eJournals Frühförderung interdisziplinär 31/1

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2012
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Kinder mit schwerer und mehrfacher Behinderung im integrativen Kindergarten

11
2012
Anja Gutekunst
Sigrun Schreier
Klaus Sarimski
Kinder mit schwerer und mehrfacher Behinderung stellen eine besondere Herausforderung für die soziale Integration im Kindergarten dar. Die sozialen Kontakte von zwei Kindern in integrativen Gruppen wurden videografiert und ausgewertet. In beiden Fällen zeigen sich eine beträchtliche soziale Isolation und das Risiko der Ausbildung von problematischen Verhaltensweisen, um die Aufmerksamkeit der anderen Kinder zu gewinnen.
1_031_2012_001_0026
26 Frühförderung interdisziplinär, 31. Jg., S. 26 -32 (2012) DOI 10.2378/ fi2012.art03d © Ernst Reinhardt Verlag ORIgInalaRbEIt Kinder mit schwerer und mehrfacher Behinderung im integrativen Kindergarten Eine besondere Herausforderung Anja Gutekunst, Sigrun Schreier, Klaus Sarimski Zusammenfassung: Kinder mit schwerer und mehrfacher Behinderung stellen eine besondere Herausforderung für die soziale Integration im Kindergarten dar. Die sozialen Kontakte von zwei Kindern in integrativen Gruppen wurden videografiert und ausgewertet. In beiden Fällen zeigen sich eine beträchtliche soziale Isolation und das Risiko der Ausbildung von problematischen Verhaltensweisen, um die Aufmerksamkeit der anderen Kinder zu gewinnen. Schlüsselwörter: Schwere Behinderung, Integration, Verhaltensauffälligkeiten Children with complex special needs in inclusive kindergarten groups Summary: Children with complex special needs provide a special challenge for social integration in mainstream groups. The social contacts of two children were videotaped and analyzed. In both cases, the observations revealed a considerable level of social isolation and an increased risk for the establishment of dysfunctional behaviour which is supported by the need for social attention. Keywords: Severe Handicap, integration, behavior problems Fragestellung der Studie K inder mit einer schweren körperlichen Behinderung und Einschränkungen in der Mobilität, Kommunikation und Selbstständigkeit stellen eine besondere pädagogische Herausforderung für die soziale Integration im Kindergarten dar. Ihre Möglichkeiten, sich an gemeinsamen Spielen zu beteiligen, sind beschränkt, wenn es sich um Bewegungsspiele handelt. Oft sind ihre mimischen oder ihre sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten begrenzt, sodass es für die anderen Kinder der Gruppe schwer ist zu erkennen, woran sie Interesse haben könnten. Das kann dazu führen, dass sie nicht gemäß ihren kognitiven Fähigkeiten beteiligt, sondern wie ein jüngeres Kind behandelt werden. Ihre Abhängigkeit von der Unterstützung durch Erwachsene bei alltäglichen Verrichtungen (z. B. An- und Ausziehen, Essen, Toilettengang) tragen dazu bei, dass sie nicht als gleichwertige Spielpartner akzeptiert werden. Es besteht ein erhöhtes Risiko, dass sie sich auf eine passive Rolle beschränken, eine Einstellung „gelernter Hilflosigkeit“ oder sozialemotionale Störungen ausbilden (Kreuzer & Ytterhus, 2008; Sarimski, 2012). Für ihre soziale Teilhabe sind sie in besonderem Maße auf die pädagogische Unterstützung der Erzieher angewiesen. Dies stellt besondere Anforderungen an die Fähigkeit der Erzieher, den Hilfebedarf der Kinder adäquat einzuschätzen, Situationen zu erkennen, in denen sie ihre Assistenz benöti- 27 FI 1 / 2012 Kinder mit schwerer und mehrfacher Behinderung gen, und Spielangebote so zu gestalten, dass den Kindern trotz ihrer Handicaps eine Beteiligung möglich wird (Schöler, 2005). Viele Erzieher fühlen sich - zumindest wenn sie noch wenig Erfahrung mit der Integration behinderter Kinder haben - unsicher, ob sie diesen Anforderungen gerecht werden können. Bei Kindern, deren körperlicher Zustand fragil ist oder die auf besondere technische Hilfen zur Sicherung körperlicher Grundfunktionen, z. B. eine Ernährungssonde, eine Trachealkanüle oder ein Beatmungsgerät, angewiesen sind, fürchten sie überdies, körperliche Krisen der Kinder womöglich nicht rechtzeitig zu erkennen oder in Notsituationen überfordert zu sein (Smith et al., 2003). Nicht selten stoßen Eltern von Kindern mit schwerer und mehrfacher Behinderung deshalb auf Ablehnung, wenn sie für ihr Kind einen Platz in einem allgemeinen oder integrativen Kindergarten suchen (Markos-Capps & Godfrey, 1999). Auch wenn die Kinder in eine Kindertagesstätte aufgenommen werden, besteht die Gefahr, dass sie „included but isolated“ bleiben (Graham et al., 2008). Design der explorativen Studie Im Rahmen von wissenschaftlichen Hausarbeiten zum Abschluss des Studiums der Sonderpädagogik wurde die soziale Situation von zwei Kindern mit schwerer und mehrfacher Behinderung in einem integrativen Kindergarten analysiert. Beide Jungen sind vier Jahre alt, in ihrer Mobilität sehr eingeschränkt und auf einen Rollstuhl angewiesen. Einer der beiden Jungen wird mit einer Sonde ernährt und über eine Trachealkanüle kontinuierlich beatmet, kann sich aber sprachlich relativ differenziert ausdrücken und ist kognitiv im Wesentlichen altersgemäß entwickelt. Eine Pflegekraft steht für seine körperliche Versorgung zur Verfügung. Der andere Junge ist geistig und körperlich schwer behindert und zur sozialen Beteiligung vollständig auf Hilfe angewiesen; er hat keine individuelle Assistenz in der Gruppe. Es handelt sich um eine explorative Studie, bei der die sozialen Kontakte in Freispielzeiten, die sozialen Kompetenzen der Kinder und die sozialen Reaktionen, die sie von den anderen Kindern ihrer Gruppe erleben, beobachtet wurden. Es war dabei nicht intendiert, die pädagogische Unterstützung zu bewerten, die die Kinder in der jeweiligen Situation erhalten haben bzw. benötigt hätten. Vielmehr sollen die Beobachtungen dazu beitragen, pädagogische Fachkräfte für kritische Momente im sozialen Alltag zu sensibilisieren und daraus Fragestellungen für spätere hypothesentestende Forschungsarbeiten abzuleiten. Das Spiel- und Sozialverhalten der beiden Kinder wurde in ihren jeweiligen Gruppen zweimal im Abstand von 8 - 14 Tagen per Video dokumentiert. Dieses Vorgehen wurde gewählt, um mögliche Einflüsse der ungewohnten Beobachtungssituation oder tagesbedingte Effekte auf das Verhalten der Kinder zu minimieren. Bei der Aufzeichnung wurde darauf geachtet, das Gruppengeschehen möglichst wenig zu stören. In einzelnen Fällen musste daher ein gewisser Informationsverlust (nicht optimaler Bildausschnitt, Unverständlichkeit von Sprachäußerungen) in Kauf genommen werden. 1 Aus diesen Videoaufzeichnungen wurde dann für jeden Tag ein Zusammenschnitt aus vier jeweils zehnminütigen Filmsequenzen 1 Wir danken den beteiligten Kindergärten, den Erziehern und den Eltern der gruppe für die Erlaubnis, die Videoaufzeichnungen im gruppenalltag durchführen zu können. Die namen der Kinder sind anonymisiert. 28 FI 1 / 2012 Anja Gutekunst et al. geschnitten und in eine Filmdatei (MPEG- Format) auf eine DVD konvertiert zur weiteren Auswertung. Als repräsentative Situationen für den Gruppenalltag wurden das Freispiel, eine angeleitete Beschäftigung, der Morgenkreis und eine gemeinsame Mahlzeit ausgewählt. Sobald die erste Situation dieser Art auftrat, wurden die nachfolgenden zehn Minuten ohne Unterbrechung als Ausschnitt für die weitere Auswertung verwendet. Für jede Situation wurde ein Transkript angefertigt, in dem das soziale Verhalten des Kindes und die entstehenden sozialen Kontakte beschrieben wurden. Die Freispielsituation wurde zusätzlich quantitativ analysiert. Dazu wurden die Filmsequenzen mittels des Software-Programms „Videograph“ in Zeitintervalle von je zehn Sekunden segmentiert (Time-Sampling). Für jedes dieser Zeitintervalle wurde eine Kategorie „Spielverhalten“ sowie eine Kategorie „Sozialverhalten“ mit den Untergruppen „Versuche der Kontaktaufnahme“ und „Ergebnisse der Kontaktaufnahme“ zugeordnet, sofern ein diesbezügliches Verhalten in dem Zeitintervall zu erkennen war (Tab. 1). Versuche der Kontaktaufnahme beobachtung Das Kind ist in der nähe anderer Kinder oder beobachtet diese und scheint auf eine gelegenheit zu warten, sich zu beteiligen. blickgeste Das Kind richtet seine aufmerksamkeit auf ein anderes Kind, sucht blickkontakt oder setzt eine geste bzw. eine berührung zur Kontaktaufnahme ein. beteiligung Das Kind imitiert oder variiert das Spiel eines anderen Kindes verbal oder nonverbal. anbieten Das Kind zeigt etwas oder bietet ein Spielzeug an, das mit dem Spiel eines anderen Kindes zu tun hat. ansprechen Das Kind stellt eine Frage bezogen auf das Spiel eines anderen Kindes, fragt freundlich oder höflich, ob es mitspielen darf, teilt Informationen mit anderen, die wichtig für das aktuelle Spiel sind, oder stellt angemessene, direkt auf das Spiel bezogene Fragen bzw. schlägt alternativen oder Kompromisse vor. teilen Das Kind teilt Spielzeug mit anderen Kindern. Organisieren Das Kind schlägt ein Spiel vor oder macht organisatorische Vorschläge zum ablauf. Helfen Das Kind hilft anderen Kindern. Ergebnisse der Kontaktaufnahme aufmerksamkeit Das Kind bekommt aufmerksamkeit eines anderen Kindes. Spielzeug Das Kind bekommt Spielzeug oder Material eines anderen Kindes. Hilfe Das Kind bekommt Hilfe oder Unterstützung durch ein anderes Kind. Zuneigung Das Kind bekommt Zuneigung von einem anderen Kind bezeugt. Information Das Kind bekommt Informationen von einem anderen Kind. Erlaubnis Das Kind bekommt die Erlaubnis von einem anderen Kind mitzuspielen oder das zu tun, um was es gebeten hat. Ignorieren Das Kind wird ignoriert. ablehnung Das Kind wird aktiv abgelehnt. tab. 1: Kategorien zur bewertung des Sozialverhaltens Kategorien zur Bewertung des Sozialverhaltens 29 FI 1 / 2012 Kinder mit schwerer und mehrfacher Behinderung Nils - ein Kind mit Mobilitätseinschränkungen und Abhängigkeit von technischer Pflege Nils hat schon deshalb weniger Möglichkeiten, sich am Freispiel in der Gruppe zu beteiligen, weil für seine Pflegebedürfnisse viel Zeit erforderlich ist. In der Freispielzeit wird er zunächst versorgt, dann aus dem Rollstuhl genommen und bequem gelagert. Ein Mädchen setzt sich zu ihm, was er sichtlich genießt und sich lächelnd an ihre Schulter lehnt. Zu den anderen Kindern der Gruppe entsteht kein direkter Kontakt, beide beobachten aber das Geschehen aus einiger Entfernung. Die zweite Beobachtung in der Freispielzeit findet am Sandkasten statt. Hier muss er zunächst warten, bis eine Erzieherin erkennt, dass er sich mit dem Rollstuhl nicht selbstständig in den Sand bewegen kann, und ihn dann in die Nähe einiger Mädchen schiebt. Ihre Anregungen, dass die Mädchen ihn einbeziehen mögen, werden jedoch nicht aufgegriffen. So bleibt es bei einem Kontakt zur Erzieherin, die Sandkuchen formt, die Nils dann spielerisch wieder zerstört. Mit ihr kommt es auch zu kurzen sprachlichen Dialogen. Auch im Morgenkreis muss er zunächst noch in den Rollstuhl gelagert werden, während die anderen Kinder bereits ein Kreisspiel begonnen haben. Er beobachtet sie währenddessen neugierig. Danach sitzt er zwar in der Kreisrunde, jedoch nicht neben einem Kind, sondern zwischen der Erzieherin und der Pflegekraft, sodass die räumliche Distanz zu den anderen Kindern groß ist. Beim zweiten Morgenkreis wird er dagegen bei einem Spiellied von Anfang an einbezogen; ein Mädchen rollt ihn in seinem Rollstuhl im Rhythmus hin und her, ein anderes hält seine Hand beim „Tanzen“. Als sein Part beendet ist, wird er wieder an seinen Platz im Kreis geschoben, meldet sich aber sofort, als ein neues Lied beginnt, und ist enttäuscht, als er nicht drangenommen wird. Beim gemeinsamen Essen wird er von den anderen Kindern nicht beachtet. Lediglich einmal gelingt es ihm, sich in ein „Gespräch“ einzuklinken, indem er einen lustigen Satz eines anderen Kindes wiederholt. Beim angeleiteten Spiel („Obstgarten“) bezieht die Erzieherin ihn mit drei anderen Kindern ein. Ein Mädchen übernimmt die Führung. Als Nils einige Spielgegenstände nicht erreichen kann, gibt sie einem anderen Kind den Auftrag, ihm zu helfen; Nils strebt aber danach, das selbst zu schaffen. Auf seine Ungeschicklichkeit reagieren die anderen Kinder ungeabb. 1: Versuche der Kontaktaufnahme (blickgeste, beobachtung, beteiligung, teilen, Helfen) und erlebte soziale Reaktionen in Freispielzeiten (aufmerksamkeit, Hilfe, Zuneigung, Ignorieren) (nils) 30 FI 1 / 2012 Anja Gutekunst et al. duldig; der Konflikt wird mit Unterstützung der Erzieherin gelöst. Mehrmals provoziert Nils nun die anderen Kinder, indem er den Korb mit den Spielgegenständen umwirft oder mit dem Würfel herumalbert. Bei einer zweiten Sequenz geht es um „Riechproben“. Als er in seinem Rollstuhl dazugeschoben wird, wird er von den Kindern zunächst nicht beachtet. Er beginnt dann, einen Jungen zu stören, worauf er zurechtgewiesen und von der Pflegekraft wieder auf einen entfernteren Platz geschoben wird. Die quantitative Auswertung (Abb. 1) zeigt die individuelle Verteilung von Versuchen der Kontaktaufnahme und erlebten sozialen Reaktionen in den Freispielzeiten. Es überwiegen Zeiten, in denen er das Geschehen lediglich beobachtet. In etwa 30 % der Zeitintervalle erfährt er Zuneigung durch ein anderes Kind der Gruppe, in mehr als 50 % wird er aber ignoriert. David - ein Kind mit schwerer und mehrfacher Behinderung David wird während der ersten Freispielsequenz von der Erzieherin in die Bauecke gelegt. Mehrere Kinder spielen dort, allerdings mit dem Rücken zu ihm. Als ein Mädchen kurz - und ohne ihn anzusprechen - ein Auto über seinen Rücken rollen lässt, zeigt er keine Reaktion. Er schaut aber in die Richtung der anderen Kinder. Einige Zeit später bringen ihm zwei Kinder einige Spielautos, die er aber ebenso wenig beachtet wie den BigMack, den die Erzieherin in seine Reichweite stellt. Er bleibt allein in der Ecke des Spielzimmers, wird nicht angesprochen, schaut nur kurze Momente nach den spielenden Kindern und schließt dann öfters für längere Zeit die Augen. Gegen Ende der Beobachtungszeit kommt ein Mädchen der Gruppe auf ihn zu und will ihm ein Bild zeigen; er öffnet die Augen, schaut das Mädchen und das Bild aber nicht an. Insgesamt zeigt er nur wenige, sehr flüchtige Momente sozialer Aufmerksamkeit für die anderen Kinder. Interaktionen zwischen ihm und den anderen Kindern, aber auch mit der Erzieherin kommen nicht zustande. Auch in der zweiten Beobachtungsszene kommt es nur zu sehr wenigen Interaktionen zwischen David und den anderen Kindern der Gruppe. Er wird von der Erzieherin mit dem Rollstuhl an den Rand der Bauecke platziert, wo er die anderen Kinder beobachten kann und ein Mobile hängt, das ihn interessieren könnte. Er richtet jedoch nur wenige Male für mehr als zehn Sekunden den Blick auf eines der spielenden Kinder; die anderen Kinder beachten ihn nicht. Nur ein Mädchen geht einmal auf direkte Aufforderung der Erzieherin zu ihm und schubst das Mobile an, ohne dass es aber zu einem sozialen Kontakt kommt. Auch die Erzieherinnen gehen jeweils nur kurz zu ihm, streicheln ihm über den Kopf, stoßen sein Mobile an, verschieben seinen Rollstuhl einmal und ziehen sich dann wieder zurück. Im Verlauf der Situation beginnt er mehrfach zu quengeln und zu schreien, wenn sie sich wieder von ihm entfernen, und hält inne, wenn sich eine der Erzieherinnen ihm wieder zuwendet. Er scheint ihre Aufmerksamkeit zu suchen. Im Morgenkreis sitzt eine Praktikantin der Gruppe direkt neben ihm; vor ihm auf dem Tisch seines Rollstuhls steht der BigMack. Er soll damit die Möglichkeit haben, ein neues Spiellied vorzuspielen. David drückt aber bereits auf den BigMack, als dieser noch nicht eingeschaltet ist. Als das Gerät dann angeschaltet wird, schaut er auf das Gerät und bewegt seine Arme und Beine, drückt aber nicht auf die Taste, sondern beginnt, anhaltend zu schreien. Als er nicht innehält, schaltet die Erzieherin den BigMack wieder aus und singt den Kindern das Spiellied selbst vor. Wäh- 31 FI 1 / 2012 Kinder mit schwerer und mehrfacher Behinderung rend die Kinder dann singen, drückt er wiederholt auf die Taste und beginnt zu schreien, woraufhin sich die Erzieherin sowie einige andere Kinder zu ihm hindrehen. Der Big- Mack wird zunächst nicht wieder angeschaltet, sondern die Kinder singen weiter. David schreit so lange, bis das Gerät wieder eingeschaltet wird. Er drückt dann auf die Taste und lauscht dem Lied. Ein anderer Junge kommentiert „Der David wollte noch mal“. Die Erzieherin räumt das Gerät jedoch weg. David beginnt erneut zu schreien. Die anderen Kinder - bis auf diesen Jungen - wenden sich einem neuen Lied zu und beachten ihn nicht. Auch beim zweiten Morgenkreis bleibt die Praktikantin in seiner Nähe und hält zunächst seine Hand. Er sitzt im Rollstuhl - mit relativ großem Abstand zu den anderen Kindern - und hat zwei BigMack-Geräte vor sich. Auf diesen darf er jeweils die Lieder vorspielen, die dann im Stuhlkreis gesungen werden. Als die Erzieherin ihn auffordert, ein Lied anzuspielen, bewegt er sich heftig und drückt dann innerhalb von etwa 30 sec eine der beiden Tasten. Die Kinder schauen dabei zu ihm, er heftet seinen Blick aber auf das Gerät. Nach dem Ende des zweiten Liedes stößt er das Gerät zu Boden, was die Kinder aufmerksam verfolgen. Bei einem der folgenden Spiellieder wird er von der Praktikantin dann in die Kreismitte geschoben, sodass sich alle Augen auf ihn richten. Er richtet aber seine Aufmerksamkeit auf die Praktikantin. Als er erneut ein Spiellied durch Druck auf den Big- Mack vorgeben soll, reagiert er wiederum mit heftigen Bewegungen und schafft es nach einer knappen Minute. Ein Kind kommentiert das mit „Da muss er sich anstrengen“. Die Aufmerksamkeit der anderen Kinder hält immer so lange an, bis er die Taste betätigt hat; danach wird er nicht mehr beachtet. Ein Mädchen sitzt neben ihm und hält längere Zeit seine Hand, ohne dass er sie allerdings anschaut. Dieses Mädchen sitzt auch beim Essen neben ihm. In dieser Situation beginnt er wieder heftig zu schreien, woraufhin sie ihn durch Klopfen auf seinen Tisch oder Streicheln abzulenken versucht. Die anderen Kinder (und die Praktikantin) beachten das Schreien nicht. Bei der zweiten Essenssituation ist er wesentlich ruhiger, lässt sich von der Erzieherin füttern, lächelt sie an und lässt sich von ihr in den Arm nehmen. Kontakte zu den anderen Kindern am Tisch entstehen nicht. In einer angeleiteten Spielsituation bekommen mehrere Kinder ein Bilderbuch vorgelesen. David wird im Rollstuhl hinzugestellt, jedoch recht weit von den anderen Kindern weg platziert. Er vokalisiert, bewegt sich heftig und beginnt zu schreien, wird aber nicht beachtet. Nach einiger Zeit nimmt die Erzieherin für einen Moment seine Hand, fährt aber mit dem Vorlesen fort. Interpretation der Beobachtungen und pädagogische Schlussfolgerungen Die beiden Einzelfallbeobachtungen beanspruchen natürlich nicht, repräsentativ zu sein. Sie erscheinen jedoch geeignet, die Abhängigkeit schwer und mehrfach behinderter Kinder von der pädagogischen Unterstützung zu illustrieren. Obwohl Nils in seiner kognitiven und sprachlichen Entwicklung wenig beeinträchtigt und er am Kontakt mit anderen Kindern interessiert ist, bleibt er weitgehend in einer beobachtenden Rolle und darauf angewiesen, dass andere Kinder von sich aus Kontakt zu ihm aufnehmen. In offenen Situationen fehlen ihm offenbar soziale Fertigkeiten, um sich von sich aus am Spiel zu beteiligen, und bleibt oft unbeachtet; bei angeleiteten Beschäftigungen provoziert er soziale Reaktionen der Spielpartner in einer Weise, die das Risiko sozialen Ausschlusses wachsen lassen. David zeigt von sich aus sehr wenig soziale Aufmerksamkeit; Kontaktan- 32 FI 1 / 2012 Anja Gutekunst et al. gebote der anderen Kinder beantwortet er nicht erkennbar, sodass sie sich rasch wieder zurückziehen. Auch der Einsatz einer elektronischen Kommunikationshilfe führt nicht zu einer befriedigenden sozialen Teilhabe. Es scheint, dass er sich ein Verhaltensmuster angeeignet hat, bei dem er durch Schreien die sozialen Reaktionen der anderen Kinder und der Erzieherinnen herauszufordern versucht. Die Beobachtungen zeigen, wie groß die Gefahr ist, dass Kinder mit ausgeprägtem Hilfebedarf bei der Mobilität, Kommunikation und Spielbeteiligung auch in integrativen Gruppen sozial isoliert bleiben und dysfunktionale Verhaltensweisen ausbilden, um soziale Aufmerksamkeit zu erzielen. Sie sind in Freispielzeiten darauf angewiesen, dass ihnen die Fachkräfte den Zugang zu gemeinsamen Beschäftigungsmöglichkeiten erleichtern, die ihren Fähigkeiten angemessen sind. Soziale Kontakte zu den anderen Kindern der Gruppe hängen von der Bereitschaft der nicht behinderten Kinder ab, sich ihnen zuzuwenden. Diese wiederum brauchen die Unterstützung der Fachkräfte, um auch dann Kontaktangebote zu machen, wenn die soziale Aufmerksamkeit des Kindes gering ist und soziale Reaktionen zunächst weitgehend ausbleiben. Eine befriedigende soziale Integration von Kindern mit geringen eigenen Möglichkeiten zur Beteiligung und sozialen Kommunikation stellt somit besondere Anforderungen an die fachliche Kompetenz der Mitarbeiter. Für diese Aufgabe brauchen Mitarbeiter in integrativen Einrichtungen günstige Rahmenbedingungen, die eine individuelle Assistenz zulassen, und spezifische Fachkenntnisse, wie sie dem individuellen Hilfebedarf gerecht werden können. Damit eine befriedigende soziale Integration gelingt, müssen sie wissen, wie sie das Kind lagern können, Spiel- und Beschäftigungsmaterialien anpassen können, individuelle kommunikative Ausdrucksformen erkennen und aufgreifen, Kommunikationshilfen gezielt einsetzen und der Ausbildung von problematischen sozialen Verhaltensformen vorbeugen können. Das heißt: „Dabeisein ist nicht alles“ (Kreuzer & Ytterhus, 2008). Prof. Dr. Klaus Sarimski Sonderpädagogische Frühförderung und allgemeine Elementarpädagogik Pädagogische Hochschule Keplerstr. 87 69120 Heidelberg Literatur Graham, R., Pemstein, D. & Palfrey, J. (1998). Included but isolated: early intervention programmes provision for children and families with chronic respiratory support needs. Child: Care, Health and Development, 34, 373 -379 Kreuzer, R. & Ytterhus, I. (2008). „Dabeisein ist nicht alles“. Reinhardt, München Markos-Capps, G. & Godfrey, A. (1999). availability of day care services for preschool children with special health care needs. Infants and Young Children, 11, 62 - 78 Sarimski, K. (2012). behinderte Kinder in inklusiven Kindertagesstätten. Kohlhammer, Stuttgart (im Druck) Schöler, J., Fritzsche, R. & Schastok, A. (2005). Ein Kindergarten für alle. Kinder mit und ohne behinderung spielen und lernen gemeinsam. Stuttgart: Cornelsen Smith, J., Williams, J. & Gibbin, K. (2003). Children with a tracheostomy: experience of their carers in school. Child: Care, Health and Development, 29, 291 -296