Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2011.art15d
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Aus der Praxis: Unterstützungsbedarf von Eltern von Frühgeborenen und Konsequenzen für die multidisziplinäre Zusammenarbeit
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Michaela Gross-Letzelter
Martina Baumgartner
Ergebnisse der empirischen Studie und der daraus abgeleitete Unterstützungsbedarf aus dem Blickwinkel der multidisziplinären Zusammenarbeit
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162 Frühförderung interdisziplinär, 30. Jg., S. 162 -166 (2011) DOI 10.2378/ fi2011.art15d © Ernst Reinhardt Verlag AuS DER PRAxIS Unterstützungsbedarf von Eltern von Frühgeborenen und Konsequenzen für die multidisziplinäre Zusammenarbeit Michaela Gross-Letzelter, Martina Baumgartner Ergebnisse der empirischen Studie und der daraus abgeleitete Unterstützungsbedarf aus dem Blickwinkel der multidisziplinären Zusammenarbeit 78 Eltern, die ein oder mehrere Frühgeborene unter 1500 g haben, und deren Kinder in der Neonatologie des Universitätsklinikums Großhadern gelegen haben, geben in einem 2008 gestellten Fragebogen Antworten zu den Zeiten vor der Geburt, im Krankenhaus und zu Hause. Die Ergebnisse betreffen aufgrund von Mehrlingsgeburten 103 Frühgeborene, von denen 6 nicht überlebten. Vertieft werden diese Ergebnisse 2009 durch 11 Interviews mit betroffenen Eltern, die inzwischen Kinder im Alter von 2 bis 4 Jahren haben (Gross-Letzelter/ Baumgartner/ Kovacic, 2010). Es kann bereits in der Schwangerschaft ein Hilfebedarf bestehen. 10 % der befragten Frauen hatten bereits zuvor eine Frühgeburt. Wie die Interviews belegen, kann nicht nur eine vorherige Frühgeburt, sondern auch der Verlust eines Kindes während einer vorherigen Schwangerschaft werdende Mütter sehr belasten. Da jede Schwangerschaft durch GynäkologInnen medizinisch betreut wird, sind die ÄrztInnen die ersten, die einen Hilfebedarf der werdenden Mütter erkennen können, der über die gynäkologische Versorgung hinausgeht. Auch ohne vorherige negative Ereignisse kann eine Schwangerschaft sehr belastend verlaufen. 78 % der befragten Frauen lagen vor der Frühgeburt stationär im Krankenhaus. Von diesen Müttern geben 92 % an, dass sie während des eigenen Krankenhausaufenthaltes psychisch belastet waren. Diese Fragebogenergebnisse belegen, dass der stationäre Aufenthalt der werdenden Mutter eine professionelle Betreuung erfordert. Wie die Interviews zeigen, kann die Realität der Geburt, die oftmals nichts mit den Vorstellungen einer natürlichen Geburt in angenehmer Atmosphäre zu tun hat, sondern in einem Operationssaal mit vielem Personal stattfindet, bei den Müttern und auch bei den Vätern große Enttäuschung auslösen. Nach der Geburt können auch Schuldgefühle der Mutter psychologische Gespräche notwendig machen. Die vertiefte Aufarbeitung nicht nur dieser Problematik liegt im Aufgabenbereich von PsychologInnen. Da die Mütter im Krankenhaus unter extremer Anspannung stehen, mag es sinnvoll sein, später erst diese Fragen verarbeitend aufzugreifen. Dies kann sogar noch nach Monaten oder Jahren erfolgen. Wichtig für diese erste Phase ist es, dass sich die Schuldgefühle nicht verfestigen und ein positiver Umgang mit dem Kind und ein guter Bindungsaufbau zum Kind möglich sind. Eltern von Frühgeborenen sind im Krankenhaus großen Belastungen ausgesetzt. 87 % der Befragten geben psychische Belastungen an. Ergänzend dazu gaben 69 % der Eltern an, dass sie die Unsicherheiten, die sie bzgl. der/ des Frühgeborenen hatten, als sehr belastend empfanden. In der Krankenhauszeit ist vor al- 163 FI 3 / 2011 Unterstützungsbedarf von Eltern von Frühgeborenen lem gewünscht, dass jemand „da“ ist, eine neutrale GesprächspartnerIn, die aber auch bei den aktuellen Problemen helfen kann. Dazu gehören die Alltagsorganisation, eventuelle Geschwisterbetreuung, die Weitergabe von Informationen, von Hilfeangeboten, die Unterstützung bei Behördenangelegenheiten. Dies sind klassische Aufgaben der sozialen Arbeit. Die Eltern erhalten vielfältige Unterstützung von ÄrztInnen und Pflegepersonal, die weit über eine medizinische Aufklärung hinausgeht. 87 % der Befragten gaben an, dass sie von den ÄrztInnen viel bzw. ausreichend Unterstützung bekommen haben. Interessant ist, dass über die Hälfte viel Unterstützung wahrgenommen hat. Beim Pflegepersonal zeigte sich ein ähnliches Bild: 60 % gaben an, viel Unterstützung erhalten zu haben, und 28 % ausreichend (insgesamt 88 %). Eine sozialpädagogische Kraft könnte das Pflegepersonal und die ÄrztInnen in vielen Bereichen, in denen sie Unterstützung leisten, die aber nicht zu den eigentlichen Aufgaben der medizinischen oder pflegerischen Betreuung gehören, entlasten. Sie könnte auch soweit unterstützend für das Personal sein, indem sie auch ihm Hilfe anbietet, da dieses täglich in diesem sehr emotionalen Bereich beschäftigt ist und jeden Tag um das Leben der Kinder kämpft und somit auch sehr belastet ist. Für die vielfältige Unterstützung, die das Klinikpersonal für Eltern von Frühgeborenen während des Klinikaufenthaltes leistet, sind zusätzliche Qualifikationen nötig. So kann die Schulung des Klinikpersonals eine Aufgabe für die Soziale Arbeit sein. In der Ausbildung des pflegerischen und ärztlichen Klinikpersonals sind Themen wie Gesprächsführung, Konfliktmanagement oder aber auch die Vorgehensweise von Jugendämtern und anderen Behörden nicht enthalten. Durch gezielte Fortbildungen, Reflexionsgespräche oder Supervision des Klinikpersonals kann der fachliche Radius dieser Berufsgruppen durch die Soziale Arbeit ergänzt bzw. erweitert werden (Baumgartner, 2009). Die Ergebnisse belegen, dass die Zeit der Belastungen für die Eltern nach dem Krankenhausaufenthalt nicht beendet ist. Insbesondere Eltern von kranken Kindern benötigen Hilfe und Unterstützung. Die Fragebogenergebnisse zeigen, dass 22 % der Kinder wieder Medizinische Aufklärung und Information Psychologische Gespräche Vorbereitung auf Zuhause Vermittlung an andere Einrichtungen unterstützung bei Behördengängen und Alltagsbewältigung unterstützung bei der unterbringung der Geschwisterkinder nicht zutreffend (Mehrfachnennungen möglich) 75 (46 %) 28 (17 %) 32 (19 %) 22 (13 %) 6 (4 %) 1 (1 %) 0 (0 %) Frage 25 a: Welche Art von Unterstützung haben Sie von Ärztinnen/ Ärzten erhalten? 164 FI 3 / 2011 Michaela Gross-Letzelter, Martina Baumgartner 1 19 % machen dazu keine Angaben. Zeit nach dem Krankenhaus die gleiche Ansprechperson zur Verfügung stehen. Eltern äußern in den Interviews für die erste Zeit zu Hause den Wunsch nach Hausbesuchen, telefonischer Erreichbarkeit bei gesundheitlichen Fragen oder Sprechstunden für „externe“ Eltern von Frühgeborenen. Je nach Gesundheitszustand des Kindes und der Intensität der Belastungen der Eltern ist der Unterstützungsbedarf unterschiedlich (Gross-Letzelter/ Baumgartner/ Kovacic, 2010). Manche Eltern weisen nicht den Bedarf einer intensiven Begleitung auf, sondern benötigen eher eine Anlaufstelle für eventuell auftretende Sorgen. Deshalb sollten alle Eltern von Frühgeborenen um die Möglichkeit einer Frühberatung wissen. Diese kann von weitergebildeten KinderärztInnen, KinderpsychologInnen oder Frühpädagogen geleistet werden, die in Kinderkliniken, sozialpädiatrischen Zentren oder Frühförderstellen arbeiten und über Erfahrungen mit Frühgeborenen verfügen (Sarimski/ Porz, 2009). Der Wunsch der Eltern nach KinderärztInnen, die Erfahrungen mit Frühgeborenen haben, zeigt sich in den Interviews. Die Eltern wollen eine gute kinderärztliche Betreuung in räumlicher Nähe, zu der sie jederzeit hinkönnen, nicht nur zu speziellen Untersuchungen (Gross-Letzelter/ Baumgartner/ Kovacic, 2010). Durch den frühzeitigen Kontakt und die regelmäßigen Hausbesuche einer Fachkraft mit den Eltern von Frühgeborenen kann die Eltern-Kind-Beziehung schon in der frühen Lebensphase des Kindes gestärkt, die Eltern im Umgang mit ihrem Kind unterstützt und mögliche Ängste und Unsicherheiten abgebaut werden. Ziel ist es, die Erziehungskompetenz der Eltern zu stärken und die Entwicklung des Kindes zu fördern (Gross-Letzelter/ Bassermann, 2011). So ist es wichtig, die Eltern über anfänglich erschwerte Interaktion und Einstellung ihres zurück ins Krankenhaus mussten, nachdem sie schon zu Hause waren. Aber auch Eltern, die unsicher im Umgang mit dem Frühgeborenen sind, die Belastungen durch den Alltag und persönliche Probleme haben, brauchen Hilfestellungen. 64 % der Befragten belasten zu Hause Unsicherheiten gegenüber dem Frühgeborenen (Gross-Letzelter/ Baumgartner/ Kovacic, 2010). Wichtig bei der Vorbereitung auf zu Hause ist die Ermittlung des Hilfebedarfs. Das Maß der Unterstützung sollte sich dabei an der Bedürfnislage und dem subjektiven Erleben der Eltern orientieren. Die Perspektive des Frühgeborenen bzw. der Eltern sollte dabei immer als Hauptindikator verwendet werden (Christ-Steckhan, 2005). 63 % der befragten Eltern geben an, dass eine Vorbereitung auf zu Hause stattgefunden hat, 18 % fehlte diese Vorbereitung 1 . Die Vorbereitung auf zu Hause wurde zum größten Teil von dem Pflegepersonal und den ÄrztInnen geleistet. Von einigen Eltern wurden auch andere Berufsgruppen, wie z. B. Hebammen oder Therapeuten genannt. 17 % der Befragten hatten Sorge, ob sie zu Hause alles ohne ärztlichen Beistand schaffen. Diese Sorgen und die erwähnten Unsicherheiten gegenüber dem Frühgeborenen zeigen, dass eine Vorbereitung auf die alleinige Versorgung des Kindes zu Hause notwendig ist (Gross-Letzelter/ Baumgartner/ Kovacic, 2010). Ein gutes Entlassungsmanagement kann als schützender Faktor für die Familieneinheit gesehen werden, da die Eltern erst in die Situation hineinwachsen und sich den spezifischen Anforderungen einer Frühgeburt stellen müssen (Christ-Steckhan, 2005). Die Kontinuität einer Begleitung sollte nach dem Krankenhausaufenthalt des Frühgeborenen weitergehen und es könnte auch in der 165 FI 3 / 2011 Unterstützungsbedarf von Eltern von Frühgeborenen Kindes auf sein neues Zuhause aufzuklären, damit sie es als Problem wahrnehmen. Dadurch wird der Weg für adäquate Umgangsformen frei und die Eltern erleben die anfänglichen Schwierigkeiten nicht als persönliches Versagen. Insofern können frühe sachliche Informationen, Begleitung der Eltern und ein kontinuierliches Gesprächsangebot mögliche psychosoziale Risiken mildern (Höck, 1999). Eine wichtige Methode, die innerhalb der Nachsorgeprogramme Anwendung finden sollte, ist dabei die soziale Vernetzung (Staub- Bernasconi, 2007). Zur Vermittlung an weitere Stellen oder Nachsorgeprogramme ist deswegen der gezielte Einsatz von SozialarbeiterInnen auf den Neonatologiestationen sinnvoll. Außerdem kann das Klinikpersonal bereits bei der Behandlung von Frühgeborenen wichtige Grundsteine zur Verminderung von Störungen und zum Aufbau von positiven Verhaltensweisen der Eltern und der Kinder beitragen. SozialarbeiterInnen benötigen für all diese Aufgaben Kompetenzen in Gesprächsführung und Beratung. Vor der Beratung von Eltern von Frühgeborenen muss sich eine professionell handelnde Fachkraft aufgrund der Vielfältigkeit und Individualität vorher genau mit der Gesamtthematik einer Frühgeburt beschäftigen und wissen, welche Probleme auftreten können bzw. wie sich diese äußern. So muss auch eine Einarbeitung in den medizinischen Bereich erfolgen (Baumgartner, 2009). Fazit Im Bereich der Neonatologie arbeiten verschiedene Berufsgruppen zusammen, wodurch Kooperationsbereitschaft und -fähigkeit gefordert ist. Denn Ziel dieser Zusammenarbeit sollte es sein, das Wissen jeder einzelner Berufsgruppe zu nutzen, um eine gute Versorgung und Begleitung des Kindes zu gewährleisten und dadurch optimale Voraussetzungen für die Lebensqualität des Frühgeborenen und seiner Eltern zu erreichen. „Idealerweise führt diese Kooperation zu einer Erweiterung des berufsspezifischen Blickes, zur Förderung des Verständnisses füreinander und des Verständnisses für Eltern und Kind. Es geht folglich einerseits um die offene und konstruktive Zusammenarbeit der Fachdisziplinen untereinander, andererseits um die Zusammenarbeit mit der Familie“ (Christ-Steckhan, 2005, S. 14). Eine sozialpädagogische Kraft hat eine zentrale Stellung mit Vermittlerfunktion. Sie kann Hilfe anbieten, weiterverweisen, sie hat den Gesamtblick auf die Eltern. Sie kann Netzwerkarbeit leisten und sich parteilich für die Eltern engagieren. Durch die unterschiedlichen Qualifikationen kann es leicht zu Konflikten und Abgrenzungsproblemen unter den einzelnen Berufsgruppen kommen. Nur wenn alle Beteiligten offen dafür sind, von den anderen Kompetenzen zu profitieren, dann kann das Ziel, Frühgeborene und ihre Eltern optimal zu unterstützen, erreicht werden. Anschrift für die Autorinnen: Prof. Dr. Michaela Gross-Letzelter Kath. Stiftungsfachhochschule, Abt. München Preysingstr. 83 D-81667 MÜnchen e-Mail: michaela.gross-letzelter@ksfh.de 166 FI 3 / 2011 Michaela Gross-Letzelter, Martina Baumgartner Literatur Baumgartner, M. (2009): „Kindeswohlgefährdung bei Frühchen - Eine Herausforderung für die Soziale Arbeit“. unveröffentlichte Diplomarbeit Christ-Steckhan, C. (2005): Elternberatung in der Neonatologie. Reinhardt, München Gross-Letzelter, M., Bassermann, M. (2011): Frühe Hilfen und früh geborene Kinder mit ihren Familien. Am Beispiel des Modells der Frühen Hilfen München. In: Gemeinsam leben. 19. Jg., Heft 1, Januar 2011, S. 27 -35 Gross-Letzelter M., Baumgartner, M., Kovacic, A. (2010): Frühchen-Eltern - eine sozialpädagogische Studie. Pabst Science Publishers, Lengerich u. a. Höck, S. (1999): Beratungsangebote für Familien mit sehr kleinen Frühgeborenen aus dem Blickwinkel kindlicher Aspekte. In: Frühförderung interdisziplinär, 18. Jg., Ernst Reinhard Verlag, München/ Basel, S. 49 -58 Sarimski, K., Porz, F. (2009): Frühgeborene nach der Entlassung. In: Bundesverband „Das frühgeborene Kind“ e.V. (Hrsg.): Informationsbroschüre. Vgl. http: / / www.fruehgeborene.de/ download/ fruehgeborene/ fruehg-nach-der-entlassungdeutsch.pdf Staub-Bernasconi, S. (2007): Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft. Haupt Verlag. Bern
