraussetzung für eine eigene Identität. Die Arbeiten von Fivaz-Depeursinge (2009) und McHale (2007) schließlich stellen einen Zusammenhang zwischen der Qualität der Mutter-Vater-Kind-Beziehung und der Abstimmung in der Triade her. Sie zeigen, dass selbst junge Säuglinge aktive Beteiligte und Initianten im Mitteilen und Austauschen von Affekten in einem triangulären Bezug sind. Dabei ist die Funktion des Dritten nicht auf den Vater beschränkt. So konnte eine Untersuchung zu Mechanismen 106 FI 2 / 2011 Maria Mögel der postpartalen Depression (Haslam et al., 2006) u. a. einen Zusammenhang zwischen dem Auftreten einer Depression und mangelnder Unterstützung der Mutter durch die mütterliche Großmutter im Peripartum empirisch bestätigen. In der Komposition des Gemäldes „Die Heilige Familie“ von Peter Paul Rubens ist die Gruppendynamik der frühen Dyade und Triade auf berührende Weise festgehalten: Die intensive Nähe und Fragilität der Mutter-Kind-Beziehung erhält durch die Figuren der haltenden Großmutter und des kontemplativen Vaters eine Umrahmung, in der das herausfordernd explorierende Kind und die aufmerksam mitschwingende Mutter sich einander ganz zuwenden können. Auf diese Weise wird die Dyade im Zentrum stabilisiert und die Spannung zwischen Mutter und Kind aufgefangen. Was geschieht, wenn die Familie nicht aus Mutter, Vater und Verwandten besteht, sondern z. B. aus Mutter, wechselnden Beratern, Heimerziehern, Mitpatientinnen und Beiständen? Wer ist nun die primäre Bezugsperson, mit wem kann die Mutter einen triadischen phantasmatischen Raum für ihr Kind eröffnen, wer sind hier die Protagonisten des Co-Parenting und vor allem, mit welcher lebensgeschichtlichen Perspektive für das Kind und seine soziale Identität? Die Entwicklung einer Dyade ohne tragfähige Gruppe Am Beispiel eines 3,5-jährigen Jungen, der hier Löwe genannt werden soll, möchte ich nachverfolgen, warum der Versuch schwer belastete Mutter- Kind-Paare zu stabilisieren, schnell zu einer Überforderung dieser hoch verletzlichen Dyaden führen kann, wenn wir ihr Angewiesensein auf ein kohärentes Bezugssystem unterschätzen. Isoliert, mit destruktiven Angstdynamiken belastet und deshalb instabil, können diese Mütter nicht das elastische Netz von elterlicher Empathie und erwachsener Abgegrenztheit herstellen, das in „genügend guten“ Familien dank einer Gruppenstruktur aus Dyaden, Triade und weiteren Bezugspersonen zur Verfügung steht. Wenn diese Mutter-Kind-Paare dann nach wenigen Jahren aufgegeben werden oder selbst aufgeben, dann entstehen schnell neue, oft idealisierende Erwartungen an ein natürliches Familienmilieu, in dem das Kind durch eine bessere primäre Beziehung gleichsam wieder hergestellt werden soll (Wendland, 2008, Wotherspoon, 2008). Ich lernte Löwe wenige Monate nach dem Verlust seiner Pflegefamilie im Rahmen eines Gutachtens kennen, in dem u. a. festgestellt werden sollte, welche Umgebung für ihn geeignet sein könnte. Löwes noch junge Lebensgeschichte würde sich eignen, den Verlauf einer transgenerationalen Bindungsstörung zu beschreiben (Klitzing, 2009). Ich möchte dagegen verfolgen, welche haltenden Strukturen und sinngebenden Dritten für Löwe, seine Mutter und die Pflegemutter zur Verfügung standen bzw. fehlten und welche Auswirkung dies auf die Entwicklung des Abb. 1: Peter Paul Rubens (1577 -1640), Heilige Familie, Madrid Prado 107 FI 2 / 2011 Ein Dreijähriger verliert seine Pflegefamilie Kindes hatte. Die in einem Gutachten erhobenen Verlaufsdaten eignen sich m. E., um typische Schwierigkeiten in der Gestaltung einer sozialen Elternschaft 1 zu beschreiben. Dabei möchte ich den Begriff der sozialen Elternschaft nicht auf die emotionale und soziale Mutter- und Vaterrolle beschränken, sondern auf die relevanten Mitglieder eines biologischen oder institutionell geschaffenen primären Kontexts erweitern. So wie Elternschaft durch die hohe emotionale Anteilnahme und materielle Unterstützung von Familienmitgliedern wie Großeltern gestärkt und punktuell auch substituiert werden kann, so gehören zu den Protagonisten der sozialen Elternschaft in „Familien, die dem Staat zur Obhut anvertraut sind“ (Vamos, 2009) Pflegeeltern und Betreuende und vorübergehend auch Beistände und andere Professionelle. Als bedeutsame primäre oder triangulierende Bezugspersonen des Kindes wie als Verantwortliche für Maßnahmen und Entscheidungen werden sie von den leiblichen und den Ersatzeltern, ab dem Schulalter auch von den Kindern selbst, in hohem Maß als relevante Mitkonstrukteure der Eltern-Kind-Beziehung erlebt (J. Wendland, 2008). Die Biografie von Löwes Mutter ist eine Abfolge von Verlusten: als Baby in ein Waisenhaus gegeben, beginnt sie mit etwa 13 Jahren eine Odyssee zwischen Heimen, Drogenszene und Psychiatrie. Eine erste Familie mit einem drogenabhängigen Mann und einem gemeinsamen Kind scheitert nach einem halben Jahr, als das vernachlässigte Baby in eine Pflegefamilie kommt. Mit fast Dreißig stabilisiert sie sich in der Beziehung zu Löwes Vater, der sich, als sie mit Löwe schwanger wird, als verheirateter, mehrfacher Familienvater herausstellt. Er beendet die Beziehung abrupt und will Löwe zuerst nicht anerkennen. Gleichzeitig wird das erste Kind aufgrund eines Entwicklungsstillstands mit Minderwuchs aus seiner Pflegefamilie genommen und in einem heilpädagogischen Kleinheim platziert. Löwes Mutter selbst beschreibt diese Zeit als gespalten: der Verlust der Partnerschaft und das erneute Scheitern ihres Traums von einer Familie hätten in ihr unerträgliche Schuldgefühle und lähmende Depression ausgelöst. Da sie in dieser Zeit aber kaum Drogen gebraucht habe, sei in ihr die Hoffnung entstanden, eine bessere Mutter für das neue Kind sein zu können, als sie für ihr erstes Kind und ihre Mutter für sie gewesen waren. Weder in der eigenen psychiatrischen Behandlung noch in der Beistandschaft für das erste Kind oder beim eigenen Beistand, auch nicht bei den Kinderpsychiatern, die sich um das erste Kind kümmern, werden die künftige Mutterschaft und das Wohlergehen des ungeborenen Kindes so thematisiert, dass daraus Konsequenzen zum Schutz der vulnerablen neuen Mutter-Kind-Situation gezogen worden wären. Wer übernimmt hier die Funktion des Dritten, wer die des haltenden Kontextes für Mutter und Kind? Die in der Schwangerschaft biologisch getriggerte, sensible Phase einer erhöhten Bindungsbereitschaft, d. h. die Gelegenheit für ein frühes Arbeitsbündnis mit der Mutter verstreicht ungenutzt. Schwangerschaft, Vorbereitung auf die Geburt und die frühe Elternschaft wären ein günstiger Zeitpunkt für Mutter und Fachperson, um gemeinsam eine Perspektive auf das Kind und seinen ersten Lebenskontext und damit z. B. die Akzeptanz für eine stationäre oder intensive ambulante Begleitung zu eröffnen. 1 Üblicherweise verstehen wir unter sozialer Elternschaft die Elternrolle Erwachsener, die weder biologisch noch juristisch Eltern eines bestimmten Kindes sind, aber emotionale Zuwendung und langfristige Verantwortung im Sinne einer Elternrolle übernehmen. Anna Freud spricht in diesem Zusammenhang auch von psychologischer Elternschaft (Goldstein, Freud, Solnit, 1973) und betont damit die Perspektive und Wahl des Kindes, sich den ihm vertrautesten Personen zugehörig zu fühlen. 108 FI 2 / 2011 Maria Mögel Die Fachleute um Löwes Mutter scheinen gelähmt. Offenbar besteht große Unsicherheit darüber, wer jetzt aktiv werden darf oder muss und mit welchem Ziel? Ist es die Aufgabe des Beistands der Mutter, ihr in der Schwangerschaft beizustehen und mit ihr z. B. einen stationären Aufenthalt für Mutter und Kind vorzubereiten, für den dann ein künftiger Kindesbeistand die Finanzierung organisieren muss? Die juristisch begründete Praxis, Beistandschaften erst nach der Geburt des lebenden Kindes einzusetzen, entspricht nicht der psychologischen Aufgabe und Notwendigkeit, die sich während der Schwangerschaft entwickelnde Elternschaft und kindliche Persönlichkeit so verbindlich wie möglich zu begleiten, damit die für die Selbst- und Beziehungsentwicklung des Säuglings unerlässliche triadische Kapazität der Mutter (Klitzing, 2005), also ihre Fähigkeit, relevante Dritte in der Beziehung zum Kind zuzulassen, unterstützt werden kann. Die Folge ist ein für hochbelastete Mutter-Kind-Verhältnisse typisches, rollendes Krisenmanagement, im Fall von Löwe mit vier Umgebungswechseln für Mutter und Kind im ersten halben Lebensjahr. Die nachfolgend beschriebenen ständigen Settingwechsel lenken die Aufmerksamkeit von Mutter und Kind voneinander weg auf die je neuen sozialen Kontexte und verhindern damit eine Integration von Selbst- und Objektwahrnehmung bei Mutter und Kind. Wie kommt Kohärenz in Löwes Leben? Löwe wird drei Wochen zu früh geboren. Nach 10 Tagen werden Mutter und Kind in die Wohnung der Mutter entlassen, wo sie täglich durch eine Hebamme und eine ambulante Krankenpflegerin betreut werden. Die Mutter ist deprimiert und mit der Betreuung des Kindes überfordert. Der Beistand der Mutter veranlasst nun notfallmäßig eine Platzierung des vier Wochen alten Babys und seiner Mutter in eine Wohngruppe für adoleszente Mütter. Hier fällt Löwe als griesgrämiges, schlecht riechendes Baby auf. Die Mutter dekompensiert weiter und beide werden in Löwes achter Lebenswoche in eine psychiatrische Klinik überwiesen. Eine typische Überforderung dieser Mutter-Kind- Dyaden, die durch das Abwarten auf Dekompensationen mit anschließendem Settingwechsel entsteht und den Mangel an Settings offenbart, in denen Dekompensation möglich ist. Die Mutter berichtet rückblickend von einer für sie damals wichtigen Annäherung zwischen ihr und Löwe. Seit der Geburt hätte sie nur Angst vor Löwe gehabt, sich schuldig gefühlt und den Eindruck gehabt, das Baby stemme sich gegen sie, drehe den Kopf weg, möge sie nicht. Doch in der psychiatrischen Klinik habe eine Krankenschwester sie darauf aufmerksam gemacht, dass Löwe immer den Kopf in die Richtung seiner Mutter drehe, wenn sie das Zimmer betrete und spreche. Plötzlich hätte sie das auch sehen können und das Baby habe sie sogar angelächelt. Im geschützten stationären Rahmen erholt sich die Mutter und bei Löwe setzt altersgemäß das soziale Lächeln ein. Dieser für Mutter und Kind bedeutungsvolle Moment wird von einer Krankenschwester erkannt und unterstützt. Gleichzeitig werden aber auch die hohe Unselbstständigkeit und Aufmerksamkeitsschwankungen der Mutter gegenüber ihrem Kind beobachtet. Diese Befunde können aber für die weitergehende Begleitung und Beurteilung der Situation nicht genutzt werden, da die Einschätzung oder Behandlung der Mutter-Kind-Beziehung und der psychischen Entwicklung des Babys nicht zum Repertoire der Klinik gehören und damit nicht dokumentiert werden. Als Löwe sechs Monate alt ist, kommen er und die Mutter in ein Mutter-Kind-Heim. Löwe imponiert bei der Ankunft als kugelrundes lustiges Baby, die Mutter genießt das Wohlwollen der Betreuer und einen vermeintlichen Neuanfang, aber bald wird sie auch hier als unselbstständig und „schwierig“ wahrgenommen. Diese Beobachtung führt auch hier nicht zu einer Einschätzung der Mutter-Kind-Beziehung und Evaluation der getroffenen Maßnahme, sondern wird zu ei- 109 FI 2 / 2011 Ein Dreijähriger verliert seine Pflegefamilie nem pädagogischen und disziplinarischen Instrument, um die Mutter zu mehr compliance im Heim zu bewegen. Am Ende von Löwes erstem Lebensjahr eskalieren die Konflikte zwischen Löwes Mutter und der Heimleitung. Die Konzentration der Fachpersonen gilt nur noch der Mutter, die nach einem ernsthaften Suizidversuch immer häufiger und immer länger stationäre psychiatrische Behandlungen benötigt, während die erschöpfte Heimleitung wechselt. Als das Kind anderthalb ist, willigt die Mutter ein, Löwe in eine Pflegefamilie zu geben. Der Aufenthalt im Heim stimuliert die Beziehungserfahrungen der Mutter. Ohne psychotherapeutische Begleitung der Mutter oder Supervision der Mitarbeiter ist das Heimsetting der Dynamik solch heftiger und wenig integrierter Affekte und Beziehungsmodi nicht gewachsen (Vanier, 2007). Der Fokus richtet sich nicht mehr auf das Kind und die Einschätzung seiner aktuellen Beziehungsentwicklung: wer sind bis jetzt und in Abwesenheit der Mutter seine vertrauten Bezugspersonen geworden und was könnte der Wechsel in eine Pflegefamilie für es bedeuten? Stattdessen wiederholt sich nun auf der Ebene des Helfernetzes die Dynamik des Kinderwunsches der Mutter, in der Scheitern mit der Hoffnung auf Heilung im vemeintlichen Neuanfang einer (Pflege-)Elternschaft beantwortet wird. Pflegeelternschaft - (k)ein Neuanfang Kleinkinder orientieren sich nicht an Idealen. Sie sind bei einer Trennung auf die unmittelbare Erfahrung von Kohärenz angewiesen. Die Würdigung der vom Kind gewählten Bezugspersonen und Lebensorte ohne Preisgabe der kindlichen Schutzbedürfnisse, langsame, im Tempo des Kindes vorbereitete und begleitete Übergänge von einer Lebenswelt in die nächste, schützen vor überwältigenden Verlusterlebnissen, die nicht nur die Bezugspersonen, sondern auch die eigene Integrität betreffen. Wie ist Löwe für den Wechsel in die Pflegefamilie vorbereitet? Er hat inzwischen gelernt, das Kind einer Gruppe zu sein. Eine Betreuerin des Mutter-Kind-Heims schildert, dass er sich zu seiner Mutter zugehörig gefühlt, aber sich eher an ihrem Umfeld orientiert habe. Seit er eineinhalb ist, sieht er sie nur noch selten. Als bevorzugte Bezugsperson wählt er die vertrauteste Betreuerin seiner Mutter im Heim. Diese bringt den knapp Zweijährigen zu den wenigen Eingewöhnungsnächten an die neue Pflegestelle, wo sie von der Pflegemutter, die sich ein kleines Kind wünscht und die die Vertrautheit zwischen dem Kind und seiner Begleiterin bemerkt, als Konkurrenz im Beziehungsaufbau zum Kind wahrgenommen wird. Die Bezugsperson des Heims ihrerseits qualifiziert ihren eigenen Abschiedsschmerz von Löwe als unprofessionelle und persönliche Reaktion. Sie zieht sich schnell zurück, in der Meinung, dass sie Löwe damit helfe, schneller in die neue Familie hineinwachsen zu können. Alle Beteiligten schätzen Löwes sich überleichtes Trennen von den vertrauten Personen, seine scheinbar uneingeschränkte Neugier auf die neue Familie als positives Signal ein. Dies und die gute Kooperation zwischen Mutter und Pflegemutter werden als Ausdruck von Löwes Wohlbefinden verstanden. Die nach einigen Wochen einsetzende Symptomatik Löwes, mit heftigen Stimmungsschwankungen, Weglaufen und sich wahllos mit Essen vollstopfen, wird von keinem der Beteiligten als Hinweis auf Desintegration, als Trauer und Versuch, Kohärenz herzustellen, gewertet. Zwar fördert die Pflegemutter Löwes Kontakt zur leiblichen Mutter, was Momente der Kohärenz in Löwes Welt bringt. Aber die wöchentlichen unbegleiteten Ausflüge, bei denen er der Mutter häufig davonläuft, überfordern Mutter und Kind. Löwes Pflegemutter fühlt sich beschämt und gekränkt, wenn er auch von ihr zu ihren Nachbarinnen wegläuft, so wie er im Heim gelernt hat, Konflikte nicht mit seiner Mutter, sondern mit Verschiedenen innerhalb der Großgruppe zu balancieren. Die verzweifelte Pfle- 110 FI 2 / 2011 Maria Mögel gemutter missversteht und bekämpft das Verhalten des Kindes als Aggression, anstatt Beratungshilfe zu suchen. Nach einem Jahr brechen die Pflegeeltern das Pflegeverhältnis abrupt zum eigenen Schutz ab, nachdem Löwe gegenüber Nachbarn geäußert hatte, der Pflegevater hätte ihn geschlagen. Kleine Kinder, die nicht in ihrer eigenen Familie leben können, wecken in ihrer Umgebung eigene Verlusterfahrungen (Vamos, 2008) und das Bedürfnis, ihnen eine heile Familie mit guten Bezugspersonen, d. h. einen „Neuanfang“ verschaffen zu wollen. Stattdessen bringt das Kind eine Beziehungsgeschichte mit sich, die es nicht verbal, sondern nur in seinem unmittelbaren Affektaustausch und Verhalten mitteilen kann, was für Pflegefamilien oft unverständlich oder schwer aushaltbar ist. Wotherspoon et al. (2008) weisen darauf hin, dass Pflegeeltern, zur Vermeidung der nicht seltenen Abrüche von Pflegeverhältnissen im Kleinkindalter, neben Empathie ein Verständnis für Bindungsstörungen und für die erhöhte Affektregulationsproblematik dieser Kinder brauchen. Diese Kompetenzen müssten jeweils durch Kurzabklärungen der Kinder und multidisziplinäre Erziehungsberatung individuell auf das jeweilige Kind und seine Pflegeeltern abgestimmt werden. Die Autoren betonen, dass auch dieses sehr sorgfältige Vorgehen immer wieder an Grenzen stößt. Neben pädagogischen Strategien und klinischem Verständnis sei dann eine Reflexion „persönlicher Barrieren“ aufseiten der Pflegeeltern und eine Bearbeitung der Beziehung des Kindes zu den leiblichen Eltern nötig. Diese Befunde aus einer empirischen Untersuchung über ein Beratungsprogramm für Pflegefamilien verweisen m. E. darauf, dass die Kinder und ihre Bezugspersonen im Rahmen einer sozialen Elternschaft vor Herausforderungen stehen, die Räume für Klärung, Reflexion oder Verarbeitung traumatischer Verlusterfahrungen erfordern. Eine entwicklungspsychologische/ psychiatrische Einschätzung der aktuellen Entwicklungs- und Beziehungsbedürfnisse des Kindes und seiner Bezugspersonen erlaubt bei Übergängen oder Schwierigkeiten Orientierung. Einzel- oder familientherapeutische Settings sowie supervisorische Gefäße ermöglichen ein Containing destruktiver Beziehungsdynamiken zwischen dem Kind, Bezugspersonen und Helfern. Die Dynamik der bewussten und unbewussten Verhältnisse beeinflusst allerdings auch die Gegenübertragung des Helfersystems und kann Spaltungsmechanismen wie Entwertung (z. B. das schlechte Heim, die schädigenden Eltern) und Idealisierung (z. B. die rettende Pflegefamilie, Therapie) oder abrupte Umgebungswechsel nach sich ziehen. Das führt nicht alleine zu Überforderungen der Erwachsenen, sondern auch der Kinder, die sich bei der Integration zweier Lebenswelten an der Abstimmung ihrer verschiedenen Bezugspersonen aufeinander orientieren (Wendland, 2008). Spaltungen verhindern aber nicht nur die Integration unterschiedlicher Erfahrungen, sie dienen auch zur Abwehr gegen unerträglich erlebte Schuldgefühle. Die Dynamik besonderer Eltern-Kind-Beziehungen Um sich selbst vor Schuldgefühlen zu schützen, vermeidet die Pflegemutter nach dem Abbruch des Pflegeverhältnisses jeden Kontakt zu Löwe. Das Kind reagiert auf diesen Beziehungsabbruch mit einer Depression und mit Schuldgefühlen, die auch nach dem Abklingen der Depression persistieren: 6 Monate nach der Trennung von den Pflegeeltern konstruiert Löwe äußerst vorsichtig einen kleinen Vulkan aus Klötzen, den er in der Ecke einer großen Fläche platziert. Der nun 3,5 Jahre alte Löwe erzählt dazu: Der kleine Vulkan steht im Garten der Pflegeeltern. Er ist klein, aber sehr gefährlich und kann so schwer verletzen, dass man ins Krankenhaus muss. Es ist ein Feuerwerkvulkan, wie man ihn zu Sylvester anzündet. Aber diese Vulkane sind doch auch sehr schön? Nein, beharrt Löwe, die Pflegeeltern hätten gesagt, die seien sehr gefährlich, man käme ins Krankenhaus. Er erzählt weiter, dass die Pflegemutter krank gewesen sei und lässt dann Puppeneltern ihr Baby wegschicken, weil es so laut ist! Kurz vor Abbruch des Pflegeverhältnisses hatte Löwe tatsächlich die Skiferien seiner Pflegefamilie im Kleinheim des Bruders verbracht, da die 111 FI 2 / 2011 Ein Dreijähriger verliert seine Pflegefamilie Pflegemutter sich ohne ihn erholen wollte. Der Aufenthalt wurde um eine Woche verlängert, weil die Pflegemutter erkrankt war. Löwe identifiziert sich mit diesem etwas einsamen und gefährlichen Vulkan, der Verletzungen in der Beziehung anrichten kann, d. h. das Kind trauert nicht nur um die geliebte Pflegemutter, sondern ordnet den Verlust auch schuldhaft seiner eigenen Gefährlichkeit zu. Auch die Mutter hat Schuldgefühle, weil sie „nichts gemerkt hat“. Sie ist aber auch entlastet, weil diesmal nicht sie, sondern die Pflegemutter Löwes Leiden verursachte. Beides aktiviert ihre eigene mütterliche Identität. Unterstützt von ihrem neuen Lebenspartner bittet sie um ein Gespräch, in dem sie die Absicht äußert, Löwe zu sich zu nehmen. Im Lauf der berührenden und für die Mutter aufwühlenden Sitzung erklärt sie schließlich ihrem Partner und damit sich selbst, dass sie zu krank sei, um eine Alltagsmutter sein zu können, auch wenn sie immer Löwes Mutter bleibe. Sie bezieht sich dabei auf unser gemeinsames Erlebnis der Spielbeobachtung im Rahmen des Gutachtens, bei der sich die Besonderheit ihrer Beziehung zu Löwe zeigte. Beim gemeinsamen Betrachten eines Bilderbuchs erfasste die Mutter Löwes emotionale Bewegung so einfühlsam, dass eine schöne Situation von Gegenseitigkeit entstand, in der große Vertrautheit zwischen beiden aufstrahlte. Aber schon kurz darauf erschöpfte sich die Kapazität der Mutter, sich auf das Kind einzustellen, schlagartig. Im freien Spiel mit Löwe reagierte sie intrusiv und so chaotisch, dass Löwe das Spiel abbrach und bei der Untersucherin Hilfe suchte. Nicht mit dem eigenen Kind leben zu können, ist eine traumatische Erfahrung, die destruktive Dynamiken von Schuld, Angst und Entwertung bei allen Betroffenen, den leiblichen Eltern, den Pflegefamilien, Helfern und nicht zuletzt bei den Kindern auslösen kann. Auch die Herausforderung, „ein Kind wie eine Mutter zu lieben und sich gleichzeitig als Professionelle zu verstehen“ (Wendland, 2008), wird oft ebenso unterschätzt, wie die Rolle und Involviertheit des Pflegevaters und der Pflegegeschwister. Die Anerkennung des Beitrags einer besonderen Elternschaft hilft nicht nur eine gescheiterte biologische oder soziale Elternschaft zu verarbeiten, sondern schützt auch die langfristigen Interessen des Kindes an seiner sozialen Identität, d. h. persönlichen Geschichte, Herkunft und Zugehörigkeit. Die Aufgabe der sozialen Elternschaft: einen kohärenten Kontext für ein Kind herstellen Am Beispiel der Beziehungsgeschichte eines dreijährigen Pfllegekindes habe ich versucht zu beschreiben, wie die kindliche Entwicklung nicht nur durch eine hochbelastete Mutter-Kind-Dyade, sondern zusätzlich durch die Inkohärenz des sozialen Umfelds gefährdet werden kann. Aber wie kann Kohärenz hergestellt werden? Neben einem möglichst frühen Arbeitsbündnis und Orientierung gebender Einschätzung der kindlichen Befindlichkeit und der Beschaffenheit der Beziehungen in Dyade und Triade möchte ich abschließend die Bedeutung einer haltenden Gruppenstruktur als Entwicklungsraum für ein kleines Kind am Beispiel der Darstellung „Die heilige Sippe“ von Lucas Cranach d. Ä. 2 illustrieren. 2 Das Triptychon „Die heilige Sippe“ hat Cranach als kursächsischer Hofmaler in Wittenberg ausgeführt. „Es thematisiert die legendäre Verwandtschaft Marias (Heilige Sippe) mit den Müttern einiger Apostel. Hinter dem sakralen Motiv verbirgt sich ein politisches Bekenntnis, das die Loyalität zum deutschen Kaiser demonstriert. Deswegen posieren Kurfürst Friedrich der Weise und sein Bruder Herzog Johann der Beständige als Gatten der zwei Halbschwestern Marias. Auf der Mitteltafel trägt der mittlere der drei Ehemänner der Mutter Marias, der hl. Anna, oben auf der Brüstung die Züge Kaiser Maximilians.“. Wir sehen also das Ensemble eines Familienkontextes bestehend aus einer Großmutter, deren drei Ehemännern, ihren drei Töchtern mit Männern und Kindern, die in der Zukunft eine bedeutungsvolle Gruppe um einen besonderen Enkel bilden werden! (Bildlegende: Städel Museum 2011, http: / / www.staedelmuseum.de/ sm/ index.php? StoryID=111&ObjectID=298) 112 FI 2 / 2011 Maria Mögel Im Zentrum sehen wir das Kind, wie es vom Schoß der Großmutter aus seine Mutter anblickt. Um es herum sind verschiedene dyadische, triadische und transgenerationale Beziehungen sowie Peer-Konstellationen abgebildet, die alle eine eigene Bedeutung für das Kind im Zentrum haben. Die Gruppe der drei Figuren auf der Empore, die in diesem Bild die Idee der Reformation symbolisiert, verweist auf eine übergeordnete, sinngebende phantasmatische Ebene. Wenn wir die administrative, pädagogische oder therapeutische Verantwortung für sozial wenig integrierte Mutter- Kind-Paare und damit sehr verletzliche Kinder übernehmen, sind wir Mitverantwortliche eines teils fragmentierten, teils künstlich geschaffenen Kontextes mit familialen Aufgaben und damit Teil einer sozialen Elternschaft! Daniel Stern definiert die Arbeitshaltung eines Psychotherapeuten in der frühen Kindheit als die Herstellung einer „Guten Großmutter-Übertragung“, d. h. als einen Fokus, der am Wohlergehen von Mutter und Kind, ihrer guten Beziehung und dem Bezug zu ihrer Umwelt (Vater) interessiert ist. In diesem Fokus haben wir interdisziplinär arbeitenden Fachleute ganz unterschiedliche Rollen, Aufgaben und Funktionen. Damit unsere Beiträge ein Containing und keine Fragmentierung für das Kind und seine Bezugspersonen bewirken, könnte es Sinn machen, dass wir uns jeweils als Teil einer Arbeitsgruppe verstehen, deren Ziel durch die Bedürfnisse des individuellen Kindes definiert wird. Ein Verständnis für die Dynamik früher Familienprozesse und ihre Resonanz im Gegenübertragungsgeschehen der interdisziplinären Zusammenarbeit hilft, Konflikte in der Verantwortung für vulnerable Eltern-Kind-Verhältnisse besser einzuordnen. Wenn es uns dann gelingt, unsere verschiedenen Beiträge auf den gemeinsamen Fokus der aktuellen Entwicklungsthematik des Kindes in seinem auch von ihm gewählten Beziehungsnetz auszurichten, dann könnte sich so etwas wie eine Kultur der sozialen Elternschaft entwickeln. Maria Mögel lic. phil., Psychologin Kinder- und jugendpsychiatrischer Dienst Brühlgasse 35 -37 CH-2004 St. Gallen Schweiz maria.moegel@kjpd-sg.ch Abb. 2: Lukas Cranach der Ältere, Die Heilige Sippe, 1509, Museum Städel Frankfurt 113 FI 2 / 2011 Ein Dreijähriger verliert seine Pflegefamilie Literatur Arpin, S. (2010): The family team, a caring container in perinatal intervention with precarious families. unveröffentlichter Vortrag im Rahmen des 12. WAIMH-Kongress, Leipzig Fegert, J., Ziegenhain, U. (2008): Kindeswohlgefährdung und Vernachlässigung. München: Reinhardt-Verlag Goldstein, J., Freud, A., Solnit, A. (1974): Jenseits des Kindeswohls. Frankfurt: Suhrkamp Haslam, D., Pakenham, K., Smith, A. (2006): Social support and postpartum depressive symptomatology: The mediating role of maternal selfefficacy. Infant Mental Health Journal. 27 (3), 276 -291 Klitzing, K. v., Bürgin, D. 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