eJournals Frühförderung interdisziplinär 30/4

Frühförderung interdisziplinär
1
0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2011
304

Nachruf: Zum Tod von Univ.-Prof. Dr. Siglinde Kunert

101
2011
Christoph Leyendecker
Am 16. Oktober 2010 starb Univ.-Professorin em. Dr. phil. Siglinde Kunert. Ihr Tod beendete ein beeindruckend dynamisches Leben. Umso schmerzlicher wird ihr Verlust empfunden.
1_030_2011_4_0006
1 FI Nachruf NachruF Zum Tod von Univ.-Prof. Dr. Siglinde Kunert am 16. Oktober 2010 starb univ.-Professorin em. Dr. phil. Siglinde Kunert. Ihr Tod beendete ein beeindruckend dynamisches Leben. umso schmerzlicher wird ihr Verlust empfunden. Eine Frau, die eigentlich nie Lehrerin werden wollte, aber dann doch auf verschiedenen Ebenen als Lehrerin tätig war: Mit jungen 19 Jahren schon Lehrerin im Nachkriegsdeutschland, dann Lehrerin in der Schule des Kinderkrankenhauses Bad Godesberg, Lehrerin an der hilfsschule Leyendeckerstraße in Köln, danach aufbau einer Krankenhausschule in den universitätskliniken Köln, Gründung und Leitung der Schule für Körperbehinderte und schließlich universitäts-Professorin für Körperbehindertenpädagogik an der universität zu Köln. Das alles war nur zu schaffen, indem sie schon früh ein Studium draufsetzte: getrieben von der Not und engagiert in der Sorge um kranke und behinderte Kinder hatte sie ein Psychologiestudium absolviert und eine psychoanalytische ausbildung begonnen. Fasziniert vom (neo)psychoanalytischen Gedankengut war sie eine der wenigen Pädagoginnen, die nach anna Freud die Situation kranker und behinderter Kinder nicht nur zu deuten und zu verstehen suchte, sondern auch ansatzpunkte psychohygienischer Behandlung bzw. psychagogisch orientierter Erziehung fand. und darin war sie eine wahrhafte Meisterin: voller Elan und Überzeugungskraft - selbst wenn gelegentlich ihre eigenen empirischen untersuchungsergebnisse das analytische Deutungsgeflecht anzuzweifeln drohten. Mit scharfsinnigem Intellekt und emotionaler Intelligenz wusste sie die ambiguität komplexer Wirkungszusammenhänge auszuloten. Es war im Grunde ein zentraler Lösungsansatz, auf den sie viele pädagogische Problemstellungen bezog: nämlich die Frage der hemmung von antrieben einerseits und der Qualität vermittelter Beziehungssicherheit andererseits. Beides waren die festen ankerpunkte ihres pädagogischen handelns fürs Kind und dessen weitmöglicher Befreiung von Gehemmtheiten. Befreiung und Geborgenheit des behinderten Kindes sah sie in einer materalistischen Welt gefährdet. Es galt, Bedrohungen des Lebens behinderter Kinder entgegenzutreten. Kunert hatte die Schrecken des Euthanasieprogramms der Nazis erlebt. Von daher war es ihr ein höchst sensitiviertes anliegen, auch der leisesten Bedrohung behinderten Lebens entgegenzutreten. In diesem Punkt war sie von radikaler Entschiedenheit. So gerieten manche Diskussionen über die Liberalisierung von abtreibung und pränataler Implantationsdiagnostik schnell zu einem Punkt, an dem es mit ihr nichts mehr zu diskutieren gab. Daran gingen auch langjährige kollegiale Beziehungen zu Bruch. Ihre geradlinige Entschiedenheit war es aber auch, mit der sie ein ungeheuer breites Spektrum von aktivitäten initiierte und ins Werk setzte. Das musste man/ frau erlebt haben: diese forsche art, Probleme schnell zu erfassen, flugs über deren Lösung nachzudenken und - das ging einigen viel zu schnell - eine mögliche antwort sogleich in die Tat umzusetzen. und mit dieser Verblüffung erreichte sie viel: Sie gründete die Forschungsgemeinschaft „Das körperbehinderte Kind“, die in vielen Forschungsprojekten Grundlagen der Erziehung körperbehinderter Kinder erarbeitete. Sie schaffte finanzielle Mittel herbei und erreichte eine schulpsychologische Betreuung der 2 FI Nachruf Kinder. Sie gab den anstoß zur Dezentralisierung der Körperbehindertenschule im kölnischen raum: Nacheinander folgten Schulen in rösrath, Brauweiler, Leichlingen sowie Bonn und Euskirchen. Schließlich erreichte sie, dass sich die Erziehung körperbehinderter Schüler mit zwei Lehrstühlen (einen für Pädagogik, einen für Psychologie) an der heilpädagogischen abteilung, später Fakultät der universität zu Köln etablieren konnte. In physiotherapeutischer hinsicht bahnte sie schon in den frühen 60er-Jahren Kontakte zu dem Ehepaar Bobath in London an, richtete unter deren Supervision erste Kurse im „Neuro Developmental Treatment“ aus und gab den anstoß für ein Forschungsvorhaben zur frühen Förderung cerebral bewegungsgestörter Kinder. aus diesem Projekt entwickelte sich über die Jahre ein überregional bekanntes, großes und einzigartiges Zentrum für Frühbehandlung und Frühförderung. Dieses bietet in acht interdisziplinären Frühförderstellen mit insgesamt 140 Fachpersonen Diagnostik, Beratung, Therapie und Förderung an. Es unterhält seit zehn Jahren auch ein eigenes, viel frequentiertes Fortbildungsinstitut. und was die Weitergabe kompetenter Lehre anbelangt, so ist dies mit der Berufung ehemaliger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf acht Lehrstühle in hervorragender Weise dokumentiert. Bei all dieser Strahlkraft soll nicht schönfärbend übergangen werden, was weiland an einer Wand der heilpädagogischen Fakultät zu lesen war: „Ist’s schon Gotteslästerung, Frau Kunert zu kritisieren? ! “ Dies zeigt, dass Siglinde Kunert eine Frau war, die zur ambivalenten auseinandersetzung reizte: einerseits gewann sie mit charme und Intellekt hohe Verehrung und Sympathie, andererseits forderte sie oft den Stachel kritischer Vernunft heraus. Beides wird im Bewusstsein vieler bleiben. Nicht zuletzt werden ihr viele Frauen danken; war sie doch in den 60er-Jahren die erste, die einen Personalkindergarten einrichtete, viele Frauen zur akademischen ausbildung motivierte und ihnen eine volle berufliche Tätigkeit ermöglichte - und das zu einer Zeit, in der weibliche Emanzipation noch kein sehr bekanntes Wort war: eine mutige Facette ihrer dynamischen Lebensleistung, getreu dem Leitspruch von hermann hesse: „Man (besser: Frau) muss das unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen.“ Christoph Leyendecker, Köln