Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/fi2011.art19d
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Sensible Phasen und kindliche Entwicklung
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Franz Peterander
Die Bedeutung frühkindlicher Erfahrungen für die spätere Entwicklung steht in engem Zusammenhang mit der Diskussion sensibler Phasen. Anhand von Ergebnissen der Neurowissenschaften wird das Zusammenwirken genetischer Prädispositionen und früher Erfahrungen für die langfristige Kindsentwicklung erörtert. Gehirnprozesse scheinen hierbei additiv oder in Kombination zu wirken, Kausalitäten zwischen Gehirnentwicklung und Verhalten sind nicht postulierbar. Studien zu sensiblen Phasen betonen jedoch die herausragende Stellung frühkindlicher Erfahrungen für die Gehirnentwicklung: hier bilden und verfestigen sich die die weitere Informationsverarbeitung bestimmenden neuronalen Netzwerke, die spätere Interventionen erleichtern oder erschweren. Ferner weisen Deprivationsstudien auf das Ausmaß langfristiger Schädigungen durch intensive frühe Stresserfahrungen hin, aber auch auf eine bemerkenswerte Variabilität von Entwicklungsverläufen. Implikationen für die Frühförderung werden skizziert.
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196 Frühförderung interdisziplinär, 30. Jg., S. 196 -202 (2011) DOI 10.2378/ fi2011.art19d © Ernst Reinhardt Verlag ORIGINALARBEIT Sensible Phasen und kindliche Entwicklung Franz Peterander Zusammenfassung: Die Bedeutung frühkindlicher Erfahrungen für die spätere Entwicklung steht in engem Zusammenhang mit der Diskussion sensibler Phasen. Anhand von Ergebnissen der Neurowissenschaften wird das Zusammenwirken genetischer Prädispositionen und früher Erfahrungen für die langfristige Kindsentwicklung erörtert. Gehirnprozesse scheinen hierbei additiv oder in Kombination zu wirken, Kausalitäten zwischen Gehirnentwicklung und Verhalten sind nicht postulierbar. Studien zu sensiblen Phasen betonen jedoch die herausragende Stellung frühkindlicher Erfahrungen für die Gehirnentwicklung: hier bilden und verfestigen sich die die weitere Informationsverarbeitung bestimmenden neuronalen Netzwerke, die spätere Interventionen erleichtern oder erschweren. Ferner weisen Deprivationsstudien auf das Ausmaß langfristiger Schädigungen durch intensive frühe Stresserfahrungen hin, aber auch auf eine bemerkenswerte Variabilität von Entwicklungsverläufen. Implikationen für die Frühförderung werden skizziert. Schlüsselwörter: Sensible Phasen, frühe Erfahrungen, Neurowissenschaften, Deprivationsstudien, Frühförderung Sensitive periods and child development Summary: The close relation between early experiences and later child development characterizes the discussion about sensitive periods. By means of research in neurosciences interrelations between genetic dispositions and early experiences will be discussed. Causalities between brain development and behavior are not identifiable - most likely several brain processes may act in combination or additively. Research in the area of sensitive periods stresses the evidence of early experiences for brain development: neuronal networks will be generated and consolidated, facilitating or impeding later interventions. Further studies of early-deprived children in institutions suggest persisting effects by early experience of toxic stress as well as remarkable variations in developmental pathways. Implications for early childhood intervention will be outlined. Keywords: Sensitive periods, early experiences, neurosciences, studies of early deprivation, early childhood intervention E rkenntnisse aus Langzeitstudien und aus der Hirnforschung unterstreichen die Bedeutung langfristiger Auswirkungen frühester kindlicher Erfahrungen auf die individuelle Entwicklung. Gibt es bestimmte Zeitfenster für die Gehirnentwicklung und das Lernen im frühesten Alter, die die spätere kindliche Entwicklung nachhaltig beeinflussen? Wie und wann bilden sich Gehirnstrukturen aus, die optimale Entwicklungsprozesse ermöglichen? Welche negativen Konsequenzen ergeben sich hinsichtlich der Gehirnentwicklung aus massiv erlebten Stresssituationen für Säuglinge und wie beeinträchtigt dies ihre zukünftigen Entwicklungschancen? Die Kenntnis dieser frühesten Entwicklungsprozesse auf unterschiedlichen Ebenen ist von fundamentaler Bedeutung für die Frühförderung in allen Altersstufen, vor allem aber unterstreichen die Forschungsergebnisse die Notwendigkeit zur diagnostischen Klärung von Fragen zum Beginn und 197 FI 4 / 2011 Sensible Phasen und kindliche Entwicklung der Intensität der Förderung von Säuglingen aus Hochrisikofamilien, von Säuglingen, die mit einem individuellen Risiko geboren werden bzw. Säuglingen mit Behinderungen. Im Unterschied zur Bindungsforschung - die wie in diesem Heft vergleichbaren Fragen nachgeht (Sroufe et al., 2011) -, soll nachfolgend der Aspekt der sensiblen Phasen der Gehirnentwicklung im Säuglingsalter diskutiert werden und ihre möglichen Folgen für die dortige Verarbeitung späterer Erfahrungen sowie für die kognitive, emotionale und soziale Kindsentwicklung. Beitrag der Neurowissenschaften Bedeutsame Fortschritte in den Neurowissenschaften, der Genforschung und Molekularbiologie haben das Wissen zur Erklärung unterschiedlicher kindlicher Entwicklungsprozesse erweitert. Diese Forschungsergebnisse haben bereits Eingang in Psychologie und Pädagogik gefunden (Jäncke, 2010) wie z. B. am Buch von Otto Speck „Hirnforschung und Erziehung“ (2008) zu sehen ist. Es ist bekannt, dass die Gene pränatal einen ersten Bauplan (blueprint) für die Ausbildung von Gehirnstrukturen zur Verfügung stellen. Die Qualität der frühen Umwelteinflüsse bewirkt dann, ob und wie umfassend sich die neuronalen Netzwerke verknüpfen und in welchem Ausmaß die wechselseitigen Interaktionsprozesse zwischen der genetischen Disposition und den frühen Erfahrungen die Grundlagen für Lernen und Verhalten legen, die eine positive oder eine negative Entwicklung der Kinder erwarten lassen (Shonkoff, 2010). Die pränatal ausgebildeten Strukturen und Funktionen des Gehirns bilden die Grundlage, damit der Säugling überhaupt in der Lage ist, nach der Geburt Informationen der Umwelt über die unterschiedlichen Sinnesorgane aufzunehmen und zu verarbeiten. Fortdauernde Erfahrungen führen wiederum im Gehirn zu ständigen Veränderungsprozessen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass durch spezifische frühe Erfahrungen neuronale Verbindungen in bestimmten Schlüsselstadien der Entwicklung gestärkt oder gehemmt werden, wobei diese Zeitpunkte Hinweise auf sensible Phasen sind (Knudson, 2004), d. h. Phasen, in denen bestimmte Erfahrungen sich als notwendig erweisen, damit weitere neuronale Strukturen aufgebaut werden können, die dann in einem nächsten Entwicklungsschritt in der Interaktion mit der Umwelt eine weitere Vernetzung neuronaler Verbindungen ermöglichen und so frühe Entwicklungsprozesse vorantreiben. Ergebnisse von Studien zeigen, dass frühe fürsorgliche, kontingente, stabile und voraussagbare Erfahrungen eine optimal ausdifferenzierte Gehirnentwicklung fördern. Wenn hingegen die frühe Kindheit durch unsichere, vernachlässigende oder deprivierende Bedingungen geprägt ist, kommt es zwangsläufig zu einer Überaktivierung des Stress-Systems, was zu einer nur unzureichenden Ausdifferenzierung oder sogar Schädigung von neuronalen Strukturen führt (Braun et al., 2008; Heim, 2004). In der Folge wird die Entwicklung der Lernfähigkeit, der Aufmerksamkeit, die Gestaltung emotionaler Beziehungen etc. eingeschränkt. Auch lässt sich in diesen Fällen verstärkt eine erhöhte Vulnerabilität beobachten, die mittel- und langfristig zu Verhaltensauffälligkeiten oder somatischen bzw. körperlichen Erkrankungen führen kann (O’Connor und Parfitt, 2009). Sensible Phasen und Wirkungen früher Erfahrungen Wie erwähnt, bezeichnen sensible Phasen Entwicklungszeiträume, in denen das Gehirn auf bestimmte Lernerfahrungen besonders ansprechbar ist. In diesen Phasen können sich auf einfache und schnelle Weise neuronale Verknüpfungen bilden, wie dies je nach Entwicklungsbereich besonders in der Phase 198 FI 4 / 2011 Franz Peterander der sogenannten „Überproduktion von Synapsen“ der Fall ist (Huttenlocher, 1979). Bei der Sprachentwicklung ist diese sensible Phase der höchsten Überproduktion schon im 3. - 14. Monat erreicht, bei der kognitiven Entwicklung zwischen dem 8. - 24. Monat (Shonkoff und Phillips, 2000, Abb. 8-1, S. 188). Wenn also eine „identische“ frühe Erfahrung nicht innerhalb, sondern außerhalb dieses Zeitfensters gemacht wird, entfaltet sie nicht die gleiche Art der Wirkung. Erklärungsmodelle zur Bedeutung früher Erfahrungen in bestimmten sensiblen Phasen basieren somit auf der Ebene der Genetik bzw. neuronaler Netzwerke, wobei die direkte Beobachtung der Auswirkungen früher Erfahrungen auf der Verhaltensebene erfolgt. Es ist davon auszugehen, dass jedes sensorische und kognitive System eigene sensible Phasen hat, weshalb vergleichbare Umweltbedingungen, je nach dem Alter von Säuglingen und Kindern, zu verschiedenen kognitiven und emotionalen Erfahrungen führen (Bailey et al., 2001). Nicht zuletzt aus diesem Grund ist die Kenntnis sensibler Phasen insbesondere mit Blick auf die Förderung bzw. Hemmung bestimmter kindlicher Fähigkeiten generell und vorrangig auch für die Frühförderung von fundamentalem Interesse. Zum einen können die Auswirkungen früher Erfahrungen auf die langfristige kindliche Entwicklung besser verstanden werden. So konnte Kuhl (2004) nachweisen, dass zum Erwerb der Fähigkeit, unterschiedliche Töne wahrzunehmen und zu differenzieren, es bereits im Säuglingsalter einer variationsreichen tonalen Umwelt bedarf. Diese für die Gehirnentwicklung förderlichen Erfahrungen vielfältiger Variationen führt später zu hohen Leistungen in der Sprachverarbeitung und Sprachkompetenz. Zum anderen ist das Wissen um die Qualität von Erfahrungen in einer sensiblen Phase wichtig, da sich durch dieses Konzept erklären lässt, warum es häufig schwierig ist, optimale Funktionsfähigkeiten in unterschiedlichen Bereichen im späteren Alter zu erreichen. Eine Erklärung könnte sein: ein Entwicklungsprozess hat sich auf neuronaler Ebene wie auch im Verhalten schon in eine bestimmte Richtung verfestigt (O’Connor und Parfitt, 2009). Allerdings trägt angesichts der Komplexität der kindlichen Umwelt das Konzept der sensiblen Phasen nicht immer in einer wünschenswerten Weise zur Erklärung von Entwicklungsprozessen bei. In Studien zu Risikofaktoren in der frühen Kindheit wie z. B. Armut, ist häufig eine Kumulation von Risikofaktoren zu beobachten, die zeitlich nicht eingrenzbar ist (Sameroff und Fiese, 2000). Somit verliert eine frühe Förderung während einer sensiblen Phase häufig an Wirkung, wenn die Vielschichtigkeit der ungünstigen Lebensbedingungen unberücksichtigt bleibt. Neuronale Netzwerke und individuelle Entwicklungen werden in einer sensiblen Phase durch die jeweiligen Umweltbedingungen nachhaltig beeinflusst, und wie schon erwähnt, teilweise schon festgelegt. Dies führt dazu, dass spätere Modifikationen der Gehirnstrukturen, und damit auch des Verhaltens, schwieriger werden. Untersuchungen zur Sprach- und Gesichtswahrnehmung zeigen, dass das zu Beginn breit angelegte Fenster zur Wahrnehmung von Gesichtern und Sprache mit der Zeit durch vermehrte Erfahrungen immer enger wird (Pascalis et al., 2002). Vermutlich kommt früh gemachten Erfahrungen ein vergleichsweise größerer Einfluss auf noch wenig ausdifferenzierte „junge“ neuronale Netzwerke zu, wie dies später bei schon ausdifferenzierten neuronalen Netzwerken der Fall ist. Dieser Befund lässt sich durch Studien zur Aphasie bestätigen: früh erlernte Wörter werden weniger häufig vergessen als später erlernte (Greenough et al., 1987). Demnach kann festgehalten werden, dass sich neuronale Netzwerke hierarchisch entwickeln. So verarbeiten Netzwerke zur Er- 199 FI 4 / 2011 Sensible Phasen und kindliche Entwicklung fassung visueller Informationen zuerst Farbe, Form oder Bewegung, bevor Kinder zum Beispiel auf einer höheren Ebene Gesichter erkennen sowie Essen bzw. häufig genutzte Objekte identifizieren können (Knudson, 2004). Es zeigt sich zudem, dass bei einer ungünstigen Ausdifferenzierung neuronaler Strukturen auf einer unteren Ebene, wie dies beim Fehlen förderlicher frühkindlicher Erfahrungen gegeben ist, es zu irreversiblen Schädigungen kommt. Trotz dieser Situation belegen Studien zur Plastizität des Gehirns, dass die durch die Schädigung fehlenden Informationen zur Realisierung eines bestimmten Verhaltens teilweise über alternative Pfade zur Verfügung gestellt werden können (Taub et al., 1998; Zihl et al., 2009). Viele Studien weisen auf die Fähigkeit des Menschen zum lebenslangen Lernen hin, auch wenn sich dies infolge der Verfestigung neuronaler Strukturen mit zunehmendem Alter schwieriger gestaltet (Roth, 2007). Kurz gesagt: um das gesamte genetische Potenzial auszuschöpfen, müssen auf frühe vielfältige und vielschichtige Erfahrungen ebensolche im späteren Leben folgen (Nelson et al., 2007). Sensible Phasen und Deprivationserfahrungen Im Zusammenhang mit der Frage nach der Bedeutung sensibler Phasen für die kindliche Entwicklung kommt sowohl den frühen Deprivationsstudien an Tieren (Harlow, 1966) wie auch Studien zu den Auswirkungen früher Deprivationserfahrungen von Säuglingen und Kleinkindern in staatlichen Institutionen wie z. B. Waisenhäusern ein hoher Erklärungswert zu (Spitz, 1945, 1965). Frühe Deprivationserfahrungen können ohne Zweifel gravierende Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung haben. Die heterogenen Ergebnisse vieler Deprivationsstudien entsprechen jedoch häufig nicht wissenschaftlichen Standards hinsichtlich Stichprobe, Datenerhebung, Kontrollgruppen etc., was sich erst mit der bekannten English-Romanian Adoptee (ERA) Studie (Rutter et al., 2010) und dem Bucharest Early Intervention Project (BIP) (Nelson et al., 2007) geändert hat. Die Kinder der ERA Langzeitstudie, die noch andauert, lebten in rumänischen Waisenhäusern und waren zwischen 1990 und 1992 von englischen Eltern legal adoptiert worden. Die in einer repräsentativen Stichprobe untersuchten Kinder waren zwischen 0 - 42 Monate in Waisenhäusern in Rumänien untergebracht. Die Kontrollgruppe bestand aus englischen Kindern, die ebenfalls von englischen Eltern adoptiert wurden, vorher aber nicht in Waisenhäusern lebten. Ein zentrales Ergebnis der Studie: Trotz der festgestellten massiven Deprivationserfahrungen aller rumänischen Kinder ist zwischen ihnen eine bemerkenswerte Variabilität in den unterschiedlichen Entwicklungsbereichen wie Kognition, Emotion, Sozialverhalten etc. zu beobachten. Im Bereich der intellektuellen Leistungen zeigte sich bei einer Gruppe rumänischer Kinder, die zwei Jahre unter Deprivationsbedingungen gelebt hatten, eine starke kognitive Beeinträchtigung, während die Werte anderer Kinder dieser Gruppe bezüglich ihrer kognitiven Leistungen überraschenderweise sogar über dem durchschnittlichen IQ-Wert lagen. Es fehlt bislang an überzeugenden theoretischen Modellen, die nicht nur die negativen Wirkungen der frühen Deprivationserfahrungen auf die spätere Entwicklung, sondern auch die individuellen Unterschiede in den Entwicklungsverläufen erklären können. Die ERA Studie erbrachte ein weiteres interessantes Resultat. Für viele Verhaltensbereiche hat die Dauer der Deprivation eine fortdauernde Wirkung auf die Langzeitentwicklung der Kinder - und dies trotz förderlicher 200 FI 4 / 2011 Franz Peterander Entwicklungsbedingungen nach der Adoption. Wenn die rumänischen Kinder vor dem 6. Lebensmonat adoptiert wurden, dann wiesen sie im Alter von 11 Jahren einen durchschnittlichen IQ (Wechsler Test) von 101 auf; bei Kindern, die bei der Adoption 6 - 24 Monate alt waren, betrug der IQ-Wert 86 und bei Kindern, die zwischen 24 - 42 Monaten in den Waisenhäusern lebten, ergab sich ein IQ- Wert von 83 (Beckett et al., 2006). Die großen Unterschiede von bis zu 18 Punkten sind bemerkenswert. Die in dieser Studie sowohl im kognitiven Bereich wie auch im Bindungsverhalten festgestellten schwerwiegenden Defizite werfen nach O’Connor und Parfitt (2009) die Frage auf, ob das 6. Monat nicht einen entscheidenden Zeitpunkt für eine Art von „ontogenetischer Vulnerabilität“ darstellt. Dieses Ergebnis unterstreicht mit Blick auf die Diskussion sensibler Phasen gleichfalls die große Bedeutung des Säuglingsalters. In die gleiche Richtung weisen die Ergebnisse der Meta-Analyse von Ijzendoorn und Juffer (2006). Ihrer Meinung nach liegt der kritische Punkt für Bindungsprobleme und Schwierigkeiten in sozialen Beziehungen nach 12 Monaten Deprivation und führt auf lange Sicht zu schädigenden Wirkungen. Rutter et al. (2010) sprechen in diesem Zusammenhang bei der ERA Studie von festgestelltem „quasi-autistischen“ Verhalten der adoptierten rumänischen Kleinkinder noch im späteren Jugendalter von 15 Jahren. Eine optimistischere Perspektive für Kinder mit gravierenden Deprivationserfahrungen erlaubt die Langzeitstudie „Bucharest Early Intervention Project“ (BIP). Durch eine familienorientierte Intervention bei rumänischen Familien, die Kleinkinder adoptierten, die 24 Monate unter deprivierenden Bedingungen in rumänischen Waisenhäusern gelebt hatten, konnten beachtliche Verbesserungen der intellektuellen Leistungsfähigkeit bei diesen Kindern erreicht werden (Nelson et al., 2007). Implikationen für die Frühförderung Die Ergebnisse von Studien über sensible Phasen der kindlichen Entwicklung zeigen die überaus große Bedeutung frühester Erfahrungen. Eine Botschaft der Neurowissenschaften an die Frühförderung könnte die Betonung von Aspekten wie Intensität und Nachhaltigkeit der Wirkungen der Umwelt auf Gehirn und Verhalten sein, wodurch Säuglinge und Kleinkinder „geprägt“ werden. Eine Isolierung der Wirkungen einzelner früher Erfahrungen ist nicht möglich. Angesichts dieser Situation wäre es denkbar als Ergänzung zu den systemisch-ökologischen Theorien zur Frühförderung sowie ihrer heute hinlänglich ausdifferenzierten Förderkonzepte eine handlungsleitende Theory of Change zu entwickeln. Sie sollte zur besseren Erklärung der Wirkungen der Frühförderung von Kindern mit Entwicklungsgefährdungen beitragen, wie sie auch Ziele und Methoden zur Initiierung von Veränderungsprozessen im System Familie formulieren könnte (Brooks-Gunn et al., 2003). Die Ergebnisse der Neurowissenschaften könnten hierzu vor allem mit Blick auf eine gezielte, individualisierte und einen zeitlich optimal gewählten Beginn der Frühförderung Akzente setzen - ein Beginn der Förderung im Alter von 3 - 4 Jahren ist aus dieser Sicht häufig zu spät. Die neurowissenschaftlichen Studien unterstreichen zudem die Notwendigkeit frühester Erfahrungen von Kindern in einer für sie anregenden und beziehungsorientierten Umwelt. Damit kommt der Gestaltung der familiären Umwelt im Kontext der „Familienorientierung“ in der Frühförderung eine noch stärkere Gewichtung wie bislang zu, von der insbesondere die stetig zunehmende Anzahl von Kindern, die unter kumulativen Risiko- und Stressbedingungen wie Armut, Migration etc. aufwachsen, profitieren könnten. 201 FI 4 / 2011 Sensible Phasen und kindliche Entwicklung Letztlich sind aufgrund der bisherigen Fortschritte in der Genetik und den Neurowissenschaften weiterhin neue Erkenntnisse über den Zusammenhang von Neurobiologie und Erleben und Verhalten zu erwarten. In Zukunft sollen zum Beispiel in dieser Forschungsrichtung weniger die beobachtbaren Symptome der Kinder, sondern vermehrt ihre Ursachen im Vordergrund stehen: „Advances in neuroscience methods have spurred considerable interest in identifying possible biomarkers or indicaters of biological mechanism in research on early experience“ (O’Connor und Parfitt 2009, S. 126). Am US National Institute of Mental Health - Division of Neuroscience and Basic Behavioral Science (DNBBS) werden in diesem Sinne bereits Forschungsarbeiten durchgeführt. Auch an vielen Universitäten wurde in Psychologie und Pädagogik mittlerweile der Fokus in Forschung und Lehre unübersehbar auf die Neurowissenschaften gelegt. Dieses zusätzliche Wissen könnte Konzepte der interdisziplinären Frühförderung modifizieren bzw. erweitern wie auch vielleicht dazu beitragen, Diagnostik und Interventionsverfahren weiter zu entwickeln. Prof. Dr. F. Peterander Ludwig-Maximilians Universität Department Psychologie - Frühförderung Leopoldstr. 13 80802 München E-Mail: Peterander@lrz.uni-muenchen.de Literatur Bailey, D. B., Bruer, J. T., Symons, F. J., Lichman, J. W. (2001). Critical thinking about critical periods. Baltimore, MD: Paul Brookes Beckett, C., Maughan, B., Rutter, M., Castle, J., Colvert, E., Groothues, C. et al. (2006). 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