eJournals Frühförderung interdisziplinär 31/1

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2012
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Normalität und Handlungsspielräume zurückerobern

11
2012
Klaus Sarimski
Kinder, bei denen schon von den ersten Lebenswochen an eine schwere und alle Entwicklungsbereiche umfassende Behinderung oder ein außergewöhnlich hoher Pflegebedarf aufgrund ihrer körperlichen Fragilität erkennbar ist, bedeuten eine große Herausforderung an die Bewältigungskompetenz der Eltern. Es werden Eindrücke aus sechs Einzelfallstudien berichtet, in denen Mütter von Kindern mit drohender schwerer Behinderung ein Jahr lang begleitet wurden. Sie illustrieren ihr Streben nach Wiedereroberung von Normalität im Alltag und eigenen Handlungsspielräumen, zeigen aber auch die Belastung durch vielfältige Anforderungen und die Auseinandersetzung mit der Zukunft angesichts der schweren Behinderung. Eine stützende Beratung ist in dieser frühen Phase die wichtigste Aufgabe der Frühförderung.
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3 Frühförderung interdisziplinär, 31. Jg., S. 3 -14 (2012) DOI 10.2378/ fi2012.art01d © Ernst Reinhardt Verlag ORIgInalaRbEIt Normalität und Handlungsspielräume zurückerobern Mütter von Kindern mit drohender schwerer Behinderung in der Frühförderung Klaus Sarimski Zusammenfassung: Kinder, bei denen schon von den ersten Lebenswochen an eine schwere und alle Entwicklungsbereiche umfassende Behinderung oder ein außergewöhnlich hoher Pflegebedarf aufgrund ihrer körperlichen Fragilität erkennbar ist, bedeuten eine große Herausforderung an die Bewältigungskompetenz der Eltern. Es werden Eindrücke aus sechs Einzelfallstudien berichtet, in denen Mütter von Kindern mit drohender schwerer Behinderung ein Jahr lang begleitet wurden. Sie illustrieren ihr Streben nach Wiedereroberung von Normalität im Alltag und eigenen Handlungsspielräumen, zeigen aber auch die Belastung durch vielfältige Anforderungen und die Auseinandersetzung mit der Zukunft angesichts der schweren Behinderung. Eine stützende Beratung ist in dieser frühen Phase die wichtigste Aufgabe der Frühförderung. Schlüsselwörter: Schwere Behinderung, Belastung, Beratung Searching for normalcy and self-determination - mothers of severely handicapped infants in early intervention services Summary: Daily life with a severely handicapped or medically fragile young child means a significant challenge for parental coping resources. We present some views from six mothers whom we met several times during a year. These views stress the mothers’ searching for some form of normalcy and self-determination as well as their daily hassles and their reflections on the future. Supportive counseling is the main task of early intervention services in this early period of life. Keywords: Severe handicap, parenting stress, supportive counseling E ine sehr schwere Behinderung eines Kindes bedeutet, dass alltägliche Lebensvollzüge wie Nahrungsaufnahme, Verdauung, Atmung, Ein- und Durchschlafen, Bewegungsmöglichkeiten, Erkunden der Umwelt und Verständigung mit den Bezugspersonen in gravierendem Maße beeinträchtigt sind und ein lebenslanges hohes Maß an sozialer Abhängigkeit besteht. Bei diesen Kindern ist die Entwicklung und Aneignung von Kompetenzen in den Bereichen Wahrnehmung, Motorik, Kommunikation, Kognition und sozial-emotionalem Verhalten umfänglich erschwert. Kinder, bei denen schon von den ersten Lebenswochen an eine so schwere und alle Entwicklungsbereiche umfassende Behinderung oder ein außergewöhnlich hoher Pflegebedarf aufgrund ihrer körperlichen Fragilität erkennbar ist, bedeuten eine große Herausforderung an die Bewältigungskompetenz der Eltern. Wie sie mit dieser besonderen Lebenssituation zurechtkommen, entscheidet mit darüber, wie gut sie sich auf die Bedürfnisse ihrer Kinder einstellen und eine befriedigende Beziehung zu ihren Kindern aufbauen können (Fröhlich et al., 2007). 4 FI 1 / 2012 Klaus Sarimski In der Frühförderung dieser Kinder geht es darum, das Kind und seine Familie auf ein Leben mit einer schweren Beeinträchtigung vorzubereiten, Techniken und Kompensationsmöglichkeiten im Alltag zu entwickeln, Pflege zu integrieren und „Reste von Normalität“ zu sichern bzw. eine neue, eigene Normalität aufzubauen. Im Zentrum steht nach der Sicherung des Überlebens der Auf bau einer eigenen Kommunikationsmöglichkeit innerhalb der Familie, die gemeinsame Entwicklung von Aktivitätsfeldern zwischen Eltern und Kind. (Fröhlich et al., 2007, 8) In der Fachliteratur finden sich einige Publikationen, in denen Mütter von Kindern mit schwerer und mehrfacher Behinderung rückblickend über ihre Erfahrungen aus der Anfangszeit des gemeinsamen Weges berichten (u. a. Fröhlich, 1986; Walthes et al., 1994; Lotz, 2004; Hintermair & Hülser, 2004). Es fehlt aber an Veröffentlichungen, die den Verlauf des Belastungserlebens und der Beziehungswahrnehmung seitens der Mütter während der ersten beiden Lebensjahre dokumentieren und Schlussfolgerungen für die Beratungsaufgaben der Frühförderung ziehen. Ein Forschungsvorhaben der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg soll einen Beitrag zur Schließung dieser Lücke leisten. 1 Es umfasst zwei Teile. Über die Ergebnisse einer schriftlichen Elternbefragung, an der sich 69 Mütter von schwer behinderten Kindern im Vorschulalter beteiligten, wurde bereits in dieser Zeitschrift berichtet (Sarimski, 2010). Ergänzend werden nun Eindrücke aus longitudinal angelegten Einzelfallstudien zusammengestellt, die qualitativ ausgewertet wurden. Stichprobe und Untersuchungsvorgehen Der Bericht bezieht sich auf Einzelfallstudien an sechs Kindern, die im Abstand von drei Monaten vier Mal zu Hause besucht wurden. 2 Das Alter der Kinder variierte zum ersten Untersuchungszeitpunkt zwischen sieben und 21 Monaten. Bei allen Kindern drohte eine sehr schwere Behinderung aufgrund einer genetisch bedingten komplexen Entwicklungsstörung, einer schweren Hirnschädigung unbekannter Ursache oder einer extrem frühen Geburt mit nachfolgenden Komplikationen. Bei vier Kindern lag im Rahmen der komplexen Behinderung eine zentrale Sehschädigung, bei drei Kindern eine Hörschädigung vor. Drei Kinder wurden mit einer PEG-Sonde ernährt, zwei Kinder waren auf eine kontinuierliche Heimbeatmung angewiesen. Um Kontakt zu den Müttern aufzunehmen, wurden Einladungsschreiben mit Informationen über die Studie an vier Sozialpädiatrische Zentren, drei Frühförderstellen und zwei ambulante Kinderpflegedienste in Baden-Württemberg versandt. Es meldeten sich sechs Familien, die zu einer Teilnahme bereit waren. Sie wurden schriftlich und mündlich nochmals ausführlicher über das Vorgehen der Studie informiert und stimmten schriftlich einer Teilnahme zu. - Das Forschungsvorhaben selbst wurde von der Ethikkommission der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg begutachtet und genehmigt. Im Rahmen des Forschungsvorhabens wurden bei jedem Untersuchungstermin u. a. ausführliche Interviews durchgeführt, die sich auf das gegenwärtige Befinden von Kind und Mutter, die Gestaltung des Alltags, die mütterliche Wahrnehmung der Beziehung zu ihrem Kind und seiner drohenden Behinderung, auf die Erfahrungen mit Ärzten sowie Fachkräften der Frühförderung und die Auswirkungen der Abhängigkeit von Pflegediensten bezogen. Ergänzend wurden zu verschiedenen Untersuchungszeitpunkten die rückblickenden Erinnerungen an die Geburt und stationäre Erstversorgung der Kinder, biografische Vorer- 5 FI 1 / 2012 Normalität und Handlungsspielräume zurückerobern fahrungen der Mütter und die Wahrnehmung des Verlaufs der Diagnoseverarbeitung erhoben. 3 Beim letzten Interview wurden sie danach gefragt, wie sie den Studienablauf bewerteten. Alle Mütter äußerten sich positiv und erlebten die Gelegenheit zu ausführlichen und wiederkehrenden Gesprächen als Entlastung und Unterstützung für die eigene Reflektion über ihren Alltag und ihre Emotionen. Die Interviews wurden als elektronische Audiodatei gespeichert und anschließend transkribiert. Alle nachfolgenden Zitate entstammen diesen Transkripten. Für die Analyse der Interviews wurde auf das Computerprogramm MAXqda © zurückgegriffen, das eine übersichtliche, flexible und effiziente Kodierung der Interviews am Bildschirm und einen raschen Abruf von Aussagen einer Person zu einem bestimmten Thema erlaubt. Auf diese Weise wurden insgesamt 2917 Einzeläußerungen kodiert. Für diesen Bericht wurden Äußerungen zu einzelnen Themenbereichen zusammengestellt, um einen Eindruck von den Herausforderungen zu vermitteln, denen sich die Mütter gegenübersehen, und der individuellen Variabilität ihres Belastungserlebens. „Wir haben noch keine Normalität …“ Der Alltag der Mütter wird von der Versorgung des Kindes und Terminen mit Ärzten, Therapeuten und Fachkräften der Frühförderung bestimmt. Bei einigen Kindern, die oral versorgt werden, ist das Essengeben belastet durch ausweichende Verhaltensweisen der Kinder, Unverträglichkeit von Speisen oder eine stete Sorge um eine ausreichende Ernährung. Zwei Kinder haben noch keinen stabilen Tag-Nacht-Rhythmus entwickelt. Das ist noch schwierig, wir waren ja jetzt in letzter Zeit viel im Krankenhaus. Das ist so eine ständige Umbruchsituation. Wir haben noch keine Normalität und noch keinerlei Alltag. Aber wir hoffen, dass es irgendwann mal zur Normalität kommt … ich brauch jetzt auch noch ein bisschen Routine. Die Große geht jetzt in die Kinderkrippe. Da muss sie morgens um neun sein. Da muss ich um sechs aufstehen und anfangen, damit ich die beiden Kinder um neun da hab. Dass ich um viertel vor neun mit den Kindern aus dem Haus gehen kann und dann bin ich halb zehn wieder daheim. Da kann ich erstmal frühstücken. Das schaff ich vorher nicht und ich trödel da nicht groß rum, sondern ich spring die ganze Zeit zwischen den beiden hin und her. (David, 1) Also mein Tag beginnt morgens um halb sieben. Ich steh auf, weck die Tina, mach sie für die Schule fertig. Entweder fahr ich sie in die Schule oder sie fährt alleine. Wenn ich heim komm, ist der Linus dann wach, dann muss ich gucken, dass ich das ganze Organisatorische erledige wie Bestellungen und mich mit den ganzen Firmen rumstreiten. Krankenkasse. Nebenbei noch irgendwie den Haushalt so einigermaßen in Schuss zu halten. Wäsche waschen, alles, was halt gemacht werden muss. Mittags sollte ich eigentlich kochen, wenn die Tina dann aus der Schule kommt, aber ich schaff ’s einfach nicht. Dass ich abends, wenn ich eigentlich ins Bett gehe, den Fernseher gar nicht mehr anmachen brauche, weil - wenn ich mich hinlege, schlaf ich sofort ein. (Linus, 3) Um die Müllbeutel, er hat ja jeden Tag eine Mülltüte, wegzubringen, muss ich bis um acht am Abend warten, bis der Pflegedienst wieder da ist. Ja, aber ich kann ihn nicht alleine lassen. Was für mich ganz schwer zu bewältigen ist, ist auch, wenn ich für ein paar Stunden unterwegs sein will, dann muss ich alles mitnehmen. Sauerstoff, Pulsoximeter, Inhalator. Das sind lauter so Dinge, die muss ich nach unten bringen, mit dem Simon. Also meistens mache ich es so, dass ich den Pulsoximeter auf laut drehe und ganz schnell nach unten sause und dann Simon hole. Weil anders geht’s ja nicht, ich habe ja keine fünf Arme, um das alles tragen zu können. Wenn ich einkaufen war und die Sachen nach oben bringen muss, ist’s zum Teil schier unmöglich. (Simon, 1) 6 FI 1 / 2012 Klaus Sarimski „Sonst müsste ich ihn den ganzen Tag nur rumdrehen wie ein Spanferkel“ Die Aussagen der Mütter zur Frühförderung und zu Therapien konzentrieren sich auf die Belastung durch die Physiotherapie und die Schwierigkeit, unterschiedliche fachliche Empfehlungen in den Alltag zu integrieren. Die Vojta-Gymnastik mach ich am Tag auch sehr häufig. Also früher habe ich sie nur dreimal gemacht, aber wegen der spastischen Lähmung und da das das Einzige ist, was man machen kann, mach ich sie jetzt viermal am Tag. Es ist hart. Also, sie schreit sehr viel in dieser Zeit und sie klinkt sich auch öfters mal aus, d. h. sie macht dann einfach nicht mehr mit. Aber mittlerweile weiß ich, wie ich es anstellen muss. (Svenja, 1) Ich mach mindestens jeden Abend eine halbe Stunde mit ihm Lichtspiele, morgens auch oft. In der Mittagspause turn ich normalerweise mit ihm, da rechnen wir auch mal eine halbe Stunde. Und dann so Sing- und Klatschspiele, da würde ich auch sagen, mindestens eine Stunde am Tag. Wenn ich mit ihm auf dem Trampolin sitze, das sind ja auch alles Förderspiele, da mach ich auch zwischendrin physiotherapeutische Übungen und so was. Das geht aber die ganze Zeit nebenher, das ist zeitmäßig ja eigentlich nicht erfassbar, aber es ist viel. (David, 3) Man bekommt dann vielleicht in der Krankengymnastik ständig Tipps, so nach dem Motto „legen Sie ihn am Tag häufig auf den Bauch, auf die Seite legen sollten Sie ihn auch ein paarmal, tun Sie ihm möglichst oft die Füße zusammen und zum Bauch hindrücken, damit er merkt, dass er die Füße zusammen machen muss“. Von der Hörfrühförderung kommt, dass ich häufig mit ihm Singspiele machen soll, häufig mit ihm Fingerspiele machen soll, ihm Dinge zeigen soll, die Geräusche machen, ihn durch die Gegend tragen soll. Ich meine, klar, das sind Sachen, die man auch so machen würde, aber man bekommt halt immer gesagt, dass man noch mehr machen soll. Ich soll ihn auf den Bauch legen, auf die Seite legen, auf den Rücken legen, dies tun, das tun … Natürlich heißt es dann immer, von der Krankengymnastin zum Beispiel, dass ich das nur tun soll, wenn ich Zeit habe oder nur ab und zu oder nur mal so für fünf Minuten. Also weil - sonst müsste ich ihn den ganzen Tag einfach nur rumdrehen wie ein Spanferkel. Ja, das ist eigentlich so das nicht Normale, dass ich nicht mit ihm so diese normalen Sachen machen kann. (Elias, 2) „Da weiß ich genau, was er will“ Die Mütter sind sehr gut in der Lage, kleine Veränderungen in den Fähigkeiten der Kinder wahrzunehmen. Das kann eine allmähliche Verbesserung der Kopf- oder Körperkontrolle sein, ein Ansatz zum Explorieren von Spielsachen, eine Zunahme der Aufmerksamkeit für die Umgebung oder ein Signal der Kinder, das sie als kommunikativ interpretieren. Gerade die Mütter, deren Kinder im Untersuchungszeitraum kaum Fortschritte machen, scheinen in beeindruckender Weise intuitiv in der Lage, Signale ihres Kindes zu „lesen“ und als kommunikative Beiträge zu einem Dialog zu beantworten. Ich gehe von mir aus. Also wenn ich ihn hinlege, wie möchte ich gerne liegen? Würde ich so liegen wollen, wie er gerade liegt? Womit, was würde mir Spaß machen, was würde mir gefallen und probiere es dann aus, ich rede auch ganz viel mit ihm. Der denkt sich bestimmt auch mal „Mama halt bitte einfach mal die Klappe“. Ich erkenne es am Schnaufen, an seinem Gesichtsausdruck, seine Körpersprache ist eigentlich ganz genau, er zeigt ganz, ganz arg, wenn er etwas nicht mag und er zeigt auch, wenn ihm was gefällt. Wenn dem Simon was gefällt, dann ist er ganz ruhig, ganz entspannt. (Simon, 2) Also er zeigt es vermehrt, auch so, dass ein Fremder das sehen kann. Früher war es ja so, dass ich das gesehen habe, weil er, was weiß ich, eine Faust gemacht oder sich gestreckt hat, aber mittlerweile ist das so, dass an seinem Gesichtsausdruck oder eben halt auch am Weinen mit Stimme auch fremde Menschen erkennen können, dass ihm irgendetwas nicht gefällt. (Enver, 2) 7 FI 1 / 2012 Normalität und Handlungsspielräume zurückerobern „Er ist ein Teil von mir“ Alle Mütter schildern die Beziehung zu ihrem Kind als innig, liebevoll und zugewandt. Bindungssignale des Kindes sind ihnen dabei sehr wichtig und werden zu Kraftquellen, die auch aus depressiven Stimmungslagen herauszuhelfen vermögen. Sie braucht uns doch mehr, wie ein anderes Kind vielleicht seine Eltern braucht, sodass das Intensivere einfach zum Vorschein kommt, denn ich habe sie in der Zeit auch nie allein gelassen. Also auch in der Zeit, wo es mir schlecht ging, habe ich sie öfters gedrückt und im Arm gehabt, sie nicht abgegeben und das ständige Herumtragen war dann doch schon intensiver. Es war wahrscheinlich auch dieses Gefühl, es zusammen verarbeiten zu müssen und sie daher nicht abgeben zu wollen, denn sie braucht mich ja umso mehr. So ist diese Intensität mit entstanden, glaub ich. Man ist einfach Mutter! (Svenja, 1) Wie schaffe ich das? Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich weiß nur, dass mein Sohn mir die Kraft gibt einfach weiterzumachen. Wenn ich so vor anderthalb Jahren zurückdenke, wie ich da noch war, da glaube ich, wäre ich schon x-mal in der Klapse gewesen. X-mal, ich stehe auch oft hier und habe Heulkrämpfe und denke mir, ich kann und ich will nicht mehr. Ich kann einfach nicht mehr. Und dann ein Blick von meinem Sohn, das muss noch nicht mal ein Lachen sein, nur ein wirkliches Fixieren und mir geht es gut. (Linus, 2) Wir sind einfach eins. Also doch, ich denke, er ist ein bisschen Ersatz … und da passt momentan auch gar nichts anderes hin oder rein. Unendliche Liebe, das wird sich, glaub ich, nicht ändern. Schutzinstinkt, weil er sich nicht schützen kann. Komplette Hingabe, Verständnis für manche Sachen, die passieren. Klar gibt es auch Momente, wo ich ihn schimpfe, aber im Nachhinein merke, er versteht es eh nicht, er weiß nicht, was ich möchte. Das ist in dem Moment von mir eine Reaktion. Aber dann entschuldige ich mich auch. Weil ich immer denke, du kannst ja gar nichts dafür. (Simon, 2) Ich hab Angst, dass ich irgendwie etwas versäumen könnte. Sei es irgendwas, was er neu macht oder auch irgendwie, ja, auch die Zeit versäumen könnte. Das Einzige, was ich sagen kann, ist, dass ich froh drüber bin, dass ich mit ihm die Zeit verbringen kann. Und das Tollste ist eben, wenn ich ihn am Abend pack und mit ihm ins Hochbett steige und mit ihm dann kuschele, ja, mit ihm kuscheln und schlafen. Wenn ich merke, ok ich bin fix und fertig und bin total traurig oder so, wo ich dann merke, mein Akku wird so langsam, langsam leer, dann macht er eigentlich irgendwas, sei es jetzt lächeln oder irgendwelche Bewegungen. Also er hilft mir dabei, das wieder, ja, aufzufüllen. Er schafft es immer wieder, wenn ich mich in meine Trauer vertieft habe, mich aufzumuntern. Ich denke, die Beziehung zu ihm, das ist ganz was Besonderes. (Enver, 1) „Auch mal wieder einen Raum für mich. Schlafen“ Körperliche und psychische Erschöpfung sind in allen Interviews klar zu erkennen. Eigene Bedürfnisse werden weitgehend zurückgestellt. Dies gilt insbesondere für die beiden alleinerziehenden Mütter der Stichprobe. Nur für mich, einfach auch mal wieder einen Raum für mich. Schlafen. Entspannung. Ganzkörpermassage. Neuen Rücken. Ich komme noch nicht mal mehr zum Friseur. Ich glaube, wenn ich mir Entlastung zugestehen würde, dann würde es mich zusammenhauen. Bin ich mir sicher. (Linus, 1) Ich sag immer, ich komm an letzter Stelle. Ich denke halt immer erst an meine Kinder und als letzte Stelle komm ich. Ich hab mir jetzt am Wochenende zum Beispiel neue Klamotten gegönnt. Habe ich sechs oder sieben T-Shirts und eine ganz knallorangene Jacke gekauft, so mit halben Ärmeln und hab 150 Euro ausgegeben für die Sachen. Aber das war es mir auch wert. (Simon, 1) Bei den Müttern, die in einer festen Partnerschaft leben, ist die Beteiligung der Partner an der Bewältigung des Alltags unterschiedlich; nur ein Paar hat begonnen, familienunterstützende Hilfen zu organisieren, um sich Freiräume für sich zu schaffen. Zwei Mütter geben an, dass sich ihre Partnerschaft durch die Auseinandersetzung mit der besonderen Belastung intensiviert habe, eine Mutter er- 8 FI 1 / 2012 Klaus Sarimski lebt eine beträchtliche Distanz zu ihrem Mann, die vierte fühlt sich in ihren Sorgen und Belastungen wenig verstanden und in der Alltagsbetreuung des Kindes weitgehend alleingelassen. Leider war es im Rahmen der Interviews nicht möglich, auch die Sichtweise der Väter zu erfragen, um ihre - zweifellos ebenso vorhandene - emotionale Belastung und ihre Versuche kennenzulernen, sich an die Familiensituation anzupassen. Zeit für Partnerschaft ist eigentlich gleich Null. Hab ich eigentlich gar nicht … im Moment gar nicht die Kraft, gar nicht die Energie. (Enver, 1) Im Moment kriegen wir es also für mich und für meinen Partner grad relativ gut gelegt. Da wir die Intensivschwestern haben. Wir haben uns entschieden, wir gehen jetzt tendenziell einbis zweimal im Monat weg abends … Dadurch haben wir eine Auszeit. Also ich mein, das ist so ein kleiner Pluspunkt, den er uns gibt. Hab ich zu meinem Mann gesagt: Ist eigentlich ein Plus, weil wir hätten uns das nicht genommen, wenn wir diese Möglichkeit nicht hätten. Aber wir haben uns gesagt, David hat mindestens 20 Minuspunkte für uns, dann wird auch mal ein Pluspunkt dabei sein. (David, 3) „Ich denk, das muss ich noch, aber ich will es noch nicht“ Bei den beiden Müttern sehr unreif geborener Kinder hat sich erst im Laufe des ersten Lebensjahres gezeigt, dass sie sich auf eine schwere Behinderung einstellen müssen. Während die eine Mutter zwischen der Anerkennung der Realität und der Hoffnung auf eine wesentliche Besserung schwankt, bleibt die andere sehr unsicher in ihrer eigenen Einschätzung und in Angst vor der jeweils nächsten „schlechten Nachricht“. Die Mütter, die von den ersten Lebenstagen des Kindes an mit der drohenden schweren Behinderung konfrontiert waren, setzen sich intensiv mit der Frage der künftigen Lebensqualität, aber auch mit dem möglichen Verlust des Kindes auseinander. Aber wenn dann der schlimmste Fall eintritt, kommen eben so Fragen wie, ob sie sich überhaupt je selber ernähren kann oder selbstständig auf Toilette gehen kann, ob sie je gehen kann, ob sie schreiben kann usw.? Das kommt dann in mir alles hoch. (Svenja, 2) Ich denk halt auch, wie kann er später leben? Ist er da glücklich? Hat er da was vom Leben? … Wir waren im Blindeninstitut am Tag der offenen Tür, die Kinder, die dort waren, ja. Das möchte ich nicht haben. Also die dann irgendwie im Rollstuhl sitzen und irgendwie so komisch deformierte Gelenke und alles haben. Also so ein Kind möchte ich auf jeden Fall nicht haben, wenn ich dann merke, dass ich mit ihm dann schon so in die Sparte komme, dann denk ich echt nur … nur weg, eigentlich. Das fällt mir noch schwer zu akzeptieren, dass das unser Weg sein kann. Oder vielleicht wird. Das kann ich noch nicht ganz akzeptieren. Ich denk, das muss ich noch, aber ich will es noch nicht. (David, 3) Der Knall wird eh kommen, spätestens dann, wenn es heißen würde, sie können nix mehr machen mit meinem Sohn. Und ich habe einfach Angst, nachdem sie im Krankenhaus gesagt haben, er wird das Kindergartenalter nicht erreichen und er ist jetzt schon fast eineinhalb, dann sind es noch anderthalb Jahre, die ich meinen Sohn haben werde und das habe ich natürlich im Hinterkopf. Diese anderthalb Jahre und ich habe jetzt schon vor dem Tag x Angst. Wie geht es mit dem Linus weiter? Wie lange wird er noch leben? Es ist schwer zu ertragen, weil man einfach sieht tagtäglich, wie es ihm schlechter geht. (Linus, 2) Das Gefühl, dass er gehen könnte, das ist was, das zerreißt mich. Also er dürfte gehen, um Gottes Willen. Wenn er keine Lust mehr hat, hier zu sein und diese Entscheidung trifft für sich selber, es reicht jetzt, dann ist das für ihn in Ordnung. Dann darf er das. Aber natürlich ist mein Eigenegoismus da und der sagt, bleib bei mir. Weil was mache ich denn dann? Es ist natürlich ein riesiges Loch, in das ich fallen würde. Weil seit einem Jahr be- 9 FI 1 / 2012 Normalität und Handlungsspielräume zurückerobern herrscht er mein Leben. Ich habe so viel gelernt durch ihn und das jetzt einfach aufzugeben oder zu sagen, es existiert nicht mehr, wäre natürlich etwas, was sehr schlimm wäre. Und dann ist natürlich das Gefühl da, umso länger er bei mir ist, umso schwerer wird es mir fallen, ihn gehen zu lassen. (Simon, 2) „Warum? “ und „Würde ich mich noch mal für so ein Kind entscheiden? “ Die Frage nach dem „Warum“ beschäftigt alle Mütter in Phasen, in denen sie verzweifelt mit dem Schicksal hadern. Eine Mutter, die bereits vorgeburtlich um die Behinderung ihres Kindes wusste, stellt sich auch die Frage, ob sie sich wieder für die Fortsetzung der Schwangerschaft entscheiden würde, wenn sie noch einmal die Wahl hätte. Man denkt ja immer so: Passiert das mir, weil ich irgendwann mal böse war, hab ich irgendwas verbrochen und jetzt wirst du dafür bestraft? Denkt man als Erstes, so, das ist jetzt deine Strafe. Und dann denk ich halt: Nein, das kann nicht sein, weil das ist ja nicht eine Strafe für mich, das ist ja eine Strafe für das Kind auch. Kann ja nicht ein Kind strafen, also. Beantworten kann man so was nicht, nein, man kriegt keine Antworten, weil, ja, wer will es denn beantworten? Es gibt ja auch keine Antworten, man kann ja nicht sagen, warum passiert das mir, ja, warum? (Svenja, 3) Ich meine, jetzt am Jahrestag fragt man sich ja eigentlich auch: Warum haben wir uns für ihn entschieden? Würde ich mich noch mal für so ein Kind entscheiden? - Das braucht seine Zeit, so was zu akzeptieren. Und da bin ich noch nicht so weit … Wollen tu ich das immer noch nicht. Und ich mein, wenn ich dann die Eltern beobachte, wie die mit den Kindern umgehen und wie die glücklich sind, also wie sie mit denen spielen und dann lachen die Kinder und dann sind die Eltern dann irgendwie stolz und die anderen gucken auch und denken: och, das macht die Mama aber toll und so. Aber irgendwie guck ich mir das an und denk schon so in mir: Warum hat die Mama eigentlich das Kind bekommen? (David, 3) Warum er? Wieso? Ich hab immer gesagt, wenn es einen Gott gibt und wenn es vielleicht was gibt, was ich lernen muss in meinem Leben und man mir deswegen dieses Kind gegeben hat, dann hätte es ja auch gereicht, wenn er nur die Dystonie gehabt hätte oder wenn er nur eine Epilepsie gehabt hätte. Aber er hat ja fast bei allem hier geschrien, was man haben kann. Und das ist das einzige, was ich mich jetzt immer wieder frage: Warum er und wieso gleich in so einem Ausmaß? - Aber erstens: Nur starke Menschen bekommen … besondere Kinder und er hat sich mich ausgesucht als Mami. Also das ist einfach so. Und er wollte zu mir. Das sag ich halt einfach immer. Aber ich hab mir nie die Frage gestellt: Warum ich? Wieso ich? Immer nur: Warum er? (Simon, 3) Traurigsein, auch die Wut, dass die Hoffnung, die man hatte - dass es halt doch nicht so gekommen ist, wie man sich das vorgestellt hat. Aber vielleicht wäre es anders, wenn er nicht so zufrieden wäre, hätte ich vielleicht weniger Zeit zu grübeln. Eben, das ist es. Also im Moment ist es eigentlich schwierig, ja, die Fragen, die halt in meinem Kopf zwischendurch immer wieder auftauchen: Warum er? Oder warum wir? Oder ob’s halt anders wäre, wenn er sehen würde? Ja, es sind eben die offenen Fragen, die in meinem Kopf so umeinanderschwirren … Aber die Fragen hab ich eigentlich immer nur, wenn ich in dem Loch drin bin. Ich hab das Gefühl, in dem Loch sind eben nur Fragen … die werden nicht beantwortet. Und je länger ich in dem Loch drin bin, desto mehr kommen immer wieder mehr Fragen, immer wieder neue Fragen. Was? Und wieso? Und weshalb? Es müsste ein Wunder passieren, und ich weiß auch nicht, aber ich wünsch mir total, dass Enver eben sehen kann. (Enver, 1) „Ich kann die Verantwortung immer mehr selber übernehmen“ An vielen Stellen der Interviews wird das Bemühen der Mütter deutlich, sich Handlungsspielräume zu erobern, indem sie sich über alle Fragen, die ihr Kind betreffen, gut informieren und es ihnen wichtig ist, dass Fragen der Förderung und Behandlung nicht über ihren Kopf hinweg entschieden werden. 10 FI 1 / 2012 Klaus Sarimski Ich kann die Verantwortung immer mehr selber übernehmen, weil ich immer mehr von dem verstehe, was abläuft. Aber es kommen auch immer wieder Situationen, in welchen ich nicht verstehe, was da nun gerade ist und wo ich jemanden fragen möchte. Natürlich haben alle Eltern die Verantwortung für das Leben ihres Kindes, aber bei mir ist es eben manchmal so konkret. Deswegen muss ich mich mit dieser besonderen Verantwortung abfinden. (David, 2) Ich bin gut beraten worden. Ich habe aber nicht nur auf die Ärzte gehört. Also ich habe auch die Schwestern gefragt, die den Simon jetzt schon länger kannten, und gefragt, was sie davon halten. Und habe auch mit meiner Mama gesprochen, was sie davon hält. Ich bin ins Internet gegangen und habe mir das durchgelesen, habe mir das auch angeschaut und habe dann einen Entschluss gefasst. Ich habe das nicht einfach so aus einer Laune heraus entschieden. (Simon, 1) Erfahrungen mit Fachkräften der Frühförderung Zu ihren Erfahrungen mit Fachkräften der Frühförderung äußern sich die Mütter überwiegend positiv. Sie schätzen die Form der Hausfrühförderung und begrüßen die Anregungen und die Beratung für Alltagsfragen, die sie dadurch erhalten. In den Beschreibungen wird aber auch deutlich, dass die Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Frühförderstellen nicht problemlos ist; es entsteht ein beträchtlicher Termindruck, die Fördermaßnahmen wirken wenig koordiniert, Empfehlungen nicht immer auf die Gesamtbelastung des Alltags abgestimmt. Zwei Mütter berichten auch, dass das Förderkonzept unzureichend auf die Bedürfnisse ihres schwer behinderten Kindes abgestimmt sei bzw. sich die Fachkraft unzureichend um einen sensiblen Kontakt zum Kind bemüht habe. Die Frühförderung kommt hier zu mir … Am Anfang hat sie mal das Essen angeguckt. Wie sie trinkt, wie das Essverhalten ist, wie sie vom Löffel runter isst. Oder mit der Lagerungshilfe hat sie mir am Anfang geholfen, wo ich mich vielleicht informieren könnte. Und dann hat sie mir verschiedene Adressen gegeben, auch von der Atlastherapie, was vielleicht was für die Svenja wäre oder ja … wie ich über Gerüche viel mit ihr machen kann. Oder dass ich sie mit in die Küche nehme, also so Tipps und Anregungen gegeben im privaten Bereich, was ich so mit ihr machen kann. Wie ich sie mit einbeziehen kann. Oder auch mit Ämtern, da hat sie mir auch schon geholfen, wenn ich was beantragen muss, kann, sollte oder wie ich was machen kann. Ja also sie ist jetzt nicht nur für den Bereich oder für den, sondern so breit gefächert. (Svenja, 4) Die kommen ins Haus und das ist auch gut, denn denen übergebe ich den David bzw. man schwatzt ein wenig dabei und dann gehe ich Wäsche waschen oder erledige eben das andere, was anfällt. Das ist dann auch fein. Deswegen haben wir auch die Hörfrühförderung noch gewollt. Weil ich es eigentlich auch schön finde. Klar ist man durch den Termin zeitlich mehr gebunden und ab einem gewissen Punkt ist es fraglich, ob das nun besser oder schlechter ist, vor allem ab einer bestimmten Terminmenge. Aber auf der anderen Seite kümmert sich jemand 1 ½ Stunden konzentriert um ihn und hat dabei Ruhe und Zeit, mit ihm zu spielen. Abgesehen davon haben verschiedene Leute auch verschiedene Ideen bzw. Ansätze, z. B. bemerke ich sehr viele Unterschiede zwischen der vom Blindeninstitut und der Gehörlosenförderung. Da bekommt man einfach positive Anregungen und ich finde, die motivieren sich auch gegenseitig. Die wissen natürlich voneinander und dass der jeweilige andere auch noch da ist. Da wird geguckt, was diejenigen machen oder was es für neue Spielideen oder Anregungen gibt, denn ich berichte das denen ja wechselseitig. Ich finde, das motiviert die Situation. (David, 2) Ich sage immer wieder, mir wäre es wichtig, dass der Simon seinen Körper wahrnehmen lernt, dass er nicht einfach wie so ein Stückchen im Bett liegt und sich eine Kassette anhört, sondern dass er mit seinen Fingern was machen kann, dass er von mir aus seine Decke knautschen kann oder mit der Hand was halten kann, z. B., dass er seine Finger zum Mund führen kann. Da hat sie mir letztens erzählt, dass er Harfe spielt 11 FI 1 / 2012 Normalität und Handlungsspielräume zurückerobern von selbst. Weil sie ihn auf ihren Schoß gesetzt hat und die Harfe war so vor ihm und Simon macht mit seinen Fingern immer so … und sie hat mit ihm Harfe gespielt, was ich ganz toll finde, weil wenn er was bewegt und es kommt ein Geräusch, ist ja ganz toll, ist ja eine Superidee, da kommt dann wenigstens oben was an. Aber dass man mir dann erzählt, wenn er so macht, dann versucht er selbst Harfe zu spielen … (Simon, 2) Also die Krankengymnastin ist klasse. Die Logo… auf die könnte ich gut und gerne verzichten, die hat alles versaut. Die hat ihre Finger in den Mund von Linus gesteckt und hat damit alles kaputt gemacht und sie hat auch Gemüse auf ihren Finger getan und dem Linus in den Mund getan und das mag er halt gar nicht. Sehr übergriffig, weil ich einfach denke: „Mund ist sehr intim und das sollte nur zwischen Sohn und Mutter oder Vater sein oder ab und an mal die Geschwister“. Aber es sollte nicht irgendwie eine fremde Person, die ihn noch nie gesehen hat, einfach die Finger in den Mund stecken und … Ja, er lässt es seitdem nicht mehr wirklich zu, er würgt sofort wieder. (Linus, 2) Erfahrungen mit Pflegediensten Ein weiteres Problemfeld stellt die Zusammenarbeit mit Pflegediensten dar, die vier der sechs Mütter in Anspruch nehmen. Neben den nötigen organisatorischen Absprachen erfordert diese Zusammenarbeit, die Anwesenheit von fremden Personen im familiären Rahmen zu tolerieren und sich auf sehr unterschiedliche Mitarbeiter einzustellen. Drei Mütter haben die Erfahrung gemacht, dass einzelne Pflegekräfte nicht über die Fachkompetenz verfügen, die die Mütter für die Betreuung ihres Kindes erwarten. Sie sind stetig bemüht, neue Pflegekräfte für die Bedürfnisse ihres Kindes zu sensibilisieren und die Einhaltung von Absprachen einzufordern. Angesichts der Abhängigkeit von der Unterstützung durch die Pflegekräfte und dem teilweise beträchtlichen Altersunterschied zwischen (junger) Mutter und (erfahrener) Pflegekraft gelingt die Kommunikation dabei nicht immer erfolgreich. Das sind nette Krankenschwestern und natürlich komme ich mit denen klar und ich bin dankbar, dass sie sich um David kümmern. Ich bin dankbar, dass sie da sind. Ich fühle mich auch in meiner eigenen Kompetenz anerkannt, weil ich den Krankenschwestern ja erklär, wie man das macht. Das ist ja so, dass die das einfach nicht besser wissen. Am Anfang hab ich gedacht, die könnten mir da mehr helfen, aber das ist einfach nicht so. Ich weiß es halt einfach doch genau. Natürlich bilde ich mir auch manchmal ein, ich hätte mehr Kompetenz, als es tatsächlich ist, aber an sich bin ich ja diejenige, die denen erklärt, wie seine Medikamente anzurichten sind und wie das gemacht wird. Ich habe eher das Gefühl, dass ich hingucken muss, dass denen keine Fehler unterlaufen. (David, 1) Es sind eigentlich immer dieselben Schwestern, die da sind. Aber wenn es jetzt eine neue Schwester ist, die möchte halt schauen oder testen, wie weit sie gehen kann. Ich mein, die sieht ein junges Ding hier stehen, die mit 23 ein schwerbehindertes Kind hat, der unterstellt man jetzt einfach mal, die hat keine Fähigkeiten. … Wenn ich dann sage, er möchte seine Kassette hören, dann ist das so. Es ist immer so ein Zwiespalt, weil ich immer denke, oh Gott, sie kümmert sich gerade um mein Kind und ich fühle mich da immer so ein bisschen, als wäre ich da so kleinlich, so penibel. Als würde ich da die Böse spielen … wenn da so eine Frau steht, die an die 60 geht und ich ihr dann etwas sagen muss, ist das ein unangenehmes Gefühl. Ich sage ihr das ja nicht, um sie zu ärgern, zu schikanieren, ich sage ihr das ja deswegen, dass sie es einfacher mit dem Simon hat und der Simon sich wohlfühlt, Simon ist nun mal ein Mama-Kind und für ihn ist es doof, wenn eine neue Schwester kommt und die Mama nicht da ist. Wenn dann Sachen sind und die versteht ihn nicht und ich schaue ihn an und weiß, was ist. Ich sitze hier und höre ihn atmen und weiß, was er will, und dann kann man sich doch die Meinung der Mutter anhören und dann übernehmen, dass Simon sich wohl fühlt. (Simon, 2) 12 FI 1 / 2012 Klaus Sarimski Erfahrungen mit Krankenkassen und Behörden Mehrere Mütter berichten über einen erheblichen zeitlichen Aufwand und Ärger über eine verzögerte Bearbeitung von Anträgen auf Pflegegeld, Blindengeld, Finanzierung der Sondenkost und andere Hilfsmittel. Sie machen sich selbst kundig, welche Unterstützung (Behindertenausweis, Verhinderungspflege, Steuerermäßigungen etc.) ihnen zusteht, würden es aber als Erleichterung erleben, wenn sie die entsprechenden Informationen aus einer Hand bekämen und ihnen jemand die Bearbeitung von Anträgen abnähme. David hat ja Pflegestufe 1 bisher, aber eigentlich müsste das hoch gestuft werden. Das hab ich auch schon beantragt, theoretisch … wir haben einen Eilantrag gestellt am 20. Oktober, der muss innerhalb von 2 Wochen entschieden worden sein, nur das ist noch nicht entschieden. Die sind noch kein einziges Mal hergekommen. Ich hab mich da auch schon beschwert und da haben sie gesagt, jetzt Anfang des Jahres. Ich mein, da war er dann gerade im Krankenhaus, aber die haben sich auch da noch nie gemeldet. Der medizinische Dienst müsste eigentlich kommen. Ich muss mich da auch mal wieder beschweren, aber das ist halt alles … man braucht sehr, sehr viele Sachen, man muss sehr, sehr viel organisieren und ich hatte ehrlich gesagt gedacht, da gibt’s mehr Unterstützung. Das ist mein Beruf als Sozialpädagogin, ich kann das. Ich kann das alles organisieren, ich muss nur die Zeit dafür haben. (David, 1) Ich habe einen speziellen Kinderwagen beantragt. Was ich jetzt schlimm finde, ist, dieser Kinderwagen ist eingelagert bei der Krankenkasse, also der ist vorhanden … sie müssten nur die Ersatzteile besorgen, die dranschrauben und herbringen. Das ist nicht mal ein Kinderwagen, der neu gemacht werden muss, der existiert schon, der ist eingelagert, der wurde wahrscheinlich schon mal benutzt von einem anderen Kind, der ist in einem guten Zustand. Den kann man da wegnehmen, der kostet statt 4000 nur noch 1000 E … ich habe schon gesagt, dann hole ich ihn halt ab, dann fahre ich dahin und hole ihn ab, wenn sie mir sagen, wo er ist, damit habe ich kein Problem. Nein, sie müssten erst die Ersatzteile bestellen, die müssen erst noch drangeschraubt werden. (Simon, 2) Also was gut ist, sobald man den Behinderungsausweis kriegt, da kriegt man dann so ein Merkblatt über zwei Seiten. Da steht eigentlich alles drin. Aber man muss halt alles rausklauben und an alle Ämter dann selber hingehen und sich das holen und dann sich durchackern, durch den Papierkram. Und oftmals sind so Sachen geschrieben, die sich auf ältere Personen mit Pflegebedarf beziehen, also nicht auf Babys. Und da muss man halt mit allem noch mal nachfragen: Wie kann man das machen? Gibt’s da Möglichkeiten? Da sollte es einfach jemanden geben, der einen für die Tätigkeiten unterstützt und auch mit dem Ausfüllen hilft. Beim Pflegegeldantrag auch. Das fände ich schon gut, wenn das einer abnehmen kann. Denn mit dem ganzen Schriftkram noch, da fände ich es nicht schlecht, wenn da jemand wäre, der sagt, komm, wir machen das geschwind und ich schicke das dann weg und dann ist es erledigt. (Svenja, 3) Was heißt das für die Frühförderung? Wenn sich schon in der stationären Erstversorgung eine drohende schwere Behinderung eines Säuglings abzeichnet oder in den ersten Lebensmonaten zu Hause erkennbar wird, bedürfen Mütter - und sicher auch Väter, die in unserer Untersuchung nicht einbezogen werden konnten - eines Beraters, der ihnen die Möglichkeit gibt, über ihre hoch belastete Alltagssituation, ihre Ängste vor der Zukunft und ihre Verzweiflung über das Schicksal, das sie getroffen hat, zu sprechen. Dabei geht es nicht um eine psychotherapeutische Intervention im engeren Sinne, sondern um die stützende Begleitung durch eine Fachkraft, die bereit ist, sich auf die emotionalen und praktischen Herausforderungen einzulassen, die mit dieser besonderen Lebenssituation verbunden sind. Diese stützende Bergleitung ist die zentrale 13 FI 1 / 2012 Normalität und Handlungsspielräume zurückerobern Aufgabe der Frühförderung in dieser frühen Phase des gemeinsamen Weges, auf den sich Eltern und Kind begeben. Die Möglichkeit, Kind und Eltern zu Hause zu besuchen und eine kontinuierliche Arbeitsbeziehung mit ihnen aufzubauen, bietet eine günstige Voraussetzung für eine solche stützende Beratung. Sie stellt aber hohe Anforderungen an die Beratungskompetenz und Belastbarkeit der Fachkraft. Depressive Stimmungslagen, Gefühle der Ohnmacht, Verzweiflung, Ängste vor der Zukunft und die Auseinandersetzung mit einem möglichen Verlust des Kindes gehören zu den normalen Reaktionen auf das Schicksal, das die Eltern getroffen hat, und müssen in den Beratungsgesprächen einen Raum erhalten. Unrealistische Hoffnungen in therapeutische Möglichkeiten zu wecken, hilft den Eltern in dieser frühen Phase ebenso wenig weiter wie die rasche Vermittlung von Entlastungen von der Betreuungsaufgabe. Partnerschaftliches, ressourcen-stärkendes Arbeiten mit Eltern heißt in dieser Situation, die Eltern zunächst bei dem Versuch zu unterstützen, sich wieder ein gewisses Maß an Normalität für ihren Alltag und das Gefühl einer eigenen Kompetenz zurückzuerobern, die von anderen anerkannt wird. Gerade ein Gefühl für einen eigenen Handlungsspielraum ist angesichts der Ohnmacht, mit der sie der Diagnose gegenüberstehen, von besonderer Bedeutung. In Abhängigkeit von ihrem eigenen lebensgeschichtlichen Hintergrund unterscheiden sich Eltern sehr in der Fähigkeit, ihre Beziehungs- und Lebenssituation zu reflektieren und nach einem Schicksalsschlag wieder Zuversicht in die eigenen Kräfte zu mobilisieren. Von diesen individuellen Ressourcen hängt es ab, ob sie nach eigener Zeit ein neues psychisches Gleichgewicht finden können - eine Erfahrung aus der schriftlichen Elternbefragung (Sarimski, 2010), die sich hier in den Einzelfallstudien bestätigte. Zu den Aufgaben der Fachkraft der Frühförderung gehört es auch zu erkennen, wenn ihre Möglichkeiten zu einer stützenden Begleitung der Mutter nicht ausreichen und eine psychotherapeutische Intervention zur Unterstützung der Krisenbewältigung angezeigt ist. Eine solche Intervention zu vermitteln, die Mutter zu diesem Schritt zu ermutigen - der ihr erneut Zeit und Kraft abverlangt - und eine Zusammenarbeit mit der Psychotherapeutin zu suchen, kann auch in dieser besonders schwierigen Situation ein wertvoller Beitrag sein. Es gilt dann, die intuitiven Fähigkeiten der Eltern zu stärken, die Reaktionen und Verhaltensformen als kommunikative Signale zu verstehen, einen dialogischen Kontakt zu ihm zu finden und gemeinsame Aktivitätsfelder zu entwickeln (Fröhlich et al., 2007). Hier können Empfehlungen zur Gestaltung der familiären Umwelt und Vorschläge zur Förderung in den Entwicklungsbereichen Sehen, Hören, Motorik und Kommunikation hilfreich sein, aber nur dann, wenn sie auf die individuellen Bedürfnisse des Kindes abgestimmt sind und in den gemeinsamen Alltag von Eltern und Kind integriert werden können. Soziale Unterstützung - auch das hat die Querschnittserhebung bei 69 Müttern gezeigt und sich in den Einzelfallstudien bestätigt - ist hilfreich. In dieser frühen Phase können familienentlastende Dienste meist noch nicht als Hilfe angenommen werden, wohl aber die Unterstützung durch einen Pflegedienst, der sich fachkompetent um das Kind bemüht. Hier kann die Fachkraft der Frühförderung eine vermittelnde Rolle spielen, wenn der Kinderarzt an der Notwendigkeit zweifelt, Probleme bei der Bewilligung durch die Krankenkasse oder Spannungen in der Zusammenarbeit mit einzelnen Pflegekräften entstehen. Darüber hinaus kann sie entlastend wirken, wenn sie über sozial- 14 FI 1 / 2012 Klaus Sarimski rechtliche Hilfen informiert und die Eltern bei der Antragstellung konkret unterstützt. Auch wenn beides nicht zu den Kernaufgaben der Frühförderung gehören mag - die Eltern schätzen es sehr, wenn die Frühförderkraft sich dafür Zeit nimmt, und erleben es als Zeichen dafür, dass sie sich nicht nur als Fachkraft für die Förderung des Kindes, sondern als stützende Begleiterin der ganzen Familie versteht. Eine stützende Begleitung der Mütter (und möglichst auch der Väter), Unterstützung ihrer intuitiven Kompetenzen zur Beziehungsgestaltung, die Integration von förderlichen Aktivitäten in den Alltag sowie die Mobilisierung sozialer Unterstützung und sozialer Hilfen stellt eine komplexe Anforderung für die Fachkräfte der Frühförderung dar. Sie erfordert Absprachen zwischen den verschiedenen Fachkräften und den Eltern, welche Prioritäten gesetzt werden sollen, und eine Koordination der Förderangebote, sodass sie die Freiräume nicht überfordern, die die Versorgungs- und Pflegebedürfnisse des Kindes im Alltag lassen. Interdisziplinäre Zusammenarbeit innerhalb des eigenen Teams und über die Grenzen der Frühförderstelle hinaus ist unerlässlich. Die Möglichkeit zur Supervision für die Fachkraft selbst ist wünschenswert, um die besonderen Herausforderungen zu bewältigen, die mit der Begleitung von Familien verbunden ist, in denen Kinder mit drohender schwerer und mehrfacher Behinderung aufwachsen - ein Arbeitsfeld der Frühförderung, für das ohne Zweifel die Bezeichnung einer „Komplexleistung“ angemessen ist. Anmerkungen 1 Das Forschungsvorhaben wurde von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg dankenswerterweise im Zeitraum vom 1. 11. 2007 bis 31. 10. 2010 finanziert. an der Durchführung und auswertung der Erhebung waren Frau Dr. med. a. Wiebel (Kinderärztin) und Frau I. Hipp-leutnecker (Diplom-Psychologin) beteiligt. besonderer Dank gilt den Einrichtungen, die uns bei der Kontaktaufnahme zu den betroffenen Familien unterstützt haben, und vor allem den Eltern selbst, die uns ihr Vertrauen geschenkt und einen Einblick in ihren lebensalltag und ihre Sichtweisen erlaubt haben. 2 aufgrund von organisatorischen Problemen, bzw. Rehospitalisierungen eines Kindes wegen lebensbedrohlicher Erkrankung konnten insgesamt nur 21 Untersuchungstermine durchgeführt werden. 3 Ein vollständiger bericht ist in Vorbereitung. Prof. Dr. Klaus Sarimski, Dipl.-Psych. Professor für Sonderpädagogische Frühförderung Pädagogische Hochschule Heidelberg Keplerstr. 87 D-69120 Heidelberg E-Mail: sarimski@ph-heidelberg.de Literatur Fröhlich, A. (1986). Die Mütter schwerstbehinderter Kinder. Winter, Heidelberg Fröhlich, A., Heinen, N. & Lamers, W. (2007): Frühförderung von Kindern mit schwerer behinderung. Düsseldorf Hintermair, M. & Hülser, G. (2004). Familien mit mehrfachbehinderten hörgeschädigten Kindern. Eine analyse aus der Sicht betroffener Eltern. Heidelberg Lotz, J. (2004). „Manchmal bin ich traurig …“ Zur lebenssituation von Müttern schwerstbehinderter Kinder. Winter, Heidelberg Sarimski, K. (2010). Mütter mit jungen (schwer) geistig behinderten Kindern: belastungen, bewältigungskräfte und bedürfnisse. Frühförderung interdisziplinär, 29, 62 -72 Walthes, R., Cachay, K., Gabler, H. & Klaes, R. (1994). gehen, gehen, Schritt für Schritt … Zur Situation von Familien mit blinden, mehrfachbehinderten oder sehbehinderten Kindern. Campus, Frankfurt