Frühförderung interdisziplinär
1
0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2012
311
Integrative Eltern-Säuglings-/Kleinkind-Beratung (IESK-B)
11
2012
Ruth Wollwerth de Chuquisengo
Wer hat das Konzept entwickelt? Das Konzept der "integrativen Eltern-Säuglings-/Kleinkindberatung" wurde von Prof. Dr. med. Mechthild Papousek entwickelt, die 1991 im Kinderzentrum München eine Spezialsprechstunde für Familien mit exzessiv schreienden Säuglingen gründete.
1_031_2012_001_0039
39 FI 1 / 2012 Eltern-Kind-Konzepte EltErn-KInd-KonzEptE Integrative Eltern-Säuglings-/ Kleinkind-Beratung (IESK-B) Ruth Wollwerth de Chuquisengo Wer hat das Konzept entwickelt? das Konzept der „integrativen Eltern-Säuglings-/ Kleinkindberatung“ wurde von prof. dr. med. Mechthild papoušek entwickelt, die 1991 im Kinderzentrum München eine Spezialsprechstunde für Familien mit exzessiv schreienden Säuglingen gründete. das Behandlungsmodell basiert auf der intensiven Grundlagenforschung des Forscherehepaares Mechthild und Hanuš papoušek zur frühkindlichen Verhaltensregulation, der vorsprachlichen Kommunikation und zu den intuitiven elterlichen Kompetenzen. Am Kinderzentrum entstand im interdisziplinären Mitarbeiterteam unter leitung von prof. Mechthild papoušek ein entwicklungsdynamisches, systemisches Konzept einer Eltern-Säuglings-/ Kleinkind-Beratung und -psychotherapie. Wertvolle Impulse kamen dabei aus dem Bereich der analytischen Eltern-Säuglings-psychotherapie (Fraiberg, 1975; Stern, 1995; Brazelton & Cramer, 1990), wie auch der interaktionszentrierten und bindungsorientierten Ansätze (Muir, 1992; Mcdonough, 1993). Wie erklärt sich das Verfahren damals und heute? prof. M. papoušek richtete das Behandlungskonzept zunächst auf exzessiv schreiende Säuglinge in den ersten lebensmonaten aus. Hypothesen über Entstehungsbedingungen und Auswirkungen des exzessiven Schreiens ließen sich aus diesem Modell ebenso ableiten wie Beratungshilfen für den Umgang mit dem schreienden Säugling und seiner Familie. das Syndrom des exzessiven Schreiens lässt sich demnach nicht einseitig auf probleme des Säuglings oder der Eltern reduzieren. Es findet sich eine Vielzahl von Faktoren aufseiten des Kindes, der Eltern und der Umwelt, die sich gegenseitig beeinflussen und zum Gelingen oder Misslingen der frühen Eltern-Kind- Kommunikation beitragen. organische und psychosoziale risiko- und Schutzfaktoren aufseiten des Säuglings und der Eltern werden in den alltäglichen Eltern- Kind-Interaktionen beim Beruhigen, Füttern, Spiel und Schlafenlegen wirksam. die selbstregulatorischen Fähigkeiten des Säuglings können z. B. durch Unreife, ein schwieriges temperament und andere risikofaktoren beeinträchtigt werden. dies stellt erhöhte Anforderungen an die intuitiven Kompetenzen der Eltern. das exzessive Schreien führt aufseiten der Eltern häufig zu chronischer Erregung und Erschöpfung, Schlafdeprivation, Verunsicherung, depressivität bis hin zu Ablehnung und ohnmächtiger Wut. Mitunter aktualisiert das Schreien auch latente Beziehungskonflikte mit den eigenen Eltern und in der partnerschaft. In diesen Fällen entbehrt der Säugling, der aufgrund seiner mangelnden selbstregulatorischen Kompetenzen erhöhte Unterstützung bräuchte, der kompensatorischen Hilfen seiner Eltern. Schaukelt sich die Situation so zu einem teufelskreis der „negativen Gegenseitigkeit“ hoch, kann es zu Ablehnung, Vernachlässigung bis hin zu Misshandlung des Säuglings kommen. das System entgleist. 40 FI 1 / 2012 Eltern-Kind-Konzepte Schon bald nach der Gründung der Ambulanz für Schreibabys stellte sich heraus, dass die alleinige Ausrichtung des Behandlungsangebotes auf exzessives Schreien in den ersten lebensmonaten nicht ausreichte. Es wurden vermehrt Säuglinge und Kleinkinder mit weiteren Verhaltensproblemen, wie z. B. Schlaf-, Fütter- und Gedeihstörungen, exzessivem trotzen, trennungsängsten angemeldet. zudem musste das Behandlungskonzept erweitert werden für frühe Kommunikations- und Beziehungsstörungen bei postpartalen oder chronischen psychischen Erkrankungen der Eltern. die auf den ersten Blick so unterschiedlich wirkenden Störungsbilder der Säuglinge und Kleinkinder verfügen über viele Gemeinsamkeiten, sodass man sie unter dem oberbegriff „regulationsstörungen“ zusammenfassen kann (papoušek, 2004). Aus diesem Grund war es möglich, ein gemeinsames therapeutisches rahmenkonzept zu gestalten. darauf aufbauend wurden abgestimmt auf die einzelnen Störungsbilder spezifische Vorgehensweisen und ein auf die rasche frühkindliche Entwicklungsdynamik ausgelegtes, intermittierendes Behandlungsangebot entwickelt. zu Beginn der Beratung und Intervention steht eine pädiatrisch-neurologische und psychologische diagnostik. Im zentrum steht hierbei die klinische Interaktions- und Beziehungsdiagnostik, primär in den störungsrelevanten Kontexten (z. B. Beruhigen, Füttern, Schlafenlegen), in Bezug auf die Einschätzung der Beziehungsqualität, aber auch immer im gemeinsamen Spiel oder zwiegespräch. Auf dieser Basis können bereits erste Hypothesen in Bezug auf Ursachen und Wirkungsfaktoren gefasst und die therapeutische Arbeit darauf aufgebaut werden. die Beratung und Intervention setzt anschließend an drei Ebenen an: den regulationsproblemen des Säuglings, dem Überlastungssyndrom der Eltern und der belasteten Eltern-Kind-Kommunikation. ziel der therapie ist über die Behandlung der regulationsstörung und der Entlastung der Eltern hinaus der Aufbau einer positiven, tragfähigen Eltern-Kind-Beziehung. das Vorgehen wird auf die individuellen Bedürfnisse der Familie abgestimmt und besteht in der regel aus einer Kombination der drei folgenden therapiemodule: n Entwicklungspsychologisch fundierte interaktionszentrierte Beratung die Sitzungen können als therapeutisches Gespräch mit Eltern und Kind, aber auch als gemeinsames Spiel im geschützten therapeutischen rahmen erfolgen. der Fokus liegt auf den aktuellen problemen und Fähigkeiten des Kindes. die Beratung bietet den Eltern Informationen zu aktuellen und früheren unbewältigten Entwicklungsaufgaben und hilft den Eltern, die Signale ihres Kindes besser wahrzunehmen und zu verstehen. n Ressourcenorientierte Gespräche mit den Eltern Hier rücken die Eltern mit ihrer psychischen und physischen Befindlichkeit in den Mittelpunkt. der therapeut geht auf angestaute Gefühle und vernachlässigte Bedürfnisse der Eltern empathisch und wertschätzend ein. Gemeinsam mit den Eltern wird versucht, ressourcen in der individuellen Vorgeschichte sowie des aktuellen familiären und sozialen netzes aufzuspüren und zu aktivieren. n Videogestützte Kommunikationsanleitung Mit Hilfe von Videoaufnahmen von Eltern- Kind-Interaktionen verschiedener alltags- und störungsrelevanter Kontexte (z. B. Beruhigen, Füttern, Schlafenlegen, Spiel) können die Eltern eine zuvor erlebte Interaktion aus der Beobachterperspektive mehrfach betrachten und im geschützten 41 FI 1 / 2012 Eltern-Kind-Konzepte therapeutischen rahmen analysieren. In der therapie werden gemeinsam sowohl Sequenzen gelingender als auch problematischer Eltern-Kind-Interaktionen analysiert. ziel dabei ist es, teufelskreise zu durchbrechen und durch gelingende beiderseits belohnende Kommunikationsmuster zu ersetzen. Bei lang andauernder, mehrere Bereiche betreffender regulationsproblematik, persistierenden maladaptiven Interaktionsmustern sowie Vernachlässigungs- und Misshandlungsgefahr ist zusätzlich Eltern-Säuglingspsychotherapie indiziert. In diesen Fällen ist die elterliche Wahrnehmung und Interpretation der kindlichen Signale oft verzerrt, die elterlichen intuitiven Fähigkeiten sind blockiert oder gehemmt. In der Eltern-Säuglings-psychotherapie wird über aktuelle Interaktionssequenzen ein zugang zu wiederbelebten Gefühlen, repräsentationen und Erinnerungsbildern aus der lebensgeschichte der Eltern hergestellt. reinszenierungen der Beziehungsvorgeschichte können auf diese Weise bewusst gemacht und bearbeitet werden. Weitere Behandlungsmodule, wie z. B. Ergotherapie, physiotherapie, sozialpädagogische Interventionen, Musiktherapie stehen bei Bedarf im Kinderzentrum zur Verfügung. Für wen ist es bestimmt? das Verfahren richtet sich vorwiegend an belastete Familien und ihre Säuglinge und Kleinkinder. das Behandlungsspektrum umfasst hier insbesondere den Bereich der frühkindlichen regulationsstörungen mit ihrer Symptomtrias (regulationsproblematik des Säuglings, elterliches Überlastungssyndrom, maladaptive Interaktions- und Kommunikationsmuster) sowie frühe Kommunikations- und Beziehungsstörungen bei psychischer Erkrankung eines Elternteils. die IESK-B ist ausgerichtet auf folgende Indikationen: n Exzessives Schreien n Schlafstörungen n Fütter- und Gedeihstörungen n Übermäßiges Klammern und trennungsängste n Exzessives trotzen n Chronische Unruhe und Spielunlust n Kommunikations- und Beziehungsstörung bei psychischer Erkrankung der Eltern das Behandlungskonzept kann durchaus auf die Bedürfnisse von Familien mit chronisch kranken, behinderten oder von Behinderung bedrohten Kindern ausgeweitet werden. Es ist ein wirksames Instrument, die Eltern für die individuellen Bedürfnisse ihres Kindes zu sensibilisieren und beidseits erfüllende Kommunikation im Alltag zu ermöglichen. Was soll es bewirken? Bezogen auf die Symptomtrias frühkindlicher regulationsstörungen liegt das ziel der therapie in der n Behebung der kindlichen regulationsproblematik n Entlastung der Eltern n Aufbau einer tragfähigen und positiven Eltern-Kind-Interaktion und -Beziehung. Wer wendet es an, welche Voraussetzungen gibt es für die Dozenten/ Referenten? Grundsätzlich ist die IESK-B für alle Fachleute geeignet, die Familien mit ihren Säuglingen und Kleinkindern beratend oder therapeutisch begleiten. die Ausbildung ist offen für Kinderärzte, Kinder- und Jugendpsychiater, 42 FI 1 / 2012 Eltern-Kind-Konzepte psychologen, Sozialpädagogen, Hebammen, Kinderkrankenschwestern, physio- und Ergotherapeuten, logopäden und Heilpädagogen. die dozenten der Ausbildung sind neben den langjährigen Mitarbeitern der Münchner Sprechstunde für Schreibabys namhafte Fachleute verschiedenster Einrichtungen innerhalb deutschlands. Sie verfügen über langjährige praktische Erfahrung in der Eltern-Säuglings-Beratung und -psychotherapie. Welche Erfahrungen gibt es im Bereich der Frühförderung damit? die IESK-B wird immer häufiger im Arbeitskontext der Frühförderung angewendet. die Erfahrung der Frühförderstellen zeigt, dass Kinder mit Behinderungen, genetischen Syndromen oder Frühgeburt ebenfalls unter regulationsproblemen wie exzessivem Schreien, Schlaf- oder Fütterstörungen leiden. In der videogestützten Kommunikationsanleitung können Eltern für die individuellen Fähigkeiten und Bedürfnisse ihrer Kinder sensibilisiert und angeleitet werden. Womit wird die Wirksamkeit bewiesen? randomisierte therapievergleichsstudien verschiedener richtungen der Eltern-Säuglingstherapie zeigten eine gute Wirksamkeit, sowohl bei psychodynamischem Ansatz (Cramer, 1990 ) als auch bei interaktionszentrierten (Mcdonough, 1993) und bindungszentrierten (Muir, 1992) Modellen. In allen Verfahren kommt es unabhängig von theorie, Behandlungsfokus und -technik zu einem rückgang der kindlichen Symptomatik, einer Besserung von Interaktionsstörungen und zu einer reduktion mütterlicher psychosozialer Belastungen (robert-tissot et al., 1996). der therapieerfolg des Beratungs- und therapiekonzeptes der Münchener Sprechstunde für Schreibabys konnte anhand einer globalen Experteneinschätzung empirisch nachgewiesen werden (Wollwerth de Chuquisengo u. papoušek, 2004). Was sagen Kritiker? Kritiker bemängeln, dass bisher keine randomisierten, kontrollierten therapieevaluationsstudien auf höherem Evidenzlevel durchgeführt wurden, um die Wirksamkeit des Verfahrens empirisch zu belegen. Wo kann man mehr erfahren? Ein grundlegendes Werk ist das Buch „regulationsstörungen der frühen Kindheit“ (papoušek u. a., 2004). Hier wird das Beratungs- und therapiekonzept der Münchner Sprechstunde für Schreibabys anhand unterschiedlicher Störungsbilder ausführlich dargestellt. Eine liste aller Veröffentlichungen des Ehepaares papoušek findet man auf folgender Website: www.papousek.de Weitergehende Informationen zum Ausbildungscurriculum sind auf der Website der „deutschen Akademie für Entwicklungsförderung und Gesundheit des Kindes“ nachzulesen: www.daer.de Ruth Wollwerth de Chuquisengo Dipl. Psych., Psychologische Psychotherapeutin, Systemische Psychotherapie, Tiefenpsychologisch fundierte Körpertherapie IESK-Beratung und Psychotherapie, Lehrtherapie und Supervision Kinderzentrum München Heiglhofstraße 63 D-81377 München 43 FI 1 / 2012 Eltern-Kind-Konzepte · Stichwort Literatur Brazelton, B., Cramer, B. (1990). die frühe Bindung. die erste Beziehung zwischen dem Baby und seinen Eltern. Stuttgart (Klett-Cotta) Fraiberg, S., Adelson, E., Shapiro, V. (1975). Ghosts in the nursery: a psychoanalytic approach to the problems of impaired infant-mother-relationships. Journal of American Academic Child and Adolescent psychiatry; 14: 387 -422 McDonough, S. (1993). Interaction guidance: Understanding and treating early infant-caregiver relationship disorders. In zeanah, C. (Hrsg.): Handbook of infant mental health. new York: Guilford press, S. 414 -426 Muir, E. (1992). Watching, waiting and wondering: applying psychoanalytic principles to mother-infant intervention. Infant Mental Health Journal; 13: 319 -328 Papoušek, M., Schieche, M., Wurmser, H. (Hrsg.). (2004). regulationsstörungen der frühen Kindheit. Frühe risiken und Hilfen im Entwicklungskontext der Eltern-Kind-Beziehungen. Bern: Hans Huber Robert-Tissot, C., Cramer, B., Stern, D. N., Serpa, S., Bachman, J., Palacio-Espasa, F., Knauer, D., De Muralt, M., Berney, C., Mendiguren, G. (1996). outcome evaluation in brief mother-infant psychotherapies: report on 75 cases. Infant Mental Health Journal; 17: 97 -114 Stern, D. N. (1995). die Mutterschaftskonstellation: eine vergleichende darstellung verschiedener Formen der Mutter-Kind-psychotherapie. Stuttgart: Klett-Cotta Wollwerth de Chuquisengo, R., Papoušek, M. (2004). das Münchner Konzept einer kommunikationszentrierten Eltern-Säuglings-/ Kleinkind- Beratung und -psychotherapie. In: papoušek, M., Schieche, M., Wurmser, H. (Hrsg.). regulationsstörungen der frühen Kindheit. Frühe risiken und Hilfen im Entwicklungskontext der Eltern-Kind-Beziehungen. Bern: Hans Huber; 281 -309 StICHWort Mobilität in der Frühförderung Hans Weiß die mobile Arbeitsweise ist seit jeher ein Grundmerkmal der Frühförderung. das entwicklungsgefährdete Kind soll in seiner lebenswelt erreicht werden, und dies ist in den ersten lebensjahren die häusliche lebenswelt. daher ist der Hausbesuch ein Herzstück einer lebensweltbzw. familienorientierten Frühförderung. neben der Hausfrühförderung erfolgt die Frühförderung in Kindertagesstätten mobil. So erbringen die Interdisziplinären Frühförderstellen (IFS) in Bayern fast die Hälfte (48,2 %) ihrer mobilen Förder-/ Behandlungseinheiten in Kitas, weil die Kinder diese ganztägig besuchen und/ oder beide Eltern berufstätig sind (Franzl, 2011, teil 3). dass der Hausbesuch in der Anfangszeit der Frühförderung deutlich vorherrschte, lag auch an pragmatischen Gründen: durch das damals noch weitmaschige netz an Frühförderstellen wären die Anfahrtswege für viele Familien weiter gewesen als heute. zudem verfügten noch weniger Familien über ein (zweit-) Auto. Mit der besseren Erreichbarkeit der regionalen Frühförderstellen infolge ihres dichter gewordenen netzes und der höheren Mobilität vieler Familien hat die ambulante Frühförderung an Bedeutung gewonnen. In deutschland werden im Bundesdurchschnitt knapp
