eJournals Frühförderung interdisziplinär 31/2

Frühförderung interdisziplinär
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0721-9121
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
41
2012
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Kindeswohlgefährdung bei kleinen hörgeschädigten Kindern?

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2012
Manfred Hintermair
Nachdem der "Anhaltsbogen für ein vertiefendes Gespräch" in einer früheren kleinen Pilotstudie bei hörgeschädigten Kleinkindern erprobt wurde und immerhin 36 % der Familien Anzeichen einer potenziellen Gefährdung des Kindeswohls aufwiesen, wurde mit dem gleichen Instrument eine Kontrollstudie in einem anderen deutschen Bundesland durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass auch in der Kontroll-studie ca. 25 % der Familien Anzeichen einer Gefährdung aufweisen, wobei insbesondere soziale Belastungen, erhöhte Fürsorgeanforderungen und Zukunfts- bzw. Überforderungsängste vermehrt registriert werden. Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund sowie Familien mit mehrfachbehinderten hörgeschädigten Kindern bedürfen hier der besonderen Beachtung. Die weitere Erprobung des Anhaltsbogens in der Frühförderung hörgeschädigter Kinder mit längsschnittlich angelegten Evaluationen ist auch nach den Daten der vorliegenden Studie zu empfehlen. Die Daten zeigen weiter im Vergleich zur Pilotstudie, dass das seit 1. 1. 2009 gesetzlich geregelte Neugeborenen-Hör-Screening zur Erfassung hörgeschädigter Kinder zu greifen scheint.
1_031_2012_002_0089
89 Frühförderung interdisziplinär, 31. Jg., S. 89 -96 (2012) DOI 10.2378/ fi2012.art07d © Ernst Reinhardt Verlag Kindeswohlgefährdung bei kleinen hörgeschädigten Kindern? Eine Kontrollstudie mit dem „Anhaltsbogen für ein vertiefendes Gespräch“ Manfred Hintermair Zusammenfassung: Nachdem der „Anhaltsbogen für ein vertiefendes Gespräch“ in einer früheren kleinen Pilotstudie bei hörgeschädigten Kleinkindern erprobt wurde und immerhin 36 % der Familien Anzeichen einer potenziellen Gefährdung des Kindeswohls aufwiesen, wurde mit dem gleichen Instrument eine Kontrollstudie in einem anderen deutschen Bundesland durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass auch in der Kontrollstudie ca. 25 % der Familien Anzeichen einer Gefährdung aufweisen, wobei insbesondere soziale Belastungen, erhöhte Fürsorgeanforderungen und Zukunftsbzw. Überforderungsängste vermehrt registriert werden. Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund sowie Familien mit mehrfachbehinderten hörgeschädigten Kindern bedürfen hier der besonderen Beachtung. Die weitere Erprobung des Anhaltsbogens in der Frühförderung hörgeschädigter Kinder mit längsschnittlich angelegten Evaluationen ist auch nach den Daten der vorliegenden Studie zu empfehlen. Die Daten zeigen weiter im Vergleich zur Pilotstudie, dass das seit 1. 1. 2009 gesetzlich geregelte Neugeborenen-Hör-Screening zur Erfassung hörgeschädigter Kinder zu greifen scheint. Schlüsselwörter: Kindeswohl, Frühförderung, Hörschädigung, Prävention Are best interests of young deaf and hard-of-hearing children jeopardized? A control study with the screening instrument “Anhaltsbogen für ein vertiefendes Gespräch” Summary: In a former small pilot study the screening instrument “Anhaltsbogen für ein vertiefendes Gespräch” was applied with deaf and hard of hearing children in early education. The results of this study revealed, that 36 % of the families showed signs for a potential compromise of child wellbeing. Therefore a control study with families from another German federal state was conducted using the same instrument and method. The results show, that 25 % of the families do reveal potential signs, and social stress factors, challenges for parental care, and fears about future are mostly reported. Children from families with foreign backgrounds as families with multi handicapped deaf and hard of hearing children need special care. A further testing of this screening instrument with deaf and hard of hearing children in early education with longitudinal evaluation is strongly supported by the data of this study. The data further show when comparing them with the data of the pilot study, that the Universal Newborn Hearing Screening procedure, regulated by law since 1. 1. 2009 seems to have a great effect. Keywords: Child’s well-being, early education; hearing impairment; prevention ORIgInalaRbEIt 90 FI 2 / 2012 Manfred Hintermair Ergebnisse mit dem Anhaltsbogen bei hörgeschädigten Kindern D ie vorliegende Studie basiert auf den Erkenntnissen einer vorangegangenen Pilotstudie, die mit dem sog. „Anhaltsbogen für ein vertiefendes Gespräch“ an den Beratungs- und Frühförderstellen für hörgeschädigte Kinder und ihre Familien in Baden-Württemberg 2009 durchgeführt und in dieser Zeitschrift publiziert wurde (vgl. Hintermair & Trainer, 2010). Auf dem Hintergrund, dass frühe Hilfen zur Prävention einer möglichen Gefährdung des Kindeswohls in den letzten Jahren vermehrt in das Blickfeld gesellschaftlicher wie wissenschaftlicher Diskussionen gerückt sind (vgl. das Schwerpunktheft 2/ 2009 der Zeitschrift Frühförderung interdisziplinär), wurde in dieser Pilotstudie überprüft, inwieweit sich auch bei der Gruppe der hörgeschädigten Kinder entsprechende Risiken aufzeigen lassen, die unter Zuhilfenahme des Anhaltsbogens konkretisiert werden können. Bei hörgeschädigten Kindern ist bekannt, dass im Schnitt eine ca. 2.5bis 3-fach erhöhte Rate für Verhaltensauffälligkeiten zu konstatieren ist und somit die psychosoziale Entwicklung dieser Gruppe einer erhöhten Gefährdung ausgesetzt ist (vgl. zusammenfassend Hintermair, 2009). Für detailliertere Begründungszusammenhänge bzgl. früher Gefährdung des Kindeswohls und Hörschädigung sei auf den Beitrag von Hintermair & Trainer (2010, S. 154ff) verwiesen. Der „Anhaltsbogen für ein vertiefendes Gespräch“ hat sich als ökonomische Möglichkeit erwiesen, relevante Informationen in Bezug auf eine mögliche frühe Gefährdung des Kindeswohls zu bekommen (vgl. Künster, Ziesel & Ziegenhain, 2009). Der Bogen ist zugeschnitten auf die Situation sehr kleiner Kinder (ca. 0 - 6 Monate) und als Screening in der Klinik vorgesehen, das durch das Klinikpersonal durchgeführt werden soll. Er enthält fünf Punkte, die sich aus Metaanalysen von 18 vorliegenden internationalen Risikoinventaren als besonders bedeutsam herausgestellt haben (a.a.O., S. 54): n Mindestens eine besondere soziale Belastung n Mehrere fehlende Schwangerschaftsuntersuchungen bzw. U-Untersuchungen n Kind stellt deutlich erhöhte Fürsorgeanforderungen, die die Möglichkeiten der Familie zu übersteigen drohen n Beobachtbare deutliche Schwierigkeiten der Hauptbezugsperson bei der Annahme und Versorgung des Kindes n Hauptbezugsperson beschreibt starke Zukunftsangst, Überforderung oder Gefühl, vom Kind abgelehnt zu werden Die Autoren halten fest, dass mit diesen fünf Punkten „eine erhebliche Bandbreite möglicher Risikofaktoren“ (a.a.O., S. 54) abgedeckt wird. Bei Vorliegen eines oder mehrerer Risikofaktoren wird ein weiterführendes Gespräch empfohlen, nach dem dann gemeinsam von allen Beteiligten entschieden bzw. überlegt werden kann, welche Maßnahmen oder Hilfen im Sinne von Gesundheitsförderung etc. hilfreich sein könnten. Die oben erwähnte Pilotstudie konnte auf zwei wesentliche Punkte aufmerksam machen: n Zum einen zeigte sich, dass bei 36 % der überprüften Familien Hinweise für eine mögliche Gefährdung des Kindeswohls enthalten waren. n Zusätzlich ergab sich als ergänzender Befund, dass angesichts der geringen Zahl der Kinder, zu denen in der Studie Informationen eingeholt werden konnten, die Erfassung hörgeschädigter Kinder trotz des seit 1. 1. 2009 flächendeckenden Neugeborenen-Hör-Screenings nicht zuverlässig und sicher zu funktionieren scheint. Mit der vorliegenden Kontrollstudie sollte der Anhaltsbogen in einem weiteren deutschen Bundesland (Nordrhein-Westfalen) bei 91 FI 2 / 2012 Kindeswohlgefährdung bei kleinen hörgeschädigten Kindern? hörgeschädigten Kindern mit identischem methodischen Design wie in der Pilotstudie zur Anwendung kommen, um zu prüfen, inwieweit sich die aus der vorangegangenen Pilotstudie ergebenden deutlichen Hinweise zur Prävalenz möglicher Kindeswohlgefährdungen in dieser Deutlichkeit bestätigen, und sich so die in der Diskussion der Pilotstudie angestellten Überlegungen, das hörgeschädigtenspezifische Frühförderangebot zu erweitern, bestärken lassen. Methode Stichprobe Kinder mit einem versorgungs- und betreuungsrelevanten Hörverlust werden in Nordrhein-Westfalen praktisch nahezu vollständig von den pädagogisch-audiologischen Beratungs- und Frühförderstellen, die an die Zentren für Hörgeschädigte angeschlossen sind, betreut (persönliche Mitteilung C. Tsirigotis, 6. 3. 11). Es wurde zunächst im Rahmen einer Fachtagung, an der alle 13 Beratungs- und Frühförderstellen in NRW vertreten waren, Information über das Vorhaben mitgeteilt und um Beteiligung gebeten. Alle angefragten Frühförderstellen nahmen daraufhin an der Befragung teil 1 . Aufgrund des Querschnittcharakters der Studie konnte der Anhaltsbogen nicht in zeitlicher Nähe zur Geburt potenziell hörgeschädigter Kinder über einen bestimmten Zeitraum kontinuierlich ausgegeben werden, sondern es wurde festgelegt, dass der Fragebogen für alle Frühförderkinder, die am 30. 11. 2010 nicht älter als 18 Monate waren, von einer mit der Situation des Kindes/ der Familie vertrauten Person (Frühförderin/ Leiterin der Frühförderung) ausgefüllt werden sollte. Unter den vorgegebenen Konditionen wurden insgesamt 140 Fragebögen zugesandt, von denen einer aus der Auswertung genommen werden musste, da es sich um ein CODA-Kind (hörendes Kind gehörloser Eltern) handelte. Fragebogen Der Fragebogen enthielt einmal die weiter oben bereits benannten fünf Problembereiche, wobei der Punkt „fehlende U-Untersuchungen“ im Bogen behalten wurde, obwohl vermutet werden konnte, dass die Frühförderer dazu keine Angaben machen können. Bei der Frage, ob das Kind deutliche erhöhte Fürsorgeanforderungen an die Familien stellt, wurde vermerkt, dass hier nicht die besonderen Anforderungen gemeint sind, die durch die Tatsache der Hörschädigung und ihrer Folgen entstehen können. Hinzugefügt wurde noch eine zusätzliche Frage, inwieweit die Fachkraft selbst in ihrer Zusammenarbeit mit der Familie des Kindes Erfahrungen gemacht hat, die aus ihrer Sicht Hinweise auf eine mögliche psychische Gefährdung enthalten und im Rahmen der fünf Punkte nicht genannt wurden. Bei allen Fragen bestand im Falle einer Bestätigung des angesprochenen Sachverhalts die Möglichkeit einer kurzen Beschreibung. Zusätzlich wurden einige allgemeine sowie im Kontext einer Hörschädigung relevante soziodemografische Variablen erhoben. Tabelle 1 enthält hierzu die Angaben. Es zeigt sich, dass die Kinder bei der Diagnosestellung ca. drei Monate alt waren und die Frühförderung dieser Kinder im Schnitt 1 Ein herzlicher Dank geht an dieser Stelle an die leitungen der pädagogisch-audiologischen beratungs- und Frühförderstellen für hörgeschädigte Kinder in nRW für ihre kooperative Unterstützung sowie an alle beteiligten Fachkräfte der Frühförderstellen für die investierte Zeit bei der Durchführung der befragung. 92 FI 2 / 2012 Manfred Hintermair vier Monate später im Alter von ca. sieben Monaten begonnen hat. Ca. ein Viertel der Kinder hat zusätzliche Beeinträchtigungen und mehr als ein Drittel der Kinder bringen einen Migrationshintergrund mit, mehrheitlich sind es türkische Familien, gefolgt von Familien afrikanischer, arabischer, russischer Herkunft sowie Familien aus den Balkanländern. Was den Hörstatus der Kinder betrifft, machen die Gruppe der mittelgradig hörgeschädigten Kinder und die Gruppe der resthörigen Kinder mit zusammen 65.5 % ca. zwei Drittel der untersuchten Gesamtpopulation aus. In ca. 14 % der Familien ist zumindest ein Elternteil entweder gehörlos oder schwerhörig (Tab. 1). Ergebnisse Tabelle 2 enthält die Angaben, bei wie vielen Kindern von den betreuenden Frühförderfachkräften Hinweise auf mögliche belastende Aspekte im Sinne des Kindeswohls vorzufinden sind. Zum Vergleich sind in die Tabelle die Ergebnisse der Pilotstudie in Baden-Württemberg ergänzend eingefügt. Es zeigt sich, dass ca. ein Viertel (24.5 %) der von den Frühförderstellen in dem benannten Zeitraum betreuten hörgeschädigten Familien (Kind nicht älter als 18 Monate) Merkmale aufweist, denen im Sinne des Anhaltsbogens vertiefend nachgegangen werden sollte („Problemfälle“). Wie der Angabe zu „Problembereichen“ (N = 52) zu entnehmen ist, sind von den 34 als potenzielle „Problemfälle“ identifizierten Familien eine Reihe von Familien dabei, bei denen die Frühförderinnen nicht nur einen, sondern mehrere Problembereiche benannt haben. Was die relevanten Problembereiche angeht, so werden die Kategorien „mindestens eine besondere soziale Belastung“, „erhöhte Fürsorgeanforderungen durch das Kind“ sowie „Zukunftsängste, Überforderungsängste“ in etwa gleich häufig genannt (zwischen 10 % und 12 %). Variable N % Geschlecht Jungen Mädchen 73 66 52.5 47.5 Alter (Median = 13.0, M = 12.4, s = 3.8) 0 bis 6 Monate 7 bis 12 Monate 13 bis 18 Monate Fehlende angaben 10 57 71 1 7.2 41.0 51.1 0.7 Migrationshintergrund nein Ja 88 51 63.3 36.7 Diagnosestellung (Median = 2.0, M = 2.9, s = 2.9) 0 bis 3 Monate 4 bis 6 Monate 7 -12 Monate Fehlende angaben 92 28 15 4 66.2 20.1 10.8 2.9 Frühförderbeginn (Median = 6.0, M = 7.0, s = 3.4) 1 bis 3 Monate 4 bis 6 Monate 7 bis 9 Monate 10 bis 18 Monate Fehlende angaben 20 51 39 28 1 14.4 36.7 28.0 20.1 0.7 Grad der Hörschädigung einseitig 10 bis 39 db 40 bis 69 db 70 bis 89 db 90 bis 120 db Fehlende angaben 19 15 45 13 46 1 13.7 10.8 32.4 9.4 33.1 0.7 Cochlear-Implantat nein Ja 122 17 87.8 12.2 Zusatzbehinderung nein Ja 105 34 75.5 24.5 Elterlicher Hörstatus Hörend Hörgeschädigt Fehlende angaben 119 19 1 85.6 13.7 0.7 tab. 1: Demografische angaben zur Stichprobe (n = 139) 93 FI 2 / 2012 Kindeswohlgefährdung bei kleinen hörgeschädigten Kindern? n Als besondere soziale Belastungen werden vor allem spezifiziert: Mutter alleinerziehend, finanzielle Notlagen, psychische Belastungen (Depressionen etc.). n Bei den erhöhten Fürsorgeanforderungen werden vor allem Extrembelastungen der Eltern durch die besonderen Ausgangssituationen des hörgeschädigten Kindes (Frühgeburt, Zwillingsgeburt, z. T. erhebliche zusätzliche Handicaps des Kindes) aufgezählt. n Bzgl. der Zukunftsängste werden eher allgemein Angaben gemacht, dass die Eltern sich über das normale Maß der Behinderungsverarbeitung hinaus überfordert fühlen und Ängste davor haben, alles bewältigen zu können, was auf sie zukommen wird im Zusammenhang mit der Hörschädigung des Kindes. Bei der Zusatzfrage erfolgten Anmerkungen, die insgesamt keine neuen Informationen brachten, sondern vielmehr die Angaben zu den fünf Kategorien des Anhaltsbogens unterstützten und bekräftigten. Zusammenhangsanalysen mit den soziodemografischen Variablen ergaben für folgende Variablen signifikante Kennwerte: n Ein Migrationshintergrund ist korreliert mit der Wahrscheinlichkeit, dass vermehrt Probleme bei sozialen Belastungen (Phi = .17, p ≤ .04), erhöhten Fürsorgeanforderungen (Phi = .19, p ≤ .02) sowie Zukunftsangst Studie Baden-Württemberg (Hintermair & Trainer, 2010) Studie Nordrhein- Westfalen N = 25 N = 139 Problembereiche des Anhaltsbogens N % N % 1. Mindestens eine besondere soziale belastung 6 24.0 % 17 12.2 % 2. Mehrere fehlende U-Untersuchungen (sofern bekannt) 0 0.0 % 0 0.0 % 3. Kind stellt deutlich erhöhte Fürsorgeanforderungen, die die Möglichkeiten der Familie zu übersteigen drohen (nicht die sprachliche Verzögerung wg. Hörstörung) 1 4.0 % 16 11.5 % 4. beobachtbare deutliche Schwierigkeiten der Hauptbezugsperson bei der annahme und Versorgung des Kindes 0 0.0 % 5 3.5 % 5. Hauptbezugsperson beschreibt starke Zukunftsangst, Überforderung oder gefühl, vom Kind abgelehnt zu werden. 2 8.0 % 14 10.1 % Problembereiche zusammengefasst 9 36.0 % 52 37.4 % Problemfälle (Familien mit mindest. einem Problembereich) 9 36.0 % 34 24.5 % Zusatzfrage: Haben Sie selbst in Ihrer Zusammenarbeit mit der Familie des Kindes Erfahrungen gemacht, die Hinweise auf eine mögliche psychische gefährdung enthalten und hier nicht genannt sind? 2 8.0 % 12 8.6 % tab. 2: Ergebnisse mit dem anhaltsbogen bei hörgeschädigten Kindern in der Frühförderung aus nordrhein-Westfalen (n = 139) 94 FI 2 / 2012 Manfred Hintermair (Phi = .20, p ≤ .02) registriert werden. Entsprechend haben auch insgesamt mehr Familien mit wenigstens einem Problem im Anhaltsbogen einen Migrationshintergrund (Phi = .23, p ≤ .008). n Eine Zusatzbehinderung des hörgeschädigten Kindes ist mit erhöhten Fürsorgeanforderungen verbunden (Phi = .32, p ≤ .000). n Je stärker die Hörschädigung des Kindes ist, desto mehr werden bei den Familien Hinweise auf besondere Überforderung sowie Zukunftsängste vermerkt (r = .22, p ≤ .008). Auch hier zeigen insgesamt Familien mit schwerer hörgeschädigten Kindern vermehrt mindestens ein Problem im Anhaltsbogen (r = .18, p ≤ .04). Neben der Analyse des Anhaltsbogens wurde analog zur Studie in Baden-Württemberg (Hintermair & Trainer, 2010) ergänzend der Frage nachgegangen, wie die Anzahl der rückgesendeten Fragebögen zu bewerten ist im Kontext der statistisch bekannten Prävalenzzahlen einer kindlichen Hörstörung. Bogner und Diller (2009, S. 147) stellen unter Bezugnahme auf Schätzungen des Deutschen Zentralregisters für kindliche Hörstörungen fest, dass in Deutschland etwa ein bis zwei von tausend gesund geborenen Kindern mit einer erheblichen Hörminderung zur Welt kommen oder diese in der Neugeborenenphase erwerben. Danach ist in Deutschland pro Jahr mit ungefähr 700 bis 1.000 Kindern zu rechnen, die einen beidseitigen versorgungsrelevanten Hörverlust haben. In der vorliegenden Studie wurde versucht, möglichst alle bzw. viele der in Nordrhein-Westfalen von Frühförderstellen für Hörgeschädigte betreuten hörgeschädigten Kinder bis zum Alter von 18 Monaten zu erfassen. Unter Bezugnahme auf Daten der „Statistischen Ämter des Bundes und der Länder“ (http: / / www.statistik-portal. de/ Statistik-Portal/ de_jb01_jahrtab1.asp) betrug zum 31. 12. 2009 die Anzahl der Bürger in Nordrhein-Westfalen 20.8 %. Nimmt man diese Prozentzahl als Grundlage für eine grobe Prävalenzschätzung hörgeschädigter Kinder in Nordrhein-Westfalen in der besagten Altersgruppe, dann müssten auf der Basis der unteren Schätzungszahl von 700 hörgeschädigten Kindern pro Jahr in ganz Deutschland ca. 145 Kinder in Nordrhein-Westfalen eine relevante Hörstörung haben. Da in der vorliegenden Studie die Kinder bis zu 18 Monaten einbezogen wurden, müsste sich die Zahl entsprechend um 50 % auf ca. 217 erhöhen. Die Angaben zum Alter der untersuchten Kinder zeigen aber (Tab. 1), dass lediglich 10 Kinder in der Stichprobe waren, die im letzten Drittel des Erhebungsspektrums (also zwischen Mai und November 2010) geboren waren. Das deckt sich auch mit den Zahlen in Tabelle 1, wonach die Frühförderung im Schnitt mit ca. sieben Monaten beginnt, somit ein Großteil dieser ganz jungen Kinder vermutlich noch nicht in der Frühförderung „angekommen“ ist. Wir verwenden somit zum Vergleich die Zahl N = 145, mit der ein Jahrgang abgedeckt wird. Wenn man die in der Studie erfassten Kinder (N = 139) dazu in Relation setzt, dann ist selbst unter Nichtberücksichtigung der 10 Kinder, die im Zeitraum Mai bis November 2010 geboren wurden, die betreute Rate von hörgeschädigten Kindern in der Frühförderung des Landes NRW mit N = 129 als recht erfreulich zu bezeichnen. Damit ist auch die Zahl geschätzter Kinder mit einer potenziellen Gefährdung des Kindeswohls mit den Angaben der vorliegenden Studie für das Land NRW ziemlich sicher erfasst. Diskussion Im Zusammenhang mit der Bedeutsamkeit von früher Erkennung und Prävention von Gefährdungen des Kindeswohls wurde nach der Durchführung einer Pilotstudie mit hörgeschädigten Kindern im Jahre 2009 in Baden-Württemberg (Hintermair & Trainer, 2010) aktuell eine Kontrollstudie mit hörgeschädigten Kindern aus der Frühförderung 95 FI 2 / 2012 Kindeswohlgefährdung bei kleinen hörgeschädigten Kindern? in Nordrhein-Westfalen durchgeführt. Es wurde mit exakt gleichem Studiendesign der sog. Anhaltsbogen eingesetzt, der sich als ökonomisches und gleichzeitig empirisch begründetes Screeninginstrument erweist, um zu überprüfen, inwieweit sich bei hörgeschädigten Kindern im Alter bis zu 18 Monaten dahingehend Probleme andeuten. Die Ergebnisse zeigen, dass ungefähr bei einem Viertel der untersuchten Familien (24.5 %) mindestens ein Bereich aus dem Anhaltsbogen als problematisch anzusehen ist. Das sind im Vergleich zur Pilotstudie (36 %) deutlich weniger an potenziell gefährdeten Kindern, dennoch werden durch die vorliegenden repräsentativeren Zahlen (siehe unten) die im Zuge der Pilotstudie genannten inhaltlichen und konzeptionellen Konsequenzen für die Frühförderung bei hörgeschädigten Kindern in ihrer Bedeutung bekräftigt (Hintermair & Trainer, 2010, S. 160). Danach sollten neben dem zentralen Aspekt der kommunikativen Förderung, der nach wie vor Schwerpunkt der hörgeschädigtenspezifischen Frühförderung ist, die sozialemotionalen Belastungen der Familien vermehrt mit in den Blick genommen und ernst genommen werden. Hierzu ist an vermehrte Vernetzungen mit regionalen Angeboten zum Kindeswohl zu denken, die den Frühförderstellen hierbei beratend und unterstützend zur Seite stehen könnten (vgl. auch Ziegenhain & Fegert, 2009). Es ist nach den vorliegenden Ergebnissen der Kontrollstudie erneut zu empfehlen, dass die Frühförderstellen für Hörgeschädigte den Anhaltsbogen, der mit geringem zeitlichen Aufwand einzusetzen ist, an ihren Einrichtungen weiter erproben und praktische Erfahrungen in der Anwendung und Umsetzung aufbereitet und im Längsschnitt evaluiert werden. Dies wäre insofern sehr bedeutsam, da sich dadurch Erfahrungen verschiedener Frühförderstellen vernetzen ließen und so ein kreativer Ideenpool entstehen könnte. Von Bedeutung wäre in diesem Zusammenhang eine weiterführende Studie, die den Frühförderverlauf von Familien, in denen Kinder durch den Anhaltsbogen als möglicherweise gefährdet indiziert wurden, längsschnittlich begleitet, um zu prüfen, welche weitergehenden Maßnahmen auf den Weg gebracht wurden und welche Effekte sich dadurch für Familie und Kind ergeben haben. Zudem ist zu überlegen, inwieweit es sich als sinnvoll erweisen könnte, den Anhaltsbogen zusammen mit dem Neugeborenen-Hörscreening bereits in den Kliniken zum Einsatz zu bringen. Angesichts der Daten dieser Studie, dass bei immerhin einem Viertel der Familien erhöhte Gefahr einer Kindeswohlgefährdung besteht (dies insbesondere im Kontext eines Migrationshintergrundes und zusätzlichen Beeinträchtigungen des Kindes), könnte das präventiv von hoher Bedeutsamkeit sein. Man müsste überlegen, welche Formen der Kooperation verschiedener Institutionen hier realisierbar sind, ohne einen Zustand „fürsorglicher Belagerung“ (Keupp, 2000, S. 23) zu etablieren, sondern ein spezifisches Lebenswelt bezogenes Angebot für die Familien bereitzuhalten. Damit ist auch gemeint, dass die vorgelegten Ergebnisse nicht einer Pathologisierung der Familien das Wort reden sollen, sondern vielmehr Hinweise auf einen erhöhten und spezifizierten Hilfe- und Unterstützungsbedarf enthalten, der über die Probleme der Hörschädigung hinausgeht! Der zweite Aspekt, der in dieser Studie ebenso wie in der Pilotstudie überprüft wurde, betrifft die reale Anzahl hörgeschädigter Kinder an den Frühförderstellen im Abgleich mit den aufgrund von Prävalenzraten zu erwartenden Zahlen. Hier zeigt sich anders als in der Pilotstudie, dass - ausgehend von der unteren Grenze der zu erwartenden Zahl - der große Teil der für den überprüften Untersuchungszeitraum (0 - 18 Monate) zu erwartenden Kinder von den pädagogisch-audio- 96 FI 2 / 2012 Manfred Hintermair logischen Frühförderstellen betreut wird. Möglicherweise hat für diese Studie die gesetzliche Regelung, wonach seit dem 1. 1. 2009 das Neugeborenen-Hör-Screening (NHS) flächendeckend durchgeführt werden kann, bereits umfänglicher gegriffen als bei der Pilotstudie, die zeitlich ein Jahr früher durchgeführt wurde und Kinder auch aus der Zeit vor dieser Regelung miterfasste. Alle Kinder der vorliegenden Studie sind nach dem 1. 5. 2009 geboren und könnten somit von der gesetzlichen Regelung bereits worden erfasst sein. Es kann aber auch durchaus sein, dass die Durchführung und vor allem das sog. Follow-up des NHS (die Nachüberprüfungen zur Sicherung der Diagnose nach dem Primärscreening in der Klinik) in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich intensiv umgesetzt werden. Wie wichtig ein verlässliches Follow-up ist, zeigen Befunde von Nennstiel-Ratzel, Arenz, Kries, Wildner & Strutz (2007), wonach der Anteil der im Screening auffälligen, aber anschließend nicht weiter untersuchten Kinder in einigen Regionen, in denen Modellprojekte zum NHS durchgeführt wurden, bis über 50 % liegt. Hier sind weiter Daten aus der KiGGS-Studie (vgl. Kamtsiuris, Bergmann, Rattay & Schlaud, 2007, S. 8) von Bedeutung bzgl. der Inanspruchnahme von Früherkennungsuntersuchungen: Sie enthalten Hinweise, dass gerade Kinder aus Familien mit niedrigem Sozialstatus sowie solche mit Migrationshintergrund seltener bzw unregelmäßiger an solchen Untersuchungen teilnehmen. Prof. Dr. Manfred Hintermair, Dipl.-Psych. Pädagogische Hochschule Heidelberg Institut für Sonderpädagogik Keplerstraße 87 D-69120 Heidelberg E-Mail: hintermair@ph-heidelberg.de Literatur Bogner, B. & Diller, G. (2009). Hörschädigungen: Prävalenz, Frühdiagnostik, technische Versorgung. Frühförderung interdisziplinär, 28, 147 -157 Hintermair, M. & Trainer, A. (2010). Frühe Hilfen, Kinderschutz und Hörschädigung. Eine Pilotstudie mit dem „anhaltsbogen für ein vertiefendes gespräch“. Frühförderung interdisziplinär, 29, 154 -161 Hintermair, M. (2009). Ver(haltens)störungen bei hörgeschädigten Kindern - anmerkungen zur sozial-emotionalen Entwicklung von Kindern und ihre Relevanz für Entwicklungen unter der bedingung „Hörschädigung“. dfgs-forum, 17, 32 -51 Kamtsiuris, P., Bergmann, E., Rattay, P. & Schlaud, M. (2007). Inanspruchnahme medizinischer leistungen. Ergebnisse des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiggS). bundesgesundheitsblatt gesundheitsforschung-gesundheitsschutz, 50, 835 -850 Keupp, H. (2000). gemeindepsychologische Einmischungen in die Qualitätsdebatte. In: S. teuber, S. Stiemert-Strecker & M. Seckinger (Hrsg.), Qualität durch Partizipation und Empowerment. Einmischungen in die Qualitätsdebatte (S. 17 -26). tübingen: DgVt-Verlag Künster, A. K., Ziesel, B. & Ziegenhain, U. (2009). Je früher um so besser? Wann Kinderschutz beginnen sollte. Frühförderung interdisziplinär, 28, 51 -60 Nennstiel-Ratzel, U., Arenz, S., von Kries, R., Wildner, M. & Strutz, J. (2007). Modellprojekt neugeborenen-Hörscreening in der Oberpfalz: Hohe Prozess- und Ergebnisqualität durch interdisziplinäres Konzept. HnO, 55, 128 -134 Ziegenhain, U. & Fegert, J. (2009). Interdisziplinäre Kooperation und Vernetzung für eine verbesserte Prävention im Kinderschutz. Frühförderung interdisziplinär, 28, 81 -81 Verwendete Internetquellen Statistische Ämter des Bundes und der Länder. http: / / www.statistik-portal.de/ Statistik-Portal/ de_jb01_jahrtab1.asp [6. 3. 11]